Adieu, Sir Merivel - Roman

Adieu, Sir Merivel - Roman

von: Rose Tremain

Insel Verlag, 2013

ISBN: 9783458731771

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 1962 KB

 
Format:  EPUB

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Adieu, Sir Merivel - Roman



1


An diesem Tag, welcher der neunte Tag im November des Jahres 1683 ist, hat sich etwas äußerst Bemerkenswertes ereignet.

Ich verzehrte gerade, wie gewohnt, mein Mittagsmahl (gekochtes Hühnchen mit Karotten und ein kleines Bier), als mein betagter Diener Will das Speisezimmer auf Bidnold Manor betrat. In seinen knotigen alten Händen hielt er ein in brüchiges Papier eingeschlagenes und mit einem verblichenen Bändchen verschnürtes Paket. Er legte diesen Gegenstand zu meiner Rechten nieder, wodurch eine Staubwolke aufwirbelte und auf meinen Teller sank.

»Gib acht, Will«, sagte ich und merkte, wie ich die Luft anhielt und sie dann in einem derart gewaltigen Nieser wieder ausstieß, dass die Tischdecke mit winzigen Karottenstückchen verziert wurde. »Was ist das für ein Plunder?«

»Ich weiß es nicht, Sir Robert«, sagte Will und versuchte den Staub zu verteilen, indem er mit seinen missgestalteten Fingern wedelte.

»Das weißt du nicht? Aber wie ist er ins Haus gelangt?«

»Kammerzofe, Sir.«

»Du hast ihn von einer der Mägde bekommen?«

»Unter eurer Matratze entdeckt.«

Ich wischte mir den Mund und schnäuzte mich (mit einer sehr fadenscheinigen gestreiften Serviette, die mir einst der König geschenkt hatte) und legte die Hände auf das Päckchen, das mir wahrhaftig wie etwas erschien, das aus einem Pharaonengrab, tief unten in der trockenen Erde, entwendet worden war. Ich hätte Will wohl auch genauer nach dessen merkwürdiger Herkunft gefragt und warum es ausgerechnet an diesem Tag so plötzlich entdeckt wurde, doch er hatte sich schon umgewandt und auf den langsamen, hinkenden Rückzug von der Tafel zur Tür begeben, und ihn zurückzurufen hätte durchaus zu einer physischen Katastrophe führen können, die zu riskieren ich nicht das Herz hatte.

Wieder allein, zog ich an dem Band und bemerkte darauf einige Flecken wie von Mäuse- oder Fliegenkot, und die Vorstellung, dass irgendeine Kreatur womöglich ihr gesamtes elendes Dasein unter meiner Matratze verbrachte, erheiterte mich für einen Moment.

Dann war das Päckchen geöffnet, und vor mir lag etwas, das ich so lange vergessen hatte, dass es mir von allein nie und nimmer wieder in den Sinn gekommen wäre.

Es war ein Buch. Vielmehr hatte es einst den unsterblichen Status eines Buchs angestrebt, diese Unsterblichkeit jedoch nie erlangt, es war stets nur eine Zusammenstellung von Seiten geblieben, beschrieben in meiner tintenfleckigen, geschwungenen Handschrift. Vor langer Zeit, im Jahre 1668, als ich endlich wieder nach Bidnold Manor zurückgekehrt war, hatte ich die Vernichtung des Buchs in Betracht gezogen, dann aber Will die Seiten gegeben – mit der Anweisung, sie einem Versteck seiner Wahl anzuvertrauen und dann möglichst zu vergessen, wo dieses Versteck sich befand.

Die Seiten enthielten die Geschichte meines einstigen Lebens. Ich hatte diese Geschichte in einer Zeit großer Verwirrung, in den letzten Jahren meines vierten Jahrzehnts, niedergeschrieben, als zum ersten Mal der Glanz König Charles’ II. auf meine unbedeutenden Schultern fiel.

Ich hatte gehofft, dass ich durch die Niederschrift besser verstehen würde, welche Rolle ich in meinem Beruf als Arzt in meinem Land und in der Welt spielen könnte. Doch obgleich ich damals glaubte, mich in all meinem fieberhaften Gekritzel einer Art Weisheit zu nähern, kann ich mich nicht erinnern, sie jemals erreicht zu haben. Ich wurde, wie ein hungriger Hund, von einem Ort zum nächsten getrieben. Es war eine Zeit voller Glanz und Gloria und eine Zeit großer Kümmernisse. Und meine eigenen Worte jetzt zu lesen und jenes Leben nun wieder vor mir ausgebreitet zu sehen, versetzte mein Herz in einen nahezu unerträglichen Überschwang der Gefühle.

Ich nehme das Buch und begebe mich in meine Bibliothek. Ich lege das Buch auf meinen Sekretär und widme mich dem kümmerlich brennenden Feuer, lege noch ein paar Holzscheite hinein und ermahne es, nicht zu vergessen, wozu es da ist – dazu nämlich, mich zu wärmen. Doch ich zittere immer noch. Ich überlege, ob ich erneut nach Will rufen soll, der in langer, ermüdender Übung das Talent erworben hat, Flammen zum Leben zu erwecken. Doch in diesen vorgerückten Zeiten der 1680er Jahre, nun, da ich mich meinem siebenundfünfzigsten Geburtstag nähere, widerstrebt es mir mehr und mehr, Will angesichts seines hohen Alters (von vierundsiebzig Jahren) und seiner vielen Gebrechen überhaupt noch mit irgendwelchen Aufgaben zu betrauen.

In der Tat ist die ganze Angelegenheit Will eine Frage, die mich außerordentlich quält, denn ich bin mir durchaus bewusst, dass ich, was meinen treuen Diener angeht, in einer sehr schmerzlichen Falle sitze.

