Die Entdeckung des Higgs-Teilchens - Oder wie das Universum seine Masse bekam

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens - Oder wie das Universum seine Masse bekam

von: Harald Lesch

C. Bertelsmann, 2013

ISBN: 9783641135584

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 7706 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens - Oder wie das Universum seine Masse bekam



Higgs und der Journalismus

Matthias Helsen

Hat der alte Hexenmeister

Sich doch einmal wegbegeben!

Und nun sollen seine Geister

Auch nach meinem Willen leben.

Anfang Juli 1797 werden diese beschwörenden Worte niedergeschrieben. Warum Goethe sich die Satire Der Lu?genfreund des spätantiken Autors Lukian als Vorlage fu?r seinen Zauberlehrling nimmt, bleibt offen. Ob es sich um zeitgenössische Kritik handelt? Es liegt nahe. Zumindest ist davon auszugehen, dass Goethe mit diesem Gedicht verdeutlichen will, dass eben nicht jeder, der der deutschen Sprache mächtig ist, auch gleich ein Dichter ist, geschweige denn sich so nennen sollte.

Nach Aristoteles und Platon sind Worte nicht willku?rlich. Woher sie urspru?nglich kommen, lässt sich nicht mehr letztgültig ergru?nden. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass ihre Entstehung irgendwo zwischen Willkür und Konvention angesiedelt ist. Trotzdem ist es wohl fu?r jeden offensichtlich, dass Worte heutzutage eine klare Bedeutung und Verwendung haben.

Was hat all dies nun mit dem Higgs-Boson zu tun? Nun, man möchte zunächst meinen, es gebe hier keinen Bezug. Allerdings relativiert sich dies, wenn man sich die Schlagzeilen zu seiner Entdeckung ansieht. Teilweise hat man den Eindruck, als wu?rden Wörter ganz willku?rlich miteinander verbunden. Auf diese Weise entsteht ein falscher Eindruck davon, was eigentlich gesagt werden soll, und man sorgt lediglich für Verwirrung. Genau wie es dem Lehrling in Goethes Gedicht am Ende geht. Sprache ist wie Magie, sie hat die Macht, den Menschen Gedanken einzupflanzen. Genau deshalb sollte man mit ihr verantwortungsvoll umgehen.

Anfang Juli 2012, 215 Jahre nach Goethes Zauberlehrling, veröffentlichten Forscher des CERN, die am Experiment mit dem LHC beteiligt sind, einige Ergebnisse, die bestätigten, dass etwas entdeckt wurde. Es lag nahe, dass es sich dabei um das Higgs-Boson handelte. Im Grunde keine Hexerei. Zugegeben, es wirkt geradezu wie Zauberei, wenn die Wissenschaftler urknallähnliche Zustände in gigantischen Teilchenbeschleunigern reproduzieren. Es ist auch erfreulich, dass der Mensch es schafft, vorhersagbare Ergebnisse in äußerst komplexen Experimenten zu erzielen. Der Nutzen wissenschaftlicher Entdeckungen kann nicht hoch genug veranschlagt werden, und für viele ist Wissenschaft heutzutage eine geradezu religiöse Instanz.

Dass am CERN etwas entdeckt wurde, sickerte schon im Herbst 2011 durch. Seitdem wurde viel spekuliert. Gerade nach der Pleite mit der vermeintlichen Überlichtgeschwindigkeit der Neutrinos im Sommer 2011 waren die Spannung und die Skrupel besonders hoch. Deshalb wohl auch waren die beteiligten Wissenschaftler diesmal so besonnen, sich genügend Zeit fu?r die Auswertung zu nehmen und auch bei der Bekanntgabe der Ergebnisse nicht zu marktschreierisch aufzutreten.

