Amsterdam und zurück - Roman

Amsterdam und zurück - Roman

von: Marente de Moor

Suhrkamp, 2010

ISBN: 9783518743102

Sprache: Deutsch

284 Seiten, Download: 1334 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Amsterdam und zurück - Roman



2


Das Geschmatze der Georgierin ging ihm auf die Nerven. Er konnte nicht erkennen, ob sie wach war. Schon am Tag davor, als der Zug aus Moskau abfuhr, hatte sie so dagelegen. Witali hatte die Abteiltür aufgeschoben und seinen Augen nicht getraut. Dort lag seine Reisegefährtin für die kommenden Tage, über zwei Sitzplätze ausgestreckt, den einen drallen Fuß über den anderen gelegt, zwischen Daumen und Zeigefinger ein geräuchertes Kotelett. Sie hatte sich beim Schaffner bereits eine Garnitur bretthart gestärktes Bettzeug und zwei Kissen besorgt; darin würde ihr toplastiger Oberkörper die ganze Fahrt über ruhen. »Meine Küche«, hatte sie gesagt und auf den kleinen, mit kalt gewordenem Essen überladenen Tisch gedeutet; wer weiß, wie lange das alles schon unterwegs war. (Er hätte es schlechter treffen können. Die Zugfahrt von Gorki nach Moskau hatte er in Angst und Schrecken verbracht, nachdem der ruhige Student, der ihm gegenübersaß, von einem tschetschenischen Hinkebein und dessen Kumpel rauskomplimentiert worden war und ihn die beiden Männer dreißig Stunden lang, immer wütender, zum Kartenspielen aufforderten.) Witali hätte nie gedacht, daß Leute, denen man normalerweise nur auf Regionalbahnhöfen begegnete, bepackt mit Bettzeug und Seesäcken voller Lebensmittel, auch in den Westen reisten. Die Georgierin hielt jetzt eine angebissene Pirogge in der Hand. So war sie eingeschlafen. Ihr zusammengesacktes Gesicht zeigte keine Spur von Verwunderung darüber, daß sie in einem Höllentempo aus dem Land gefahren wurde. Sie hatte ihm erzählt, daß sie nach Deutschland unterwegs war. Was wollte dieses Gesicht dort? Hängebacken, Damenbart, offener Mund – gab es in Deutschland auch Piroggen zum Reinstopfen? Dem Geruch nach zu urteilen, bestand das Gepäck der Frau nur aus Eßwaren. Proviant für Monate. Sie würde garantiert überleben. Die Frage war nur, warum unbedingt hinter der Grenze.

Sie blieb liegen, als der Zug bei Brest in eine Halle fuhr, unter Megaphongebrüll mit Drahtseilen festgezurrt wurde und fast eine Stunde über dem Erdboden schwebte. Witali wollte das Ganze vom Gang aus beobachten, aber den hatte eine Horde grimmiger Monteure in Beschlag genommen. Sie stiefelten durch die Waggons und konnten auf schlaftrunkene Zuschauer gut verzichten. Unter den Moskau-Expreß mußten in einer Dreiviertelstunde andere Drehgestelle montiert werden, da die Gleise hinter der Grenze eine schmalere Spurweite hatten. Ein Mann in einem pinkfarbenen Trainingsanzug wurde aufgefordert, in sein Abteil zu gehen. Er wich den ölverschmierten Händen eines Monteurs aus.

»Ich gehe nur zur Toilette, ich störe Sie überhaupt nicht.«

»Sie möchten doch sicher weiter?«

»Junger Mann, ich stehe Ihnen nicht im Weg!«

»Sie wollen doch unbedingt in den Westen! Von mir aus können Sie in Rußland bleiben!«

Der Monteur war ein Musterbeispiel für proletarischen Stolz, der sonst schon überall ausgestorben war; hier jedoch, in der Halle, wo noch niemand die Sowjetparolen von den Wänden entfernt hatte, in diesem Theater an der Grenze, spielte er seine Rolle mit Feuereifer. In dieser idealen Miseen-scène von Arbeitern und Landesverrätern auf ein paar Quadratmetern Gang war zu erwarten, daß der Mann im Trainingsanzug schließlich kapitulieren und der Monteur weitermarschieren würde, die ölverschmierten Hände zur Faust geballt.

Nichts deutete darauf hin, daß dieser Zug zu einem Ort mit dem sonderbaren Namen »Hoek van Holland« unterwegs war. Die drei Wörter hatten zwar in zungenbrecherischer kyrillischer Transkription auf den Hinweistafeln gestanden, verloren sich jedoch in dem üblichen Ambiente einer russischen Bahnreise mit allem Drum und Dran ? wie aus den Lautsprechern scheppernder Marschmusik (»Abschied der Slawin«) und einem hustenden Schaffner auf dem Trittbrett, der aus einem Samowar Tee ausschenkte. Und dann die Passagiere. Auf dem Durchgang zwischen den Waggons standen mindestens zehn Leute mit den gleichen Visagen wie in den Bummelzügen auf dem platten Land. Sie rauchten Opal-Filterzigaretten, und ihre Körper dünsteten einen schwindelerregenden Promillesatz aus. Witali mußte das in Kauf nehmen, es gab nur diese eine Raucherecke.

»Wohin geht die Reise?« fragte ein Mann in einer Wildlederweste. Er hielt ihm ein brennendes Streichholz hin.