Ich kenne William Gates (stets und ständig von mir nur »Will« genannt) seit dem Jahre 1664, als der König mir zusammen mit den Ländereien in Norfolk den Hosenbandorden verlieh. Diese Auszeichnungen erhielt ich für einen bedeutenden Dienst, den ich Seiner Majestät erwies und der mein Leben von Grund auf änderte.

In eben diesem Jahr kam Will, zusammen mit dem Koch Cattlebury, in meinen Haushalt und zeigte mir in all meinen Freuden und Leiden nichts als treue Ergebenheit und Achtung, und das auf die berührendste Weise.

Obgleich die Innenausstattung meines Hauses eine Zeitlang sehr überladen und vulgär war, gab Will vor, sie zu bewundern. Obgleich ich mich Celia, meinem jungen Weib, gegenüber in einer Weise verhielt, die sowohl sie wie die Welt nur verabscheuen konnten, bedachte Will mich nicht ein einziges Mal mit einem auch nur versteckt betrübten oder vorwurfsvollen Blick. Und als mein geliebtes Haus und ich aufgrund meiner zahllosen Torheiten für einige Jahre voneinander scheiden mussten, wurde Will zum Hüter des Hauses und versorgte mich getreulich mit Nachrichten über das Kommen und Gehen dort und die veränderten Farben des Parks im Wechsel der Jahreszeiten. Kurzum, niemand hätte beinahe zwanzig Jahre lang einen trefflicheren, treueren und tüchtigeren Diener an seiner Seite haben können.

Doch mittlerweile sind Wills Körper und Geist sehr hinfällig geworden. Obwohl ich ihn weiter mit einem hübschen Sümmchen entlohne, ist er nicht länger in der Lage, die Aufgaben, die das Haus und meine Person betreffen und für die ich ihn bezahle, in befriedigendem Maße zu erledigen. Laufen kann er nur, indem er die Knie nach außen dreht und das Rückgrat beugt, wie den Rücken einer kleinen Ratte, und Räume durchquert er langsam und unter größten Schmerzen. Was er in seinen Händen trägt, sei es eine Suppenterrine oder ein Bierkrug, droht zu fallen, zu zerspringen oder überzulaufen, denn seine Hände sind von einer Krankheit verkrümmt und können Dinge nicht mehr sicher und fest umschließen.

Andere Gebrechen haben sich dazugesellt, als da wären Vergesslichkeit, Sehschwäche und eine Taubheit, von der ich jedoch vermute, dass sie eher auf eine Grille als auf den tatsächlichen Verlust des Gehörs zurückzuführen ist. Denn wenn ich Will einen Auftrag gebe, der ihm nicht behagt, etwa mich auf einem meiner Patientenbesuche zu begleiten, gibt er vor, kein Wort von dem, was ich geäußert habe, zu verstehen, während er jedem Befehl, der ihm zusagt, fraglos und ohne zu zögern nachkommt.

Die Welt jenseits der Tore von Bidnold macht ihm jetzt Angst. Früher konnte er mich noch in einer schnellen Kutsche nach London begleiten und geduldig in den Gärten von Whitehall warten, während ich eine Audienz beim König durchzustehen hatte, die mir fast das Herz brach, und Will ebenfalls; heute dagegen hält er sich stets im Innern des Hauses auf und wird kaum bei einem Gang durch den Park anzutreffen sein – »damit ich nicht«, wie er mir eines Tages erklärt hat, »von einem Winterfieberfrost befallen werde, Sir Robert, oder auf einem Grasbüschel ausgleite und stürze und mir das Schienbein breche und nicht mehr in der Lage bin aufzustehen und unentdeckt liegenbleibe, bis die Nacht oder der Morgen kommt und Frost oder Schnee mich gänzlich erledigt hat.«

»Ach, ist es das, was du von mir denkst, Will«, sage ich daraufhin, »dass ich dich dort liegen lassen würde, allein und verletzt unter den Sternen oder im Schnee?«

»Nun ja, so ist es, Sir«, entgegnet er, »weil Ihr nämlich nichts von meinem Sturz wissen würdet, denn ich bin ein Diener, Sir Robert, und habe mich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Kunst der Unsichtbarkeit geübt, damit mein Anblick, ob aufrecht oder liegend, Euch niemals beunruhigt.«

Ich hätte gern geäußert, dass Wills Anblick in den letzten Jahren bei mir nichts als Beunruhigung weckt, tat es jedoch nicht. Denn irgendetwas Verletzendes zu Will zu sagen, stand außerhalb meiner Macht. Und wenn ich an das denke, was ich billigerweise tun sollte, ihn nämlich aus meinen Diensten entlassen, dann fühle ich in meinem Herzen einen entsetzlichen Schmerz. Denn in Wahrheit ist es so, dass ich eine äußerst tiefe Zuneigung zu Will hege, fast so, als wäre er eine Art Vater für mich, ein Vater, der in seiner Güte beschlossen hat, über meine Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und mich für einen ehrenwerten Mann zu halten.

Was also soll ich tun?

Wenn ich Will seine Vorrangstellung in der Hierarchie der Bediensteten von Bidnold Manor nehme und ihn mit leichteren Pflichten betraue, solchen, die ein einfacher Lakai gut erledigen kann, weiß ich, dass ihn der Schmerz der Degradierung ins innerste Herz treffen wird. Er wird daraus schließen, dass ich ihn nicht mehr schätze. Die Liebenswürdigkeit seiner Natur wird sich in Bitterkeit denen gegenüber verkehren, die ihm dann im Rang überlegen sind.

Wenn ich ihn zu mir rufe und ihm erkläre, dass ich wünsche, er...

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