Umso verwunderlicher erscheint es, mit welch irrationaler, jenseits der Fakten liegender Berichterstattung über dieses Ereignis die Öffentlichkeit diesmal konfrontiert wurde. Fu?r einen Physiker du?rften die Ergebnisse der Versuchsreihe am CERN durchaus etwas bedeuten. Was dieses höchstwahrscheinlich nachgewiesene Higgs-Teilchen der Welt bringt, welchen tatsächlichen praktischen Nutzen wir aus dessen Entdeckung ziehen können, kann noch nicht ermessen werden. Was das Teilchen selber betrifft, so soll in diesem Buch ein auch für Laien gut verständlicher Überblick gegeben werden, der sich an den physikalischen Fakten orientiert und aus der hohen Kunst der Wissenschaft dann eben doch keine Zauberei macht.

Im Neuen Handbuch zum Journalismus von Wolf Schneider und Paul-Josef Raue heißt es: »Wenn die demokratische Gesellschaft funktionieren soll, dann ist sie auf Journalisten angewiesen, die viel können, viel wissen und ein waches Bewusstsein fu?r ihre Verantwortung besitzen.« Verantwortung also, den Menschen zu informieren, die Realität adäquat darzustellen, jeden jedem auf die Finger schauen zu lassen, für Transparenz zu sorgen. Im Grunde folgt der Journalismus einfachen Regeln: Informationen sollen unvoreingenommen gesammelt und nach Prioritätsstufen der Öffentlichkeit neutral zur Verfu?gung gestellt werden. Die Beschaffung der Informationen muss auf legale Weise geschehen, ihr Inhalt darf nicht diskriminierend sein. Dies bedeutet, dass die Informationen nicht bewertet, sondern dem Leser neutral präsentiert werden sollen. Der Leser kann sich dann seine eigene Meinung bilden.

Der Konkurrenzkampf der Informationsinstanzen und Medien zwingt diese dazu, ihre Verkaufszahlen zu maximieren, also Aufmerksamkeit zu erregen. In diesem Kontext ist es schwer, die Ideale von gutem Journalismus – Ehrlichkeit, Unvoreingenommenheit, Informationstiefe, Transparenz – umzusetzen. Viel größer ist die Versuchung, mit simplen, reißerischen Schlagzeilen das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Diesem schrillen Wettbewerb der Zeitungen und Zeitschriften um Verkaufszahlen kann man jeden Morgen am Zeitungskiosk begegnen. Wie aber können Medien wirtschaftlich erfolgreich sein und gleichzeitig die Regeln von gutem Journalismus einhalten? Schneider und Raue beziehen hierzu deutlich Stellung: »Diejenigen Journalisten aber, die um ihre Leser oder Hörer kämpfen mu?ssen, weil sie bei Privatsendern, Boulevardzeitungen oder u?berflu?ssigen Zeitschriften arbeiten – sie liefern u?berwiegend auch nicht gerade das, was sich als gescheite Information einstufen ließe.«

Zurück zu unserem Higgs-Boson und der Berichterstattung darüber: Hieße das »Gottesteilchen«, wie es in den Medien reißerisch genannt wurde, deshalb so, weil es Materie gottgleich entstehen ließe, so handelte es sich tatsächlich um ein Wunder. Das »gottverdammte Teilchen«, wie es der Physiker Leon Lederman einst scherzhaft genannt hatte, hat hingegen nichts mit Zauberei zu tun. Hinter dem Prozess der Materieentstehung und der Rolle des Higgs-Bosons dabei stehen sehr komplizierte Prozesse, die wir in diesem Buch aufzeigen wollen. Diese Prozesse sind teilweise so komplex, dass sich auch die besten Physiker schwertun damit, sie verständlich darzulegen. In den gängigen Massenmedien hingegen wurde schon am Tag der Bekanntgabe ein Mischmasch von wissenschaftlichen Fakten und allen möglichen Spekulationen und Scheinlösungen – so war etwa gar von der Entdeckung der Dunklen Materie die Rede – zur Thematik verbreitet. Die physikalischen Prozesse, die beim Experiment am LHC stattfanden, wurden in diesem Zusammenhang kaum behandelt. Dazu hätte es ja intensiver Recherche und soliden Vorwissens bedurft. Allenfalls erfuhren die Leser, dass die Suche nach dem Higgs-Teilchen halt recht abenteuerlich war. Es wurde versucht, mit an Titel von Science-Fiction-Romanen erinnernden Überschriften dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu verpassen, damit die Geschichte spannender wird.

