Das achte Leben (Für Brilka)

Das achte Leben (Für Brilka)

von: Nino Haratischwili

Frankfurter Verlagsanstalt, 2014

ISBN: 9783627022082

Sprache: Deutsch

1279 Seiten, Download: 5342 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das achte Leben (Für Brilka)



Nein, unter fremde Sterne entweichen – kann’s nicht.
Fremder Fittich wärmt nicht lang.
Damals war ich unter meinesgleichen,
Dort, wo auch mein Volk ins Unglück sank.
Achmatowa

Es klingelte und keine ihrer Schwestern machte auf. Immer wieder wurde an der Klingelschnur gezogen, und sie schaute weiterhin reglos in den Garten. Den ganzen Morgen schon regnete es und machte ihre Stimmung der ganzen Welt zugänglich, sichtbar. Der Regen, der graue Himmel, die feuchte Erde stellten sie bloß und gaben der ganzen Welt Einblick in ihre Wunden.

Der Vater war noch nicht da und die Stiefmutter war mit der Kleinen Stoffe kaufen, mit der neuen prächtigen Kutsche von Papa. Sie rief nach ihren Schwestern, niemand antwortete. Dann erhob sie sich langsam und zwang sich die Stufen hinunter, um die Tür zu öffnen.

Vor der Tür stand ein junger Mann in einer weißen Uniform. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen und trat ein wenig irritiert von der schweren Eichentür zurück.

– Guten Tag, Sie müssen Anastasia sein? Darf ich mich vorstellen? Simon Jaschi, Oberleutnant der Weißen Garde und ein Freund ihres Vaters. Wir sind verabredet, darf ich reinkommen?

Also kein einfacher Offizier, ein Leutnant, ein Oberleutnant dazu. Sie nickte nur stumm und reichte ihm die Hand. Er war stattlich, groß und breitschultrig, mit schlanken Gliedern und knochigen Händen, die ziemlich behaart waren, unpassend zu diesem herausgeputzten Herrn, es schien, als würde die Natur sich durch die Uniform drängen.

Er nahm seine perfekt sitzende Kopfbedeckung ab, die sie ein wenig lächerlich fand, und trat ein. Sie wunderte sich schon, wo denn alle anderen steckten, und überhaupt schien das ganze Haus wie ausgestorben, das merkte sie erst jetzt.

Aus der Küche roch es nach Kaffee und Kuchen, aber niemand war darin, sie führte den Gast hindurch ins Empfangszimmer, in dem die Tür zum Garten offen stand. Es regnete ins Zimmer und die weißen Gardinen flatterten im feuchten Wind. Sie stürzte zur Tür und machte sie schnell zu. Der Regen war für sie eine Bedrohung, bei seinem Anblick wollte sie schon wieder weinen, unvorstellbar in der Anwesenheit des fremden Mannes.

Ihr fiel ein, dass er sie erkannt und mit ihrem Namen angesprochen hatte, obwohl sie vier Schwestern waren. Dabei war er noch nie bei ihnen zu Hause gewesen, das merkte sie an seinen umherschweifenden, neugierigen Blicken. Es war eine Falle. Ja, das war es. Jetzt verstand sie die plötzliche Leere im Haus. Er war es also. Um ihn ging es. Er war der zornige Gott, durch den sie ihre Strafe erhalten sollte. Er war der Zukunftsgarant. Er war der Schlachter, er war der Henker. Sie wurde blass und taumelte aus dem Raum.

– Ist alles in Ordnung?, rief er ihr nach.

– Oh, ja, ja. Ich hole nur schnell Kaffee und Kuchen. Sie mögen doch Kaffee?, rief sie aus der Küche, wo sie sich an die Wand gelehnt hatte und die Tränen mit den Ärmeln abwischte. Nichts mehr würde werden, wie es war. Und das hatte sie schlagartig verstanden, schlagartig hatte sie sich vergewissern können, dass die Kindheit vorbei war. Dass sie auf einmal ein anderes Leben haben würde, dass alles, all ihre Träume, Wünsche, Visionen sich auf diesen Menschen reduzieren würden, auf die weiße Russenuniform, wahrscheinlich ein Untergebener des dicken, ungebildeten Gouverneurs von Kutaissi, wie schrecklich!

Sie wollte sich übergeben, aber der Kaffee dampfte aus der Kanne und die symmetrisch geschnittene Schokoladentorte aus Papas Konditorei wartete darauf, dem Gast angeboten zu werden.

Und so wurde die Schokoladentorte ihre erste Opfergabe, die sie ihrem Henker darbot. Zum Verzehr. So, wie sie all ihre Zukunftsversprechen, die ihr das Leben Nacht für Nacht ins Ohr geflüstert hatte, diesem Vollstrecker zur Tötung würde anbieten müssen, indem sie anfing, sein Leben zu leben, in dem sie keinen Platz finden, in dem sie fremd sein, in dem sie nirgends ankommen würde. Sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte den Schmerz, den sie dabei empfand.

Sie trug das silberne Tablett mit dem dampfenden Kaffee und dem Porzellangeschirr hinüber. Der Mann saß mit übergeschlagenen Beinen in Papas Sessel und starrte auf den grünen Garten, der vom schweren Regen ertränkt und begraben wurde, mitsamt den kleinen Frühlingsblumen, die aus der Erde drängten, gierig nach Leben und nach Wärme.