»Holland. Amsterdam.«

»Donnerwetter! Ich komme nur bis Pozna?.«

Der Mann zog die Unterlippe über die Oberlippe und starrte zur Decke. »Zwei Autostunden von der deutschen Grenze. Vielleicht sogar noch weniger.«

Die Stahltür zur Plattform wurde aufgerissen, und zwei weitere Raucher zwängten sich in die Runde. Der Mann berührte nun mit seiner Schulter die von Witali. Er atmete schwer über den Unterkiefer. Witali sah die Goldzähne darin.

»Was haben Sie in Amsterdam vor, oder ist das ein Geheimnis?«

»Mein Cousin lebt dort. Ein Künstler.«

Witali bereute seine Offenheit sofort, denn der Mitraucher packte ihn fest an der Schulter, um ihm etwas vorzuschlagen. Von solchen Zeitgenossen hielt man sich besser fern. Am Polytechnischen Institut in Gorki war auch so einer rumgelaufen. »Hör mal zu, nur eine Minute!« Und dann, die Augen halb geschlossen, hinter vorgehaltener Hand, wie in einem Jugendfilm: »Laß uns von hier verschwinden. Von denen lassen wir uns nichts mehr weismachen.« Witali war nie dahintergekommen, was dieser Bursche im Institut zu suchen hatte. Er war jedenfalls nicht in seinem Jahrgang und auch kein Dozent. Er sagte immer: »Laß uns einen Plan schmieden.« Immer, wenn solche Typen etwas mit »Laß uns« begannen, bedeutete das, daß man etwas für sie erledigen sollte.

Hinter dem verkratzten Fenster tauchte eine Landschaft mit Feldern, vollgehängten Wäscheleinen und sorgsam geschichteten Holzstapeln auf. Bei ein paar Häusern hintereinander stand der gleiche Hund. Der Mann mit der Weste räusperte sich.

»Die Polen schaffen’s nie. Nicht ohne uns. Sie halten sich für wer weiß was. Letztes Jahr ist eine polnische Delegation in unsere Fabrik gekommen, es war von einer Übernahme die Rede. Auf einmal waren sie überall. Mit vorgestreckten Bäuchen und arrogant hochgezogenen Schnurrbärten sind sie durchs Dorf stolziert. Und jetzt schauen Sie mal aus dem Fenster. Wenn das Wohlstand sein soll …«

Einige Raucher nickten zustimmend.

»Und überhaupt: Polen als solches existiert gar nicht. Es tut nur so. In dem einen Jahrhundert lagen die Grenzen hier, im anderen waren sie nach Westen verschoben, wieder hundert Jahre später hatten die armen Teufel gar kein Land mehr. Was soll man mit so was anfangen?«

»Nichts«, erwiderte ein Mann mit eingedrückter Nasenwurzel. »Überhaupt nichts, und das ist die verdammte Wahrheit.«

Eine Stunde später hielten sie für den Mittagsimbiß an. Der Zug hatte keinen Speisewagen, polnische Bäuerinnen verkauften kandierte Früchte und Wurstbrote, die sie durch die Fenster ins Abteil reichten. Sie hatten auf einem zwischen Feldern und Äckern unvermittelt auftauchenden Bahnsteig gewartet, und als der Zug die Geschwindigkeit drosselte, rannten sie freudestrahlend an den Waggons entlang, als seien die Reisenden alte Bekannte. Die reagierten ebenso begeistert, zählten das Wechselgeld nicht nach und winkten den Frauen, bis der Bahnsteig wieder außer Sichtweite war. Auf dem Gang wurden die Tüten sofort aufgerissen und leer gefuttert wie auf einem Kindergeburtstag. Der Schaffner kochte einen Kessel Tee. Schnaufend, ohne sich wegen seiner Alkoholfahne zu schämen, bediente er die in der Schlange wartenden Passagiere. Neben dem Kessel stand ein Becher mit schalem Bier, ein Nottropfen. Der Schaffner bemerkte Witalis Blick und spülte es prompt runter. Dann straffte er seinen Rücken. Ich scheiß auf alles, merk dir das.

»Sie sind bestimmt noch nicht verheiratet«, sagte er mit rauher Stimme.

»Nein.«

»Und haben Sie’s auch nicht vor?«

»Keine Ahnung. Mit Zucker, bitte.«

Der Schaffner kramte zwei Würfel aus einer Schachtel.

»Dann passen Sie bloß auf!«

»Wobei?«

»Beim Heiraten. Heiraten Sie auf keinen Fall dort.« Er deutete in die Fahrtrichtung. »Da ist alles möglich. Glauben Sie nicht, daß ich nicht Bescheid weiß. Zweimal im Monat komme ich da hin. Und dann steh ich lange genug auf den Bahnhöfen, um mir ihre Frauen anzugucken. Manchmal fahren sie mit. Lebensgefährlich. In ihren Augen sind Sie ein attraktiver Mann. Einer von uns, ein richtiger Kerl. Sie werden sich auf Sie stürzen und Sie in Stücke reißen. Richtige Kerle, die gibt’s bei denen nicht.«

Er selbst sah ziemlich jämmerlich aus. Die runden, glänzenden Augen nahmen die Hälfte seines Mäusegesichts ein, und nach jedem Satz zog er die Nase hoch. Witali bedankte sich für den Tee und flüchtete ins Abteil. Dort saß die Georgierin hellwach in den Kissen. Sie reichte ihm eine gebratene Hühnerkeule.

»Das schmeckt besser als das Zeug von den Polen.«

Dabei beließ sie es. Sie ging ihm nicht mit Geschwätz auf die Nerven, denn sie sprach kaum Russisch. Doch sie duldete nicht, daß er nichts aß, und das Tischchen durfte...

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