Der Antichrist und der Gekreuzigte - Friedrich Nietzsches letzte Texte

Der Antichrist und der Gekreuzigte - Friedrich Nietzsches letzte Texte

von: Heinrich Detering

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835320871

Sprache: Deutsch

232 Seiten, Download: 1800 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Der Antichrist und der Gekreuzigte - Friedrich Nietzsches letzte Texte



XII. Was Wahrheit ist (S. 124-125)

Nun haben manche Interpreten dafür plädiert, den Titel Ecce homo als satirisch und geradezu als »Nietzsches Parodie auf das Christentum « zu lesen2 – insofern nämlich das Pilatus-Wort »Ecce homo« mit Nietzsches Ohren gleichsam als ironische Distanznahme gegenüber dem vermeintlichen Messias und Gottessohn zu hören sei, getragen also von derselben Skepsis, die zuvor schon dem Wahrheitsanspruch Jesu die Gegenfrage gestellt hatte, was denn Wahrheit sei.

Am pointiertesten hat das Kofman formuliert: »Ponce Pilate le Romain est l’ancêtre de Nietzsche: en posant la question sceptique, il rend possible et prépare la question généalogique.« Über die Distanz der Jahrhunderte hinweg bedeute der Buchtitel deshalb ein ironisch-komplizenhaftes Augenzwinkern gegenüber diesem Vorgänger: »Nietzsche, en intitulant son ›autoprésentation‹ Ecce homo, fait donc d’abord, par-delà les siècles, un clin d’œil ironique et complice à son ancêtre Ponce Pilate«; der Titel »souligne son scepticisme«.3

Wirklich hatte der Antichrist ja den Pilatus, wie wir sahen, lange vor der Neuerzählung der Golgatha-Geschichte mit dessen Wahrheitsfrage eingeführt; und in seiner Interpunktion war sie zum spöttischen Ausruf geworden: »Was ist Wahrheit!« Um dieses Wortes willen hatte er Pilatus ja geradezu als die einzige Figur »im ganzen neuen Testament« bezeichnet, »die man ehren muss«.

Dieser Pilatus des Antichrist hatte damit den Gegensatz von Wahrheit und Lüge grundsätzlich in Zweifel gezogen, ganz im Sinne von Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Aus seiner Wahrheitsfrage, das hat der Antichrist ihm nachgerühmt, spreche der »vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Missbrauch mit dem Wort ›Wahrheit‹ getrieben wird«.

Und doch muss man auch hier noch einmal genau nachlesen. Denn was geschieht da ›vor ihm‹, wer treibt den Missbrauch? Keineswegs der »heilige Idiot« Jesus. Den hat nach der Überzeugung eben desselben Antichrist doch »nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack, geistiger Zucht, Logik« angeweht; dessen Gleichnisrede konnte ein Anspruch auf »Wahrheit« überhaupt nur im Plural und in jener ironischen Absetzung vom platonisch- paulinischen Wahrheitsbegriff zugeschrieben werden, die auch hier durch die Anführungszeichen markiert ist: »dass er nur innere Realitäten als Realitäten, als ›Wahrheiten‹ nahm«.

Nicht dieser reine Tor, der außerhalb von Wahrheit und Lüge lebt, ist für den Antichrist das Gegenüber des spöttischen Pilatus gewesen, sondern der christianisierte Jesus des Dogmas und seiner ersten Formulierung im »neuen Testament« als dem Buch der frühen Kirche, das nur Wahrheit oder Lüge, Sünde oder Gnade, Strafe oder Lohn kennt.

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