– Oh, das ist köstlich. Ihr Vater ist ein wahres Genie. Und solch ein guter Mensch. Solch ein Zurückhaltender, ein Mann der Demut. Heutzutage findet man kaum noch solche Männer. Jemand pflanzt einen Baum, und die ganze Gemeinde muss es mitbekommen. Keiner vollbringt noch gute Taten heutzutage, jedenfalls nicht, ohne sie an die große Glocke zu hängen. Ihr Vater ist nicht so einer. Ich bin sehr stolz, zu seinem Bekanntenkreis zählen zu dürfen. Und ihre Maman. Sie ist bezaubernd.

– Sie ist meine Stiefmutter.

– Oh.

– Nehmen Sie ruhig. Wir haben noch genug von dem Kuchen da. An Süßem mangelt es hier nie.

– Ja, ich kenne die Kreationen ihres Vaters. Diese köstlichen Mandeltörtchen, und wie großartig doch seine Pflaumenmousse ist! Sie ist ein wahrer Traum.

– Und woher kennen Sie Papa, wenn ich fragen darf?

– Ich … Ich habe ihm einmal einen Gefallen erwiesen, falls man das so sagen darf.

– Sie sagten eben, man soll nicht darüber sprechen, wenn man etwas Gutes getan hat. Das sei wahre Größe, so habe ich Sie verstanden.

– Sie sind aber sehr genau.

– Das bin ich wohl.

– Der Kuchen ist traumhaft. Warum kosten Sie ihn nicht?

– Ich esse davon täglich genug. Danke.

– Ich habe ihm nur einen Gefallen erwiesen. Ich habe nicht gesagt, dass es eine gute Tat war, die ich begangen habe.

– Ein Gefallen beinhaltet in seiner Natur, dass er gut ist.

– Das hängt ganz von der Betrachtung ab, meinen Sie nicht auch? Jeder Mensch blickt auf die Dinge aus der eigenen Perspektive, die man nicht unbedingt mit den anderen teilt.

– Das meinte ich nicht. Es gibt Dinge, da sollten die Menschen alle gleich sein. Und auch die gleiche Ansicht teilen.

– Und diese Dinge wären?

– Zum Beispiel, dass die Sonne wundervoll ist und dass der Frühling Wunder wirken kann, dass das Meer tief und das Wasser weich ist. Dass Musik magisch ist, wenn man sie gut spielt. Dass Zahnschmerz eine furchtbare Angelegenheit und Ballett die schönste Sache der Welt ist.

– Verstehe. Sie tanzen für ihr Leben gern, nicht?

– Ja, das tue ich.

– Und Sie mögen mich nicht, weil sie glauben, dass ich diese Einstellung mit Ihnen nicht teile?

– Woher sollte ich das wissen?

– Sie glauben es. Sie vermuten es.

– Ich vermute rein gar nichts.

– Das glaube ich Ihnen nicht.

– Hören Sie, ich gebe zu: Ja, ich glaube, dass Sie viele meiner Ansichten nicht teilen, schon allein weil Sie im Militär dienen und ich dem Militär nicht zugetan bin. Was gibt es da zu lachen?

– Tut mir leid. Sie amüsieren mich.

– Ach, wie schön. Wenigstens hat einer von uns gute Laune.

– Reiten Sie?

– Was?

– Ob Sie reiten?

– Ja, natürlich reite ich.

– Im Damenstil, nehme ich an?

– Ich bevorzuge den Männerstil.

– Herrlich! Würden Sie mit mir morgen einen Ritt durch die Steppe wagen?

– Ich habe morgen Ballettunterricht.

– Ich kann auf Sie warten.

– Ich weiß nicht.

– Oder haben Sie Angst?

– Wovor sollte ich Angst haben? Vor Ihnen sicherlich nicht.

– Dann ist es abgemacht?

– Hören Sie, ich weiß nicht, was mein Vater Ihnen über mich erzählt hat. Aber es stimmt bestimmt nicht. Ich weiß nicht, was er Ihnen versprochen hat, aber auch das kann ich sicherlich nicht einhalten. Ich riskiere gern Ihren und meines Vaters Zorn, aber ich habe nicht vor, Ihnen etwas vorzumachen. Ich werde Sie nicht lieben. Warum lachen Sie schon wieder?

– Sie sind noch besser, als Ihr Vater Sie beschrieben hat.

– Was hat er Ihnen versprochen?

– Nichts. Er hat nur gesagt, dass ich Sie ab und zu besuchen darf.

– Damit ich Sie später heirate und nicht mehr tanzen darf?

– Damit wir uns kennenlernen.

– Sie sind viel älter. Das ist nicht angebracht.

– Ich bin achtundzwanzig.

– Trotzdem sind Sie viel älter. Elf Jahre ist ein großer Altersunterschied.

– Ich wirke sehr jung.

– Sie kennen sich in Ballett überhaupt nicht aus.

– Ich habe Sie beim Privatkonzert bei Mikeladses tanzen sehen.

– Wirklich?

– Ja.

– Und?

– Sie waren ganz gut.

– Ganz gut? Ich war sehr gut.

– Vielleicht. Sie meinen doch, dass ich mich nicht auskenne.

– Na ja, jeder Laie hat Anspruch auf eine Meinung.

– Oh, wie großzügig von Ihnen.

– Sie tragen keinen Schnauzer.

– Und, was bedeutet das?

– Das gehört sich nicht so.

– Nach der neusten Mode schon.

– Ich bin konservativ.

– Das wirkt aber nicht so.

– Sie kennen mich nicht.

– Ich habe Sie gesehen, da waren Sie vierzehn und haben dem Violinkonzert der Maxim-Brüder gelauscht. Wir saßen Seite an Seite und Sie waren so gerührt, dass Sie geweint haben und Ihre Tränen dann mit dem Kleiderärmel abwischten. Sie haben kein...

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