Tage der Toten - Roman

Tage der Toten - Roman

von: Don Winslow

Suhrkamp, 2010

ISBN: 9783518742105

Sprache: Deutsch

689 Seiten, Download: 1833 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Tage der Toten - Roman



1 Die Männer von Sinaloa


Siehst du die furchtbar öde Heide dort,

Die Wohnung der Verzweiflung, ohne Licht,

Bis auf den Schimmer dieser fahlen Flammen,

Die blass und schrecklich flimmern?

John Milton, Das verlorene Paradies

Distrikt Badiraguato

Provinz Sinaloa

Mexiko

1975


Der Mohn brennt.

Rote Blüten, rote Flammen.

Nur in der Hölle, denkt Keller, gibt es flammende Blüten.

Er blickt in das brennende Tal wie in eine dampfende Suppenschüssel – was sich dort zwischen den Rauchschleiern abspielt, ist eine Höllenszene.

Hieronymus Bosch malt den Drogenkrieg.

Campesinos – mexikanische Bauern – fliehen vor dem Flammenmeer, beladen mit den Habseligkeiten, die sie retten konnten, bevor die Soldaten kamen und ihr Dorf anzündeten. Ihre Kinder vor sich her schiebend, schleppen sie Säcke mit Essensvorräten, Decken und Kleidern und ihren kostbarsten Familienandenken. Mit ihren weißen Hemden und ihren Strohhüten sehen sie aus wie Gespenster, wenn sie durch die Rauchschwaden ziehen.

Nur etwas andere Menschen, denkt Keller, und das könnte Vietnam sein.

Aber was hier abläuft, ist nicht Operation Phoenix, sondern Operation Condor, er hockt hier nicht als CIA-Mann im Bambusdickicht an der Grenze zu Nordvietnam, sondern als Drogenfahnder in einem Gebirgstal der Provinz Sinaloa.

Und was hier geerntet wurde, war nicht Reis, sondern Opium.

Keller hört das dumpfe wopp-wopp-wopp von Hubschrauberrotoren und blickt auf. Ein Geräusch, das bei Vietnam-Veteranen Erinnerungen weckt. Erinnerungen woran?, fragt er sich. Manche Erinnerungen sollten besser begraben bleiben.

Hubschrauber und Flugzeuge kreisen wie Geier über dem Tal. Die Flugzeuge sprühen das Pflanzengift, die Hubschrauber bieten ihnen Feuerschutz, denn einige gomeros – so heißen die Opiumbauern – verteidigen ihren Besitz. Mit einem gut gezielten Feuerstoß aus der Kalaschnikow kann man einen Hubschrauber ohne weiteres vom Himmel holen. Das weiß Keller nur zu gut. Wird der Heckrotor getroffen, trudelt das Ding zu Boden wie ein Spielzeugflieger auf einer Kindergeburtstagsparty. Und trifft man den Piloten, dann prost Mahlzeit ... Bis jetzt hatten sie aber Glück. Entweder sind die Gomeros schlechte Schützen, oder sie haben keine Erfahrung mit Hubschraubern.

Formell handelt es sich um mexikanisches Fluggerät – Operation Condor ist ein Gemeinschaftsunternehmen des Neunten mexikanischen Armeekorps und der Provinz Sinaloa –, aber die Flugzeuge werden von der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA finanziert, und die Piloten rekrutieren sich zumeist aus ehemaligen CIA-Angehörigen der alten Vietnamtruppe. Wenn das kein Witz ist, denkt Keller – die Jungs von Air America, die früher Heroin für thailändische Warlords geflogen haben, rücken nun dem mexikanischen Opium mit Entlaubungsgiften zu Leibe.

Die DEA wollte Agent Orange einsetzen, aber dagegen hatten sich die Mexikaner gesträubt. Also kam das neue Mittel 2,4-D zum Einsatz, mit dem die Mexikaner vor allem deshalb einverstanden waren, weil die Gomeros dieses Zeug sowieso als Unkrautvertilgungsmittel benutzen.

Es gibt also genug davon.

Klar, denkt Keller, die Mexikaner entscheiden, was hier passiert. Wir Amerikaner sind nur die »Berater«.

Wie in Vietnam.

Nur die Basecaps haben sich geändert.

Der amerikanische Drogenkrieg hat eine neue Front in Mexiko eröffnet. Gegenwärtig stoßen zehntausend mexikanische Soldaten in dieses Tal nahe der Stadt Badiraguato vor – zur Unterstützung der mexikanischen Bundespolizei und der DEA-Berater, zu denen auch Keller gehört. Die meisten kommen zu Fuß, andere sind beritten, treiben Rinder vor sich her, als wären sie vaqueros, mexikanische Cowboys. Ihr Befehl lautet ganz simpel: Vergiftet die Mohnfelder und verbrennt alles, was übrig ist, fahrt unter die Gomeros wie der Hurrikan unters trockene Laub, zerstört die Heroin-Rohstoffbasis hier in den Bergen von Westmexiko.

