Poesie und Gewalt - Das Leben der Gudrun Ensslin

Poesie und Gewalt - Das Leben der Gudrun Ensslin

von: Ingeborg Gleichauf

Klett-Cotta, 2017

ISBN: 9783608100273

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 5239 KB

 
Format:  EPUB

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Poesie und Gewalt - Das Leben der Gudrun Ensslin



Vorwort


»Es ist verrückt, auf ›Autoritäten‹ zu bauen«


Wer war Gudrun Ensslin?

Vor allem doch wohl eine strenge Pastorentochter, die sich irgendwann der gewaltsamen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und einem Ganoven namens Andreas Baader hingab. Dieser Eindruck entsteht zwangsläufig, sobald man vertraut auf das, was über Ensslin bisher geschrieben wurde und was viele Leute bis heute über sie zu sagen wissen. Plakative Sätze. Selbst in Hans Magnus Enzensbergers 2014 erschienenem Erinnerungsbuch Tumult, in dem er einen Besuch von Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und einer weiteren Person, deren Namen ihm entfallen sei, in Berlin-Friedenau im Jahr 1970 schildert, heißt es: »Auch die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, die sich in eine Waffen- und Klamottenfetischistin verwandelt hatte, war anwesend. Unbestrittener Chef dieser Gespensterarmee war der abscheuliche Andreas Baader, ein flüchtiger Genosse, der als Fotomodell für ein Schwulenmagazin gearbeitet hatte und außer sich selbst vor allem schnelle Autos liebte. Die Frauen hatten sich ihm bedingungslos unterworfen. Er trat ihnen gegenüber wie ein Zuhälter auf.«1 Schon sind wir mitten in einer Gangsterklamotte gelandet und fühlen uns fast gezwungen, die Frage zu stellen, ob sich eine Beschäftigung mit solch einer Person überhaupt lohnt. Betrachten wir die Aussagen Enzensbergers genauer: Was ist so bedeutsam an einer Pfarrerstochter, dass man es unbedingt erwähnen muss, wenn man Gudrun Ensslin einführt? Was würde Enzensberger sagen, stünde in jeder Publikation über ihn, dass er Beamtensohn ist? Von der Pfarrerstochter zur Waffen- und Klamottenfetischistin: Da bleibt der Frau keine Chance, etwas von ihrer individuellen Biografie preiszugeben. Als sei sie von Anfang an ein Niemand gewesen, eingezwängt in verschiedene Rollenzuschreibungen. Eine Angepasste, eine Verführte, eine ganz und gar Unfreie. Eine Frau, die Wert auf Kleidung legt, was ist daran auszusetzen? Ein Urteil kann diese Charakterisierung nicht genannt werden. Viel eher ist Enzensberger offenbar einem bereits vielfach geäußerten Vorurteil aufgesessen. Auf jeden Fall transportieren diese Sätze über Gudrun Ensslin eine ziemlich gereizte Stimmung – den Autor betreffend.

