Das Mordhaus am Wald - Ostseekrimi
von: Elke Pupke
Hinstorff Verlag, 2014
ISBN: 9783356018622
Sprache: Deutsch
336 Seiten, Download: 1053 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Donnerstag, 30. Mai 2013
Es ist Strandwetter, einer der ersten warmen Sommertage in diesem Jahr und die Straßen des Seebades sind um die Mittagszeit leer und ruhig wie im Winter. Nur einige Spätaufsteher schleppen ihre Stofftaschen mit Proviant, Getränken, Badebekleidung und Sonnenschutzcreme in Richtung Ostsee.
In der Pension Kehr wieder ist die Gaststätte, die auch als Frühstücksraum genutzt wird, leer. Berta Kelling, ehemalige Wirtin und Tante der jetzigen Besitzerin, sitzt am Stammtisch, liest die Ostsee-Zeitung, schüttelt dabei hin und wieder missbilligend den Kopf und nippt zwischendurch an ihrem Kaffee.
Die Haustür wird geöffnet. Berta blickt zunächst über ihre Brille hinweg und nimmt diese dann ganz ab, als sie den Eintretenden erkennt. Schwungvoller, als man es bei ihrem Alter und ihrer Figur vermuten würde, springt die Frau auf und geht an die Bar zur Kaffeemaschine.
»Setzen Sie sich, Herr Hauptkommissar, ich mach Ihnen einen Kaffee. Nur mit Zucker, stimmt’s?«
Der etwa vierzigjährige, schlanke Mann streicht sich durch das bereits schüttere dunkle Haar und sieht sich zögernd um.
»Sie kommen doch bestimmt wegen Wilhelm Steinberg. Hab schon gehört, dass der heute Vormittag vom Dach gefallen ist.« Ohne Betroffenheit vorzutäuschen fährt Berta fort: »Dass dem sein Geiz noch mal den Hals bricht, hab ich ja geahnt. Aber dass es so schnell geht …«, sie zuckt mit den Schultern, stellt die Kaffeetasse auf den großen runden Tisch und faltet die Zeitung zusammen.
Hauptkommissar Schneider seufzt kurz, setzt sich dann aber bereitwillig. Er weiß, dass es sinnlos ist, hier zu widersprechen. Außerdem schätzt er die über siebzigjährige Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt mehr, als er sich anmerken lässt. Ihre Menschenkenntnis, vor allem ihre Kenntnis der Menschen dieses Ortes, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat, könnte ihm unter Umständen durchaus nützlich sein.
»Eigentlich wollte ich zu Frau Dietzen«, stellt er dennoch erst einmal klar.
Berta nickt. »Das dachte ich mir schon. Aber sie ist gerade einkaufen gegangen. Kommt bestimmt gleich wieder. Vielleicht kann ich Ihnen inzwischen helfen. Was wollen Sie denn wissen?«
»Erzählen Sie doch mal ein bisschen über die Hausbewohner. Wen kennen Sie denn von denen?«
»Na, alle natürlich. Sind doch durchweg Einheimische.«
Die Frau, die seine altmodische Arbeitsweise kennt, wartet, bis der Polizist einen Notizblock und einen Stift aus seiner Tasche gekramt hat. »Das war doch ein Unfall, oder?«, fragt sie währenddessen misstrauisch. »Oder hat da einer nachgeholfen? Sonst bräuchten Sie doch nicht die Leute auszufragen.«
»Nein, nein«, beschwichtigt Schneider. »Bei einem unnatürlichen Todesfall müssen wir immer ermitteln. Aber in aller Regel liegt kein Fremdverschulden vor.«
Berta ist klar, dass es nichts bringt, jetzt weiter nachzuhaken. Aber da sie diesem Kommissar mit umfangreichen Informationen dienen kann, wird er sich im Gegenzug vielleicht ein paar Hinweise aus der Nase ziehen lassen. Sie konzentriert sich. »Also, das Haus hat drei Stockwerke, in jeder Etage sind zwei Wohnungen. Ganz oben links wohnt unsere Noreen. Sie hat die Wohnung von ihren Großeltern übernommen, die waren da über fünfzig Jahre drin, ihre Oma ist erst vor ein paar Jahren gestorben. Noreen hat sie gepflegt bis zuletzt, sie wollte durchaus nicht in ein Heim …«
»War Noreen Dietzen heute Vormittag hier?«, unterbricht Schneider.
Berta Kelling nickt. »Ja, natürlich, sie hat gearbeitet. Wann genau war denn die Tatzeit?«
Der Kommissar lacht. »Wilhelm Steinberg ist kurz nach elf Uhr vom Dach gestürzt«, berichtet er, ohne auf die versteckte Frage einzugehen. »Aber fahren Sie fort.«
Das Gespräch wird unterbrochen, weil die Kellnerin Noreen vom Einkaufen zurückkommt. Die kräftige junge Frau mit dem dicken blonden Zopf setzt sich mit an den Tisch. Berta kommt gar nicht auf die Idee, die beiden anderen jetzt allein zu lassen. Sie ergänzt Noreens sachliche Aufzählung durch eigene Kommentare.