Natu?rlich, der Teilchenbeschleuniger ist ein beeindruckendes Konstrukt, atemberaubend und von bezaubernder technischer Schönheit. Wird dieses Meisterwerk menschlichen Erfindergeistes jedoch nicht seiner Größe beraubt, wenn man es mit weit hergeholten Science-Fiction-Ideen in Verbindung bringt? Vom »Tor zu einer anderen Welt« war beispielsweise zu lesen. Dieser Titel einer Folge einer Science-Fiction-Serie (»Commander Perkins«) kann nur in einem sehr weitläufigen Sinn auf die Entdeckung des Higgs-Teilchens angewandt werden. Eine Schlagzeile dieser Art ist schlichtweg irreführend, sofern im Fließtext nicht sehr genau auf ihren Symbolgehalt eingegangen wird. Das Gleiche gilt für eine Überschrift wie »Das Geheimnis um die Antimaterie gelüftet«. Andere Medien behaupteten, dass das Graviton entdeckt wurde. Das ist bestenfalls peinlich. Selbstredend verkaufen sich solche Schlagzeilen gut. Aber inwiefern kann das noch als neutrale Berichterstattung verstanden werden? Es heißt, Hunde, die bellen, beißen nicht. Genauso steht es denn auch um Wissenschaftsjournalismus dieser Art. Es wird laut geschrien, aber der Biss fehlt.

Im Rahmen der Entdeckung des Higgs-Teilchens hat die moderne Wissenschaft den Medien zufolge also angeblich das Mysterium um die Antimaterie gelu?ftet, das Teleportieren erfunden, Hologramme entwickelt, Aliens auf dem Radar – und nebenbei soll die Menschheit gar regen Kontakt mit Engeln pflegen. Im Grunde hat jede dieser Schlagzeilen sogar einen wahren Kern. Einerseits wissen wir nämlich nur sehr wenig und können deshalb auch viel behaupten. So können wir nur etwa fünf Prozent dessen, was wir beobachten, auch einigermaßen erklären. Über einen beträchtlichen Teil der Materie im Universum vermögen wir überhaupt nichts zu sagen – daher der Name »Dunkle Materie«. Und wohin die Antimaterie verschwunden ist oder warum es von ihr wohl weniger gab, wird so schnell nicht gelöst werden.

Und andererseits geschehen in der Wirklichkeit Dinge, die an Science-Fiction erinnern. So ist es zum Beispiel tatsächlich gelungen, einen Datensatz zu teleportieren. Dies erfordert allerdings eine so enorme Rechenleistung, dass es aus wissenschaftlicher Sicht auf Materie wohl niemals angewandt werden kann. Nach den Lehren der Stochastik gilt es doch eher als sehr unwahrscheinlich, dass die Erde der einzige Planet mit Lebewesen ist. Wissen können wir es allerdings nicht. Und was die Hologramme angeht – nun ja, es ist gelungen, auf um 45 Grad geneigte Bildschirme dreidimensional wirkende Figuren zu projizieren. Das Higgs-Teilchen hat damit aber gar nichts zu tun. Ob Engel uns zu dieser Erkenntnis verhalfen, möge dahingestellt bleiben. Der Vatikan hat jedenfalls nach Veröffentlichung der Higgs-Ergebnisse Stellung dazu bezogen, warum es sich natürlich nicht...

Kategorien

Service

Info/Kontakt