Die Geschichte der Null

Die Geschichte der Null

von: Robert Kaplan

Campus Verlag, 2001

ISBN: 9783593364278

Sprache: Deutsch

248 Seiten, Download: 1451 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Die Geschichte der Null



13 Badehaus mit Spinnen (S. 202-203)

Die Null ist weder negativ noch positiv, sondern das schmalste Niemandsland zwischen diesen beiden Königreichen. Doch unser von Analogien getriebener Geist, immer eifrig bemüht, einen Ausdruck in ausdruckslose Gesichter hineinzulesen, bemächtigt sich seiner Leere und erkennt dort Mächte und Vorzeichen. Fragen wir zunächst,welchen Ausdruck er findet, wenn er das Schlimmste befürchtet, um uns dann im nächsten Kapitel der Frage zuzuwenden, wie dieselbe Leere als wohltätig erscheinen kann.

Wir haben gesehen, wie die Null im Mittelalter als Teufelswerk oder als der Teufel selbst galt, als der große Sinnvernichter.Wie leicht ist es, sich vorzustellen, als Taugenichts, als Null abgetan zu werden. Sultan Abdul Hamid II., der für die furchtbaren Massaker an Armeniern im 19. Jahrhundert verantwortlich war, soll seine Zensoren angewiesen haben, jeden Hinweis auf H2O in den Chemiebüchern, die in sein Reich kamen, zu tilgen, überzeugt, das Symbol stünde für »Hamid II. ist eine Null«. Noch leichter ist es freilich, jene, die wir ablehnen, als bloße Nullen, als Energieschlucker und Schwarze Löcher abzutun, in denen alles Wichtige, das Einzigartige und die Erinnerung an das Einzigartige, spurlos verschwindet.

Es ist, als stünde dieses hohle Oval »0« für Anonymität und spiegle unsere Furcht, für andere keinen Unterschied zu machen, für niemanden, für keinen auf der ganzen Welt: »ins Jenseits zu gehen und keine bleibende Spur zu hinterlassen«, schrieb William McFee in Casuals of the Sea – ein Roman, der selbst kaum Spuren hinterließ; für mich nur die Farben, die im facettierten Glas der Schauvitrine meiner Schule schimmerten.

Wie viele Nullen haben Sie selbst in Ihrem Leben, wie Sie nun vielleicht bemerken, nicht alles getroffen, mit wie vielen haben Sie vielleicht sogar gespielt? Jene Gesichter auf alten Klassenfotos, deren Namen Ihnen nun nicht mehr einfallen, jene Namen in alten Adressbüchern, die in Ihnen keinerlei Gesichtszüge mehr wachrufen – jene Menge, in die Sie selbst manchmal gerne als bloßer Zuschauer eintauchten. Sie sehen diese gesichtslosen Namen – bis Ihnen der Gedanke einen kalten Schauer versetzt, in wie vielen zerfledderten Adressbüchern, in Kellerschränken verstaut, ihr eigener Name unentzifferbar vor sich hinmodern könnte. Als Null zu leben: der überflüssige Mensch, der Mann ohne Eigenschaften, die Person, die, wie John Marcher bei Henry James, erst zu spät herausfindet, dass das Tier in diesem Dschungel die Tatsache war, dass es gar kein Tier gab, keine Erwiderung der Leidenschaft:

Diese Figur sucht unsere Literatur und unser faktisches Leben heim, erscheint im Salaryman der japanischen Gesellschaft, in den gesichtlosen Firmenangestellten, in den austauschbaren Allerweltsmenschen der Bürokultur, die abends in ihr Heim zurückkehren, um sich in virtuellen Computerspielen zu verlieren. Das Schlimmste von allem ist, dass den meisten anders als Marcher nie bewusst wird, nie gelebt zu haben. Das war le néant, das Nichts im Herzen des Existenzialismus, dessen seltene Erkenntnis Ekel hervorrief – und auf diese Weise einen Moment, in dem man wählen konnte, was man sein wollte, da alle Wahlmöglichkeiten als solche gleichermaßen zwecklos, gleichermaßen willkürlich und gleichermaßen ohne vorausgehenden Sinn waren. Die eigene Existenz begann mit dieser willkürlichen Wahl, die als willkürlich angenommen wurde, und indem man sie auslebte, schuf man sein Wesen: Das war Jean- Paul Sartres glatte Umkehrung der thomistischen Formel, das Wesen gehe der Existenz voraus.

In solcher Weise schafft eine zufällige Ziffer vor einer Reihe von Nullen einen Wert,wo es zuvor keinen gab. Aber Sartre starb und seine Authentizität verschied bald darauf, als Pfeife, Schal und das Deux Magots immer mehr als die Eigenwerbung eines Literaten erschienen. Die Mode des Existenzialismus verging, bewahrt nur in aufeinander folgenden Wellen von Heranwachsenden, bevor sie das Geldverdienen und der Konsum erfasste.

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