Der Polizist kommt kaum dazu, seinen Kaffee zu trinken, während er sich Notizen macht, die später nur er selbst entziffern kann. Im Stillen beglückwünscht er sich zu der Idee, vom Tatort aus direkt hierher zu gehen. Berta Kelling gibt ihm genau die Informationen, die er zum jetzigen Zeitpunkt haben möchte, und es scheint wenig zu geben, was sie nicht über die Bewohner des Hauses Klabautermann weiß. Dass der Hausbesitzer, Wilhelm Steinberg, unten links gewohnt hat, ist ihm allerdings bereits bekannt.
»Über den Toten reden wir später«, unterbricht er deshalb die Frauen, »beschreiben Sie mir bitte erst einmal die anderen Hausbewohner.«
»Darüber, in der mittleren Wohnung auf der linken Seite, wohnt Familie Dreher. Ruhige Leute, die zurückgezogen leben und sich kaum auf Gespräche im Treppenhaus einlassen. Friedhelm Dreher ist Lehrer, seine Frau Ursula Hausfrau. Sie haben eine zwölfjährige Tochter namens Maylina. Ganz normale Leute eben«, urteilt Noreen.
»Da war Wilhelm Steinberg aber anderer Meinung«, fällt Berta ihr ins Wort.
»Stimmt, der hat behauptet, Dreher würde seine Frau schlagen. Aber das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wer weiß, was der gehört hat. Er soll sogar Anzeige erstattet haben. Aber ich glaube, der wollte bloß, dass Dreher von der Schule fliegt und die Miete nicht mehr bezahlen kann. Er hat doch ständig versucht, die Leute aus dem Haus zu treiben.«
»Darüber reden wir später. Über Familie Dreher, also oben links, wohnen Sie selbst«, übernimmt Schneider wieder die Gesprächsführung. »Wer wohnt Ihnen gegenüber?«
»Carmen Graf«, Noreen verzieht das Gesicht, »eine totale Nervensäge. Die kann wirklich niemand leiden. Im Haus geht ihr jeder aus dem Weg, aber sie kommt mindestens einmal in der Woche hierher, um über die Leute herzuziehen. Ihr Mann Alfred sagt nicht viel, hat auch nichts zu sagen, der geht jeden Tag brav zu seiner Arbeit auf dem Bau. Im Gegensatz zu seinem Sohn Amadeus, der ist seit etwa vier Wochen zu Hause. Er ist Schauspieler und hatte sein letztes Engagement an irgendeinem bekannten Theater, ich habe vergessen, wo das war. Jetzt schreibt er angeblich an einem Drehbuch, er will einen Film machen, mit sich selbst in der Hauptrolle. Das erzählt seine Mutter jedenfalls.«
Berta sieht sie erstaunt an. »Weißt du wirklich nicht, wo der gewesen ist?«
Der Kriminalkommissar kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Das letzte Engagement habe ich ihm besorgt. Sechs Monate hat der ›Künstler‹ Amadeus Graf unter anderem wegen mehrerer Wohnungseinbrüche in der Justizvollzugsanstalt Stralsund verbracht.«
Noreen schüttelt erstaunt den Kopf. »Das wusste ich nicht. Wie kann man bloß so dreist lügen. Denkt die Alte wirklich, das kommt nicht raus? Na ja, der sieht aber auch nicht aus wie ein Schauspieler, schon eher wie ein Knacki. Die Wohnung unter Grafs«, fährt die Kellnerin fort, »also rechts in der mittleren Etage, gehört Frau Haase. Eine nette, ruhige Frau. Sie war früher Buchhalterin, ist aber schon lange arbeitslos. Nach der Wende hatte sie nur noch ABM-Stellen und Weiterbildungen oder Umschulungen und so was. Ich frage mich, wovon sie die Miete bezahlt. Ihre Tochter Roxana ist ein faules Aas, die lebt nur auf Kosten ihrer Mutter.« Sie blickt Berta an, aber die nickt diesmal nur bestätigend. »Bruno Kerr, ein arbeitsloser Lehrer, wohnt unten rechts.« Noreen Dietzen schildert ihn als aggressiven, permanent schlecht gelaunten Alkoholiker: »Der alte Säufer legt sich wirklich mit jedem an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie der mit Kindern umgehen konnte. Die müssen doch eine Heidenangst vor ihm gehabt haben. Er soll von der Schule geflogen sein, weil er ein Kind geschlagen hat.«
»Unsinn!« Berta grinst. »Der hat kein Kind, sondern seinen Chef, den Schuldirektor, geschlagen. Und das hatte sicherlich einen Grund. Die Kinder haben den geliebt, der war ein guter Lehrer, streng, aber gerecht. So alt ist der übrigens noch gar nicht, nicht mal sechzig, glaub ich.«
»Aber er hat Probleme mit dem Alkohol?«
Die alte Frau sieht Schneider einen Moment lang nachdenklich an, dann erklärt sie entschlossen: »Nein, gar nicht. Nur ohne.«
Der Kriminalkommissar lacht kurz und trinkt einen Schluck. »Das sind dann wohl alle Hausbewohner. Was wissen Sie denn über das Opfer, Wilhelm Steinberg?«
»Ach!« Berta, die gerade aufsteht, um frischen Kaffee zu holen, setzt sich schnell wieder hin und blickt den Beamten aufmerksam an.
Der nickt. »Sie erfahren es ja doch. Wilhelm Steinberg...