Glockengasse 29 - Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien

Glockengasse 29 - Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien

von: Vilma Neuwirth

Milena Verlag, 2014

ISBN: 9783902950079

Sprache: Deutsch

140 Seiten, Download: 3118 KB

 
Format:  EPUB

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Glockengasse 29 - Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien



Glockengasse 29


Unser Haus in der Glockengasse war etwas ganz Besonderes, abgesehen davon, dass es in einem ziemlichen desolaten Zustand war. Die Kacheln auf dem Gangboden waren teilweise zerbrochen, meistens gar nicht mehr vorhanden. Diejenigen, die noch vorhanden waren, wackelten so stark, dass es ein Glück war, nicht darüberzustolpern und sich den Fuß zu brechen. Aber trotz aller Mängel – ich liebte das Haus. Ich denke noch oft mit Wehmut daran zurück.

Im zweiten Stock, wo sich insgesamt fünf Wohnungen befanden, wohnten außer uns noch zwei jüdische Familien und zwei katholische.

Da war zum Beispiel die Familie Novotny: Sie war für uns die Tante Lintschi, er der Onkel Schorschi. Sie war Jüdin, er katholisch. Als die beiden Schwestern von Tante Lintschi sehr jung an Tuberkulose starben, versprach sie ihnen am Totenbett, sich um ihre Mädchen zu kümmern. Eine ihrer Schwestern hatte zwei Töchter, Rosi und Trude, die andere Schwester eine Tochter, Erika. Außer den Mädchen Rosi, Trude und Erika hatten die Novotnys immer ein paar Hunde zu versorgen, die Schorschi von der Straße auflas, wenn diese herrenlos herumstreunten. Schorschi war fast immer arbeitslos. In dieser Familie war die Not also besonders groß.

Im Haus gab es eine kleine Greißlerei, eine ganz wichtige Institution für uns Mieter. Die Einkäufe bei der Greißlerin wurden einmal im Monat bezahlt. Jede Partei hatte ein sogenanntes »Schuldenbücherl«, in dem jeder Einkauf notiert wurde. Herr und Frau Bergkirchner, die Inhaber, hatten viel zu schreiben. Die Parteien kamen fast jeden Tag, um »einzukaufen«. Da wurden zum Beispiel 3 dag Kaffee, 10 dag Zucker oder 30 dag Mehl gekauft. Wenn 15 dag Schmalz gekauft wurden, schabte man das Einwickelpapier penibelst ab, sodass der Küchentisch fast zerkratzt wurde. War gerade keine Kundschaft im Geschäft, fertigte das Ehepaar Bergkirchner Stanitzeln an. Für die kleinen Mengen, die täglich gekauft wurden, gab es keine Sackerln. Kochte die Greißlerin geselchtes Fleisch, gab sie die Suppe immer gratis an die Hausparteien ab. Da wurden dann Graupen eingekocht und eine Mahlzeit war fertig.

War, was oft vorkam, bei Tante Lintschi überhaupt kein Geld im Haus, ging sie ins Pfandl3. Sie versetzte alles, was nicht niet- und nagelfest war: Bettzeug, Geschirr, fallweise sogar ihre Unterwäsche. Hatten die Versatzscheine eine größere Anzahl erreicht, stolzierte sie mit den Scheinen, die sie wie einen offenen Fächer hielt, auf dem Gang herum und fächelte sich damit Luft ins Gesicht. Das war dann der Auftakt für die anderen, es ihr nachzumachen. Alle kamen mit ihren Versatzscheinen auf den Gang und den Schmäh lief. Aber Tante Lintschi war mit der Anzahl ihrer Versatzscheine die ungekrönte Königin.

Man hatte einige Monate Zeit, die versetzten Gegenstände gegen einen kleinen Betrag wieder auszulösen. Die meisten Leute ließen die Sachen aber verfallen, weil sie kein Geld zum Auslösen hatten. Bei uns gab es nie einen einzigen Versatzschein, denn wir waren im Haus sozusagen »etwas Besseres«. Vater betrieb im Haus ein kleines Friseurgeschäft, hatte aber nur wenige Kunden. Manchmal musste er stundenlang auf Kundschaft warten. Bei uns hieß es immer: »Nach der Decke strecken, versetzt wird nichts!« Da waren meine Eltern sehr konsequent. An Sonntagen roch es vor der Wohnung von Tante Lintschi manchmal nach Schnitzel. Vater sagte dann immer lachend: »Wahrscheinlich hat sie dieses Mal ihre Schuhe versetzt, ich hab sie mit den Hausschuhen auf der Gasse gesehen.«

Er wollte uns damit vermutlich trösten, denn bei uns gab an Sonntagen oft nur Linsen mit Knödel. Ging das Geschäft am Wochenende etwas besser, trat Mutter in Aktion: Vater bekam drei Zigaretten der Marke »Sport« und Mutter ging einkaufen. Dabei hatte sie einen besonders guten Trick. Sie ging immer am Samstag, knapp bevor die Bauern am Karmelitermarkt ihre Standeln wegräumten. Um diese Zeit bekam sie die Ware um einen Bruchteil des Preises, der normalerweise dafür verlangt wurde. Die Bauern waren froh, ihr Obst und Gemüse noch loszuwerden, denn am nächsten Tag hätten sie es ohnehin wegwerfen müssen. So kam Mutter mit vollen Taschen nach Hause. Auf dem Markt gab es auch einen Stand, der nur Innereien verkaufte. Dort war Mutter Stammkundin, weil der Inhaber im Wiegen seiner Ware nicht kleinlich war. Es gab dann gebackene Leber oder Kuttelfleck.