Die Sierra Occidental bietet die ideale Kombination aus Höhenlage, Regenmenge und Bodensäuregehalt für das Gedeihen von papaver somniferum, der Mohnsorte, aus der »Mexican Mud« gewonnen wird, ein starkes, billiges, braunes Heroin, das den amerikanischen Markt überschwemmt.

Wieso eigentlich Operation Condor?, denkt Keller.

Seit sechzig Jahren hat man am mexikanischen Himmel keinen Kondor gesehen, und aus den Staaten ist er schon viel früher verschwunden. Aber jede Operation braucht einen Namen, sonst glauben wir nicht an sie – also Condor. Warum nicht?

Keller hat sich ein bisschen schlaugemacht, was diesen Vogel betrifft. Es ist (war) der größte aller Raubvögel, obwohl dieser Begriff ein wenig irreführend ist, denn statt zu jagen, betätigt sich der Kondor lieber als Aasfresser. Ein ausgewachsener Kondor, hat Keller gelesen, könnte ohne weiteres einen kleinen Hirsch reißen, aber er wartet lieber, bis ein Tier auf andere Weise zu Tode kommt und er nur von oben einzuschweben braucht, um es sich zu schnappen.

Genau wie wir, denkt Keller.

Operation Condor.

Und wieder ein Vietnam-Flashback.

Der Tod von oben.

Da hocke ich nun im Gestrüpp, zitternd vor Kälte an diesem feuchten Gebirgsmorgen, und liege auf der Lauer.

Wie damals.

Nur dass ich diesmal keinen Vietcong-Kader im Visier habe, sondern den alten Don Pedro Áviles, den Drogenboss von Sinaloa, el patrón persönlich. Seit einem halben Jahrhundert schon versorgt Don Pedro den Markt mit dem hier erzeugten Opium, lange bevor Bugsy Siegel kam, mit Virginia Hill im Schlepptau, um der kalifornischen Mafia eine stetig sprudelnde Heroinquelle zu sichern.

Siegel schloss einen Deal mit dem jungen Don Pedro Áviles, der seine neue Machtposition dazu nutzte, sich zum patrón zu erheben, zum Boss, und diesen Posten bekleidet er bis heute. Doch neuerdings gerät seine Macht ins Wanken – seit ihm ein paar junge Kerle den Respekt verweigern. Ein Naturgesetz, denkt Keller, die jungen Löwen bringen die alten irgendwann zu Fall. Ganze Nächte hat er in seinem Hotelzimmer in Culiacán wachgelegen – die Schießereien in den Straßen sind inzwischen so alltäglich, dass sich die Stadt den Spottnamen Little Chicago redlich verdient hat.

Nun, vielleicht ist ab heute Ruhe.

Wenn du Don Pedro verhaftest, machst du diesen Fehden ein Ende. Und kannst dich als Held feiern lassen, denkt er ein wenig schuldbewusst.

Keller ist ein überzeugter Befürworter des Drogenkriegs. Aufgewachsen im Barrio Logan von San Diego, hat er mit eigenen Augen gesehen, was das Heroin in solch einem Viertel anrichten kann, besonders wenn es ein armes Viertel ist. Hier geht es darum, die Drogen von der Straße wegzukriegen, ermahnt er sich, nicht um deine Karriere.

Andererseits braucht er sich, wenn er den alten Áviles zur Strecke bringt, um seine Karriere nicht zu sorgen. Und die könnte, wenn er ganz ehrlich ist, einen kleinen Schub gebrauchen.

Die DEA ist eine junge Behörde, kaum zwei Jahre alt. Als Präsident Nixon den Drogenkrieg ausrief, brauchte er Soldaten. Die meisten wurden aus der Vorgängerbehörde übernommen, etliche wurden in den Polizeieinrichtungen des Landes rekrutiert, aber in der Startmannschaft waren nicht wenige vertreten, die direkt von der Firma kamen.

Keller war einer von ihnen. Ein Company Cowboy.

So nennen die Cops diejenigen, die von der CIA kommen – um ihnen dann mit Ablehnung und Misstrauen zu begegnen.

Eigentlich zu Unrecht, denkt Keller. Im Grunde machen sie bei der DEA dasselbe – Informationen sammeln. Du suchst dir deine Zuträger, baust sie auf, steuerst sie und verwertest die Informationen, die sie dir liefern. Der große Unterschied zum alten Job: Früher haben sie die Zielpersonen noch verhaftet, jetzt bringt man sie einfach um.

Nach dem Vorbild von Operation Phoenix, der programmierten Vernichtung des Vietcong.

Mit den Killerkommandos hatte Keller in Vietnam nicht allzu viel zu tun. Er musste die Rohdaten sammeln und auswerten. Die Dreckarbeit machten dann die anderen, meist Spezialeinheiten im Sold der Firma.

Sie rückten immer nachts aus, erinnert sich Keller. Blieben manchmal tagelang weg, trudelten im Morgengrauen wieder ein, völlig überdreht vom Dexedrin. Dann verzogen sie sich in ihre Kojen und schliefen tagelang durch, bis sie wieder rausmussten, zum nächsten Einsatz.

Ein paarmal, wenn es Hinweise auf eine größere Feindkonzentration gab, war Keller mit den Jungs von den Special Forces rausgefahren, hatte beim Legen...

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