Bis dass der Tod uns scheidet - Kriminalroman

Bis dass der Tod uns scheidet - Kriminalroman

von: Walter Mosley

Suhrkamp, 2012

ISBN: 9783518778609

Sprache: Deutsch

379 Seiten, Download: 2171 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Bis dass der Tod uns scheidet - Kriminalroman



1


Irgendwo außerhalb meines Sichtfelds stöhnte ein Mann erbärmlich. Es hörte sich an, als hätte er all seine Kraft verbraucht und läge nun im Sterben.

Ich konnte allerdings nicht aufhören und nachschauen, was das Problem war. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den harten Magen der Boxbirne rhythmisch zu bearbeiten. Diese luftgefüllte Lederblase schlug schneller gegen die Platte, an der sie baumelte, als jeder Basketball, den die NBA sich nur vorstellen konnte. Nichts auf der Welt wirkt beruhigender, als um drei Uhr nachmittags die Boxbirne zu bearbeiten, wenn die meisten anderen Arbeitnehmer noch in ihren Kabuffs hocken, von der Rente träumen, auf den Samstag hoffen oder sich unterirdisch in U-Bahn-Waggons gepfercht wiederfinden, während sie auf Ziele zurasen, die sie sich nicht ausgesucht haben.

Im Kampf gegen die Boxbirne, erst mit den behandschuhten seitlichen Handballen, dann mit einem eingestreuten geraden Punch zur Abwechslung, schärft man seine Fähigkeit, durchzuhalten, so lange wie man nur kann – so nah ran wie möglich, aber ohne sich die Birne ins Gesicht knallen zu lassen. Und wenn dann der harte Ledersack sich schneller bewegt, als das Auge es fassen kann, fangen Hüfte und Waden, Nacken und Kopf an, sich unerwartet schnell und flüssig zu bewegen, unbeirrbar über alle Hindernisse um sie herum hinweg, und man ermüdet den imaginären Gegner mit der Unausweichlichkeit der Zeit.

Und wie Ihnen jeder Boxer sagen kann, wird Zeit immer knapp.

Jeder, der mit dir in den Ring steigt, ist größer und stärker, ist das größte Problem, das du je in deinem Faulenzerleben hattest, hatte Gordo immer gesagt, als ich noch ein junger Mann war, wie verrückt schwitzte und dachte, ich würde eines Tages Profiboxer werden. Die einzige Chance, die du hast, du machst ihn mürbe, die Fäuste stampfen wie Kolben, dein Kopf ist ständig in Bewegung. Du setzt Schädel und Schultern ein, Speckwanst und Spucke, alles, was du hast, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und die ganze Zeit über bearbeitest du ihn mit den Fäusten, bis die gar nicht mehr wissen, wie man aufhört.

»Gib mir noch vier.«

Ein schmerzliches Aufstöhnen. »Ich kann nicht mehr!«, flehte die körperlose Stimme.

»Noch vier!«

Die Anstrengung im darauffolgenden Grunzlaut klang ganz nach einem Mann, der seine Eingeweide auskotzt.

»Meine Brust!«, schrie er. »Tut weh!«

»Du wirst schon nicht sterben«, versprach ihm sein Folterer. Es hörte sich wie ein Racheschwur an, nicht wie eine Beteuerung.

Ich senkte meine zitternden Arme, ohne in die Richtung der beiden zu schauen, und ging zur Dusche. Schmerzen haben im Trainingslager der Gladiatoren keine Bedeutung, ebenso wenig wie Blut oder blaue Flecken, gebrochene Nasen oder Gehirnerschütterungen, Bewusstlosigkeit oder gar – ab und zu – Tod.

In letzter Zeit duschte ich dreimal am Tag eiskalt. Nur diese belebende Kälte, dazu die Arbeit an der Boxbirne und das tägliche Zählen der Atemzüge hielten mich davon ab, den Verstand zu verlieren. Mit fünfundfünfzig stellte ich fest, dass das Leben zwar weiterging, aber die Probleme weiter wuchsen und die Lösungen nur dazu dienten, alles noch schlimmer zu machen.

Ich hatte zu dem Zeitpunkt keinen Fall, was bedeutete, dass kein Geld hereinkam. Wenn ich eine Arbeit fand, dann bedeutete das nur, dass jemand auf die eine oder andere Weise – manchmal auf beide – zu Schaden kommen würde. Und selbst dann konnte es passieren, dass ich meinen Lohn als Privatschnüffler nicht bekam.

In meiner Wohnung im zehnten Stock lag ein guter Freund im Sterben. Meine Frau hatte eine Affäre mit einem halb so alten Mann. Und das waren nur die Teufel, die ich kannte.

Nach der Dusche war ich so erledigt, dass ich gerade noch aufrecht und nackt auf dem kleinen Eichenhocker sitzen konnte, der irgendwie seinen Weg in die Umkleide gefunden hatte. Aus dem Boxstudio war weiter das Stöhnen zu hören, und meine Muskeln zitterten noch immer von der Anstrengung des mittäglichen Workout.

Aufzustehen war Glaubenssache. Ich kam mir vor wie der letzte noch stehende Mann nach einem lebenslangen Kampf in einem sinnlosen Krieg.

Der untersetzte, milchkaffeebraune junge Mann war dabei, an einem Sit-up zu scheitern. Er sah aus wie eine riesige betrunkene Made, die jeden Gleichgewichtssinn verloren hatte, krümmte sich und ließ sich dann mit der Wucht einer schweren Matratze auf den Betonboden fallen.

»Noch drei, und du hast’s geschafft«, meinte Iran Shelfly.