Ein paar Zitate aus der RAF-Forschung mögen verdeutlichen, warum Gudrun Ensslin bis heute als Schattengestalt mit schwäbisch-provinziellem Pastorentochterhintergrund in der öffentlichen Meinung herumgeistert. So schreibt zum Beispiel Karin Wieland in ihrem 2006 in dem von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Sammelband Die RAF und der linke Terrorismus erschienenen Essay über Andreas Baader: »Gudrun Ensslin war der Typus der begabten Sekretärin, sehr aufmerksam, mit einem guten Gedächtnis, sie schrieb alles mit, war loyal bis zur Selbstaufgabe und träumte von der Erfüllung durch eine große Aufgabe. Sie war eine dünne, blasse Frau, deren gierige Züge in jungen Jahren noch apart wirkten.«2 Quellen, die solche Charakterisierungen belegen könnten, werden nicht genannt. Überhaupt ist es auffällig, dass in vielen Büchern über die RAF und vor allem in jenen, die hohe Auflagen erzielt haben, scheinbar eindeutige Persönlichkeitsmerkmale der Protagonisten einfach so in den Raum gestellt und Zitate fast nie ausgewiesen werden. Es herrschen sehr freie Ansichten darüber, wie man sich einer prägnanten Person der Zeitgeschichte nähern könnte oder sollte. Besonders unangenehm ist dies auch deshalb, weil die grundlegenden Texte zum Thema RAF aufeinander aufbauen. Butz Peters schreibt in seinem Buch Tödlicher Irrtum über Gudrun Ensslin und das Jahr 1968: »Anders als Andreas Baader, der sich von Kindesbeinen an als Rabauke und Rebell gebärdet hat, war sie bis vor vier Jahren ein ›braves Mädchen‹, entwickelte sich ganz nach den Vorstellungen ihrer Eltern. Bis zum Alter von dreiundzwanzig. Wohlbehütet wuchs sie auf.«3 Woher der Autor das alles weiß: keine Angaben dazu. Und Stefan Aust, der am ausgiebigsten wild fantasiert und ohne Quellenangaben zitiert, schreibt zum Jahr 1965: »Gudrun gewann Abstand zum festgefügten, strengen und sittsamen Pfarrhaushalt in Bad Cannstatt«.4 Auch was er über ihre Reaktion auf den Mord an Benno Ohnesorg bemerkt, ist nicht belegt: »Erregt wurde hin und her diskutiert, wie man auf den Tod Benno Ohnesorgs reagieren sollte. Eine junge Frau, schlank, mit blonden Haaren, weinte hemmungslos und schrie: ›Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren!‹ Gudrun Ensslin traf damit etwas, was viele fühlten und dachten.«5 Aust zitiert an dieser Stelle aus dem Buch Hitler’s Children von Jillian Becker. Die Szene soll sich im Republikanischen Club in Berlin abgespielt haben. Offenbar hat der Berliner SDS-Landesvorsitzende Tilman Fichter darüber berichtet. Auch in Dorothea Hausers Buch über Baader und Herold ist die Rede vom »Todesengel« Gudrun Ensslin. Gerd Koenen stellt in Vesper, Ensslin, Baader hingegen fest, dass andere Teilnehmer der Diskussion im Republikanischen Club sich gar nicht an diese Szene erinnern könnten und daran zweifelten, ob Ensslin überhaupt anwesend gewesen sei an jenem Abend. Gerd Koenen ist überhaupt einer der ganz wenigen, die kritisch mit solcherlei Mutmaßungen umgehen. Er gibt zu, dass man »doch kaum ein lebendiges Bild der Person hinter der sphinxhaften Ikone der RAF-Zeit«6 habe.

Jillian Beckers Buch erschien 1977. Es hat auf fast alle Nachfolgewerke über die erste Generation der RAF eingewirkt. Selbst Kurt Oesterle, Autor des vielbeachteten Buchs über den Vollzugsbeamten Horst Bubeck, schwärmt im Jahr 2015 noch davon, welch Erweckungserlebnis die Lektüre von Hitler’s Children für ihn bedeutete.7 Dabei ist gerade dieser Text von einer unerträglichen Subjektivität und journalistischen Nachlässigkeit geprägt. Man spürt vor allem immer dann, wenn es um Ensslin geht, eine mit Vorurteilen gespickte, völlig unverstellte Aversion. Über die junge Gudrun Ensslin schreibt Becker: »Schon das blonde Schulmädchen hatte markante, ausgeprägte Gesichtszüge, eine gerade Nase und ein bestimmtes Kinn. Sie äußerte radikale und extreme Meinungen, die sie daheim vernommen hatte und mit jugendlicher Emotionalität aufheizte.«8 Da möchte man doch gern über die Quelle informiert werden. Immer wieder ist bei Becker und ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern von Exaltiertheit die Rede oder sogar von Hysterie. Becker schreibt über die »hysterische Blondine«, darüber, dass schon die junge Ensslin »keine friedfertige Seele war«. Über die Beziehung Ensslins zu Andreas Baader ist zu vernehmen: »Für diesen neuen Mann war sie gleichsam bestens vorbereitet, nicht nur durch die Langeweile mit dem Kind oder durch ihren politischen Geschmack an der Gewalt – sondern auch durch ihre Natur und ihre Erziehung, durch all die Jahre im Pfarrhaus, durch die Zucht in der Zwangsjacke moralischer Skrupel.«9 Ja, die Natur. Dagegen ist nichts zu machen. Der pure Essentialismus tritt uns entgegen, wenn Jillian Becker versucht, Ensslin zu charakterisieren. »1967 traf Andreas die weißgesichtige, überspannte, schrillstimmige Gudrun Ensslin. Sie verliebte sich in ihn. Er ging mit ihr ins Bett, sie fand das Erlebnis lohnend.«10 Wie kann die Autorin all das wissen? Wie kommt sie zu ihrem Urteil? Und warum loben so viele Journalisten, Wissenschaftler, Autoren, Kritiker ein solch schrecklich banales Machwerk? Martin Greiffenhagen etwa schrieb im Spiegel vom 31. Oktober 1977, die Abschnitte über Meinhof und Ensslin seien von einer »geistes- und politikgeschichtlichen Hellsichtigkeit«. Ulrike Meinhofs Ziehmutter Renate Riemeck zeigte sich total begeistert.11 Als habe man sich darauf verständigt, nur eindeutige, fest umrissene, holzschnittartige Bilder der Protagonisten zu akzeptieren. Bis heute. ...

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