Mutter war eine wunderbare Köchin, die aus den einfachsten Zutaten gutes Essen auf den Tisch zauberte. Hungern mussten wir nie. An Freitagen ging es uns besonders gut: Einer der Brüder meines Vaters, Viktor, arbeitete als Aushilfe bei einem Fischstand am Karmelitermarkt. Wenn Mutter am Freitag an diesem Stand vorbeiging, was sie natürlich mit großer Regelmäßigkeit tat, steckte ihr Viktor, so die Luft rein war und es niemand bemerkte, rasch einen Karpfen in die Tasche. Mutter hatte dann zwar immer ein schlechtes Gewissen, aber das Wohl ihrer Familie war ihr wichtiger als ein reines Gewissen. Dem Fischhändler ging der Fisch nicht ab, aber für uns war dieses Essen immer ein Fest.

Meine Mutter kann ich mit einem Satz beschreiben: Sie war die Güte in Person. Auf sich selbst schaute sie nie, ihre Familie war ihr Ein und Alles. Aber nebenbei bemerkt: Sie war zu allen Menschen gut. So besaß sie zum Beispiel einen neuen Wintermantel, den ihr Vater nach vielem Bitten und Betteln gekauft hatte. Hatte Tante Lintschi einen Weg, borgte Mutter ihr diesen Mantel. Vater schimpfte dann mit Mutter. Ich höre noch heute, wie er zu ihr sagt: »Jeder wird glauben, du hast dir den Mantel von der Lintschi ausgeborgt.« Das störte meine Mutter aber nicht, sie verborgte ihn trotzdem immer wieder. Und nicht nur an Tante Lintschi.

Obwohl wir selbst nicht viel hatten, sprach es sich bei diversen Bettlern herum, dass es bei den Kühnbergs immer etwas zu essen gab. Hungrig ging nie einer von unserer Tür, auch wenn es nur Einbrennsuppe mit einem Stück Brot war. Da saßen dann manches Mal zwei, drei Bettler an den Gangfenstern und aßen Suppe.

Bei uns am Gang ging es so familiär zu, dass jeder von jedem alles wusste. Im Sommer, wenn es sehr heiß war, wurde es besonders gemütlich. Die Frauen erschienen mit einem Kübel oder Schaffel und einem Sessel auf dem Gang. Sie füllten die jeweiligen Gefäße mit Wasser und setzten sich, die Füße im kühlen Nass, vor die zu ihren Wohnungen gehörenden Fenster. Jede hatte ihr Kaffeehäferl mit Zichorienkaffee vor sich. Dort blieben sie stundenlang sitzen und tratschten und führten Schmäh.

Ging es gerade um schlüpfrige Dinge und eines von uns Kindern war in der Nähe, wurde das Gespräch sofort abgebrochen mit den Worten: »Schindeln san am Dach!« Das war das Zeichen, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

Frau Kempler wohnte ebenfalls im zweiten Stock. Als stolze Kaffeehausbesitzerin – ihr Lokal war in der Praterstraße – nahm sie an den Gangtreffen nie teil. Auch Herr und Frau Högenwarth, sie waren Kunden meines Vaters, wohnten auf unserem Stockwerk. Zu ihnen hatten wir ein besonders gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Sehr oft blieb Herr Högenwarth das Geld für einen Haarschnitt schuldig. Er war meist arbeitslos und zahlte, wenn er Geld hatte. Högenwarth war ein großer, hagerer Mann mit grantigem Gesicht, seine Frau war ein eher unauffälliger, unterwürfiger Typ. Sie gingen bei uns ein und aus, wie es auch umgekehrt der Fall war. Es gab keine versperrten Wohnungstüren, man kam und ging zu den Nachbarn, wie es einem eben gerade einfiel.

Einmal, ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, ich war vielleicht acht Jahre alt, brachte Herr Högenwarth einen Koffer zu uns und bat Mutter, diesen ein paar Tage für ihn aufzubewahren. Meine Eltern waren zwar etwas verwundert, aber sie taten ihm den Gefallen. 1938 wussten wir dann, was sich in diesem Koffer befunden hatte. Es waren lauter Naziutensilien: SA-Uniformen, Hakenkreuze zum Anstecken, Armbinden, Fahnen und sogar kleine Hakenkreuze, die die Högenwarths später als Christbaumbehang verwendeten. Herr und Frau Högenwarth, mit denen wir jahrelang in bester Eintracht zusammengelebt hatten, wurden 1938 über Nacht zu Todfeinden.

Die anderen Mieter in unserem Haus waren vor allem Juden. Im ersten Stock wohnte ein Ehepaar, die Familie Häußler. Sie lebten von Ratenverkäufen. Bei ihnen konnte man alles abstottern: Bettzeug, Geschirr, Nachthemden und dergleichen. Was sie nicht hatten, konnten sie besorgen. Bezahlt wurde erst, wenn Geld vorhanden war. Das ganze Haus hatte Schulden bei ihnen. Am meisten war ich von Frau Häußler fasziniert: Sie hatte an jeder Hand sechs Finger. Der sechste hing leblos herunter. Sie kochte koscher und das sehr gut. Wenn sie Gefillte Fisch oder Scholet mit Ganslbügerln machte, lief jedem das Wasser im Mund zusammen. Der Duft zog sich durchs ganze Haus. Das war für mich immer ein Grund, sie zu besuchen. Ganz unschuldig fragte ich dann: »Wonach schmeckt das?« – Was blieb ihr anderes übrig, als mir etwas davon zu geben?

Meine Eltern ärgerten sich immer...

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