Tiny Bateman, in grauem T-Shirt und glänzender blauer Badehose, ließ die Arme zur Seite fallen, er sah aus wie ein fetter Säufer, den man auf dem Bürgersteig vor seiner Lieblingsbar abgelegt hatte. Über ihm stand ein gutgebauter, kupferhäutiger junger Mann mit rasiertem Schädel und einem Dauergrinsen auf den Lippen. Seine Vergnügtheit wirkte eher raubtierhaft, nicht fröhlich, aber Iran versuchte, Tiny wirklich zu helfen.

»Noch drei«, befahl Iran.

»Genug«, widersprach ich.

Tiny seufzte erleichtert auf.

»Er ist erst seit einer halben Stunde dabei«, klagte Iran.

»Morgen schafft er einunddreißig Minuten«, erwiderte ich. »Stimmt’s, Bug?«

Ich streckte eine Hand aus, und Tiny ›Bug‹ Bateman griff zweimal danach, bevor er zupacken konnte. Ich half ihm auf die Beine, er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und schnaufte schwer.

»Ab unter die Dusche, Junge«, sagte ich zu ihm, doch er hatte alle Mühe, sich aufrecht zu halten und zu schnaufen.

Also wandte ich mich an Iran.

Der Zweiunddreißigjährige trug marineblaue Sweatpants und ein weißes T-Shirt, das seine ausgebildete Muskulatur umspielte wie geschmolzenes Wachs. Einen solchen Körperbau bekam man nur im Knast: Entweder war man darauf gefasst, jemandem in den Arsch zu treten oder in den Arsch getreten zu werden. Er war eins achtundsiebzig – elf Zentimeter größer als ich – und wirkte trotz seines falschen Grinsens angespannt.

»Wie geht’s, Ai Rän«, fragte ich und sprach den Namen so aus, wie er es tat.

»Wird elf Jahre dauern, bis ich ihn so weit habe, in den Ring zu steigen«, meinte der hellhäutige junge Dieb, »aber nur gegen ein Mädchen, das halb so schwer ist wie er.«

»Wie geht’s dir, meinte ich. Wie läuft’s denn so?«

»Boxstudio läuft bestens«, antwortete er ausweichend. »Alle haben ihr Geld gekriegt und halten sich an Gordos Vorgaben. Kommt mir jemand krumm, tu ich so, als rufe ich Sie an. Und ich persönlich, ich halte den Kopf in Deckung, wie Sie gesagt haben.«

»Sag mir Bescheid, wenn du ein Problem hast«, bot ich ihm an, »im Boxstudio oder anderswo.«

Er sah mich fragend an und rümpfte die Nase wie ein Wolf, der sich über den Hauch eines merkwürdigen Geruchs wundert.

»Was denn?«, fragte ich.

»Warum wollen Sie mir helfen, Mr. McGill?«, fragte Iran. Gute Frage. Misstrauen war die erste Lektion, die jeder auch nur halbwegs intelligente Knacki lernen musste.

Ein Jahrzehnt zuvor hatte sich ein Mann namens Andrew Lodsman eine Skimaske über den Kopf gezogen und mitten in der Stadt am helllichten Tag einen Juwelenkurier ausgeraubt. Das Problem war Amy, eine ehemalige Freundin – noch nicht ehemalig, als er den Überfall geplant hatte. Amy plauderte bei den Bullen, und die machten sich auf die Suche nach Andy. Die Steine waren, für das bloße Auge nicht sichtbar, lasermarkiert. Andy hatte mir einen kleinen Stein gegeben, ich versteckte ihn in Irans Sockenschublade, als er unten in Philadelphia war und selbst einen Überfall abzog.

Jemand rief wegen des Überfalls in Philly anonym bei der Polizei an, und die Bullen fanden den dreikarätigen Diamanten – neben ein paar anderen Dingen – zwischen Andys Socken. Andys Beteiligung an dem Raubüberfall wurde in Zweifel gezogen, und Iran landete wegen zwei Verbrechen im Knast – eines hatte er begangen, das andere nicht.

Das war vor langer Zeit gewesen, ich war seitdem ein anderer geworden. Ich versuchte, meine Missetaten wiedergutzumachen, indem ich dem jungen Mr. Shelfly aushalf. Es war nur eines von einem Dutzend privater Projekte, an denen ich dran war.

Er wusste nicht, dass ich für seinen sechsjährigen Staatsaufenthalt verantwortlich gewesen war. Das musste er auch nicht wissen.

Das Handy in meiner Tasche vibrierte, und statt auf Irans Frage einzugehen, hob ich ab.

? Klient IB stand auf dem Display: möglicher Klient im Büro.

Ich schrieb 20 zurück, was bedeuten sollte, dass ich in zwanzig Minuten da sein würde.

»Ach, ich arbeite nur an meinem Karma«, antwortete ich auf Irans Frage und spürte, wie sehr die Worte schmerzten.

Er verstand nicht, was ich meinte, war jedoch abergläubisch genug, um nicht weiter darauf einzugehen. Im Knast lernte man als Erstes, misstrauisch zu sein, dann mit der Angst umzugehen und als Letztes, Respekt vor einer höheren Macht zu haben.

Ich schaute kurz in der Dusche nach, bevor ich ging. Bug stand unter dem Wasserstrahl und hielt sich mit einer Hand an der Brause über seinem Kopf fest.

»Ist Zephyra all die Schmerzen wert?«, fragte ich ihn aus sicherer Entfernung, um nicht nassgespritzt zu werden.

Er brauchte eine halbe Minute, um genug Luft für eine Antwort zu bekommen. »Alles.«

Der größte Feind der Revolution, sagte mein Vater,...

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