Das kommunikative Gedächtnis

Das kommunikative Gedächtnis

von: Harald Welzer

C.H.Beck, 2002

ISBN: 9783406493362

Sprache: Deutsch

249 Seiten, Download: 2700 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Das kommunikative Gedächtnis



IV. Zusammensein mit anderen. Die Bildung des kommunikativen Gedächtnisses (S. 70-71)

In der Tat haben entwicklungspsychologische Studien in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt, daß sich bereits in den ersten beiden Lebensmonaten des Säuglings Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen beobachten lassen - in dem Sinne, daß die Babys ihre Bewegungen und wahrscheinlich auch ihre Gefühle in Abstimmung mit den Bewegungen, Handlungen und Gefühlen derjenigen regulieren, mit denen sie zusammen sind. Die Erkenntnisse, die insbesondere mit Einführung der Videotechnik im Bereich der frühen Entwicklung gewonnen worden sind, haben das Bild vom Säugling gegenüber zuvor vorherrschenden Positionen radikal verändert: Offenbar schon von Anfang an besitzt der Säugling die Fähigkeit, genau sequenziert Blicke und auch Laute mit der Mutter auszutauschen.

Solche frühen Interaktionsprozesse stabilisieren und erweitern sich in wechselseitiger, höchst subtiler Abstimmung schnell zu Mustern. Die genaue Protokollierung von Mikrosequenzen früher Interaktionen in extremer Zeitlupe haben gezeigt, daß schon sehr kleine Kinder nicht als passive Reaktionsbündel aufzufassen sind, auf die lediglich "von außen" etwas einströmt, sondern als aktive Wesen, die ihrerseits Aktionen und Reaktionen der Mutter durch das Suchen oder Abwenden des Blickkontakts initiieren und beeinflussen können. Selbst kleinste Kinder sind keineswegs passive Objekte in einem amorphen Universum undifferenzierter Eindrücke (in "blooming buzzing confusion ", wie William James Ende des 19. Jahrhunderts gemeint hat), sondern erstaunlich kompetente Akteure, deren Interaktionserfahrungen zunehmend ihre innere und äußere Wahrnehmung im Zusammensein mit anderen strukturieren. Es geht hier nicht um bewußte oder intentionale Vorgänge, sondern um Aktionspotentiale, die zur basalen Ausstattung des Kindes gehören, aber wiederum durch soziale Austauschprozesse, d. h. durch Erfahrung, organisiert werden. Man wird hier, im Unterschied zu dem auf diesem Feld führenden Entwicklungspsychologen Colwyn Trevarthen, nicht schon von einer "primären Intersubjektivität" sprechen können - denn die würde eine zumindest rudimentäre Übernahme der Perspektive des Gegenübers durch das Baby voraussetzen. Aber gewiß wird man Trevarthen vor dem Hintergrund der Befunde, die ich gleich darstellen werde, darin zustimmen können, daß bereits Neugeborene mit einer "readyness for communication" auf die Welt kommen, die sie in die Lage versetzt, aktiv mit ihrer sozialen Umwelt zu kommunizieren.

Schon das Neugeborene zeigt im Vergleich klare Präferenzen für menschliche gegenüber nicht-menschlichen Reizen, und zwar in unterschiedlichen Modalitäten seiner Wahrnehmung. Reddy et al. nennen hier die Bevorzugung von Gesichtern gegenüber unbelebten oder zufälligen Mustern, des Klangs der menschlichen Stimme gegenüber anderen Tonfolgen (auch wenn diese dieselbe Tonhöhe und Intensität haben), von Muttermilch gegenüber Kuhmilch und vieles anderes mehr. Darüber hinaus werden schon in den ersten Tagen Merkmale (wie Stimme, Gesicht, Geruch) der Personen, die mit dem Kind unmittelbar zu tun hatten, den Merkmalen anderer, unbekannter Personen vorgezogen - was, wie schon erwähnt, z.T. auf pränatal entstandene Aktivierungsmuster zurückgeht (wie im Fall der Präferenz für die Stimme der Mutter). Aber Neugeborene sind nicht nur erpicht auf menschliche Reize, sie scheinen auch ohne weiteres dazu bereit zu sein, bestimmte dieser Reize zu imitieren. In mehr als zwanzig Studien aus verschiedenen Ländern ist belegt worden, daß frisch geborene Babys eine Reihe von Handlungen zu imitieren in der Lage (und willens) sind. Hier geht es um das Herausstrecken der Zunge, das Formen eines O-förmigen Mundes und das Hervorbringen eines A-Lautes.

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