Praxisbuch Verhaltenssucht - Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Praxisbuch Verhaltenssucht - Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

von: Anil Batra, Oliver Bilke-Hentsch, Klaus Wölfling

Georg Thieme Verlag KG, 2014

ISBN: 9783132002111

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 4621 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Praxisbuch Verhaltenssucht - Symptomatik, Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen



1 Grundlagen


1.1 Familiäre Rahmenbedingungen


Gottfried Maria Barth

In der Behandlung und Erforschung von Suchtstörungen spielte der Faktor Familie schon immer eine bedeutende Rolle. Neben zahlreichen evaluierten familientherapeutischen Ansätzen zur Suchttherapie sind familiäre Aspekte der Suchtentstehung, aber auch der Suchtprävention erarbeitet worden ▶ [744]. Allerdings wurden bisher fast ausschließlich stoffgebundene Abhängigkeiten betrachtet, wohingegen die Veröffentlichungen zum Thema Familie und nicht stoffgebundene Sucht noch spärlich sind. Dabei spielt gerade hier die Familie in vielfacher Hinsicht eine besonders bedeutsame Rolle, die deshalb einleitend beschrieben werden soll.

1.1.1 Heutige Situation der Familien


Die Wohn- und Lebensformen in den deutschsprachigen Ländern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich gewandelt. Dabei stellt sich die Frage, ob man generell von einer instabilen Familiensituation für die heutigen Kinder ausgehen kann. Zwar ist in der alten BRD die Familienkonstellation weitgehend gleich geblieben; hier hat sich v.a. die Anzahl der Familien mit Kindern verringert. In den neuen Bundesländern sank dagegen die Anzahl der Geschwister von 1990 bis 2000 und gleichzeitig ist der Anteil an Einzelkindern gestiegen. Fast die Hälfte der jüngeren Kinder lebt nicht mehr mit einem Elternpaar zusammen ▶ [191]. Für die Erwachsenen hat sich mit dem höheren Anteil von Alleinlebenden und von kinderlosen Paaren die Lebenssituation dahingehend verändert, dass sowohl der Rückhalt durch die Familie, aber auch die Verantwortung für andere Familienmitglieder abgenommen haben.

Veränderte Lebensbedingungen Aus diesen Angaben ist jedoch nicht ersichtlich, ob sich die tatsächlichen Belastungen der Familienmitglieder in der heutigen Zeit verändert haben. Zur Klärung dieser Frage sind die veränderten Lebensbedingungen zu berücksichtigen, die nicht nur durch eine geringere Personenzahl pro Familie (und damit weniger potenziellen Vertrauenspersonen), sondern auch durch eine erhöhte berufliche Inanspruchnahme der Eltern sowie eine gestiegene Armutsrate charakterisiert sind. Dabei haben Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern das höchste Armutsrisiko ▶ [118]. Insgesamt war bis 2005 eine Zunahme des Armutsrisikos festzustellen, die zwar in den Folgejahren durch die gute konjunkturelle Entwicklung gebremst wurde, während jedoch die Verteilungsungleichheit weiter zugenommen hat ▶ [117]. Mit der Armut steigt das Risiko körperlicher und auch psychischer Erkrankungen.

Fazit

Schwindender Rückzugsort, Herausforderung durch mediale Vernetzung

Zusammengenommen muss man befürchten, dass weniger Jugendliche und Erwachsene heute in ihrer Familie einen verlässlichen Rückzugsort erleben, als dies früher der Fall war. Demgegenüber ist aber die gesamte Familie durch die neue mediale Vernetzung mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert, die sowohl Chancen als auch Risiken bezüglich eines Suchtverhaltens darstellen (▶ Tab. 1.1).

Tab. 1.1 Auswirkungen der neuen Medien auf Kommunikation und Suchtverhalten in der Familie.

Medium

Risiken/Belastung

Chancen

Fernsehen

Zeitverlust, Gewaltverherrlichung, Konsumförderung

Informationsquelle, Gemeinschaftserleben

Handy

Erreichbarkeitszwang, Risiken der Fotofunktion, Reduzierung der Kommunikation auf SMS

Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten

PC

„autistisches“ Objekt, das Aufmerksamkeit von anderen abzieht, ausufernder Zeitvertreib, Gewalttraining

rationelleres Arbeiten, Kommunikationsförderung bei gemeinsamem Familiengerät

Spielkonsolen

Verdrängung kreativer Beschäftigung, Gewalttraining

gemeinsame Spielmöglichkeiten

Internet

Onlinesucht, exzessives Spielen, Einkäufe und Pornografie frei zugänglich, Subkulturen („Pro-Ana“, Selbstverletzung, Suizidforen …), Bestellung von Suchtstoffen

unerschöpfliche Informationsmöglichkeiten, rationelles Einkaufen, verbesserte Kommunikation (E-Mail, Skype), Rundfunk und Fernsehen

Smartphone

Verlagerung exzessiver Internetnutzung an nicht kontrollierbare Orte

Chancen des Internets ortsunabhängig, erweiterte Kommunikation (WhatsApp etc.)

In gut integrierten Familien mit guter psychischer Stabilität bedeuten die Veränderungen durch die neuen Medien überwiegend Chancen, wohingegen stark belastete Familien Gefahr laufen, dass die neuen Medien zu einer wenig konstruktiven Pseudobewältigung genutzt werden und dabei zu direkt gefährlichem Verhalten oder in eine weiter belastende Abhängigkeit führen.

1.1.2 Bedeutung der Familie für Jugendliche und Erwachsene


Merke

Die Bedeutung der Familie kann für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach wie vor nicht hoch genug eingeschätzt werden.

1.1.2.1 Prägende Kommunikation

Dabei ist nicht nur in erster Linie die Kindheit hervorzuheben, in der das kleine Kind dem Versorgungs- und Kommunikationsangebot seiner Eltern weitgehend ausgeliefert ist. Der Säugling bemüht sich von Beginn an selbst um eine Kommunikation mit seinen Eltern, deren Antwort er aber letztendlich nicht in der Hand hat. Er ist also ganz davon abhängig, ob die Eltern emotional und zeitlich in der Lage sind, dem Säugling verlässlich zu antworten. Jedoch ist auch für Jugendliche neben dem emotionalen Rückhalt das familiäre Forum für gegenseitige Auseinandersetzungen von großer Wichtigkeit.

Zahlreiche Untersuchungen belegen schließlich einen für die Erwachsenen wohl insgesamt umfassenden protektiven Effekt von Partnerschaft und Familie, welche auch die Lebenserwartung beeinflussen. So kann die Ehe das Sterberisiko für Männer und Frauen deutlich senken, während eine Scheidung dieses im Vergleich zu Ledigen auch erhöhen kann ▶ [394].

Bereits vor der Geburt beginnend und in den ersten Lebensjahren umfassend prägend ist das Gelingen einer adäquaten reziproken Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern. Hierbei spielen Mentalisierungsprozesse eine herausragende Rolle, welche bestimmen, wie im weiteren Leben mit seelischen und sozialen Herausforderungen umgegangen werden kann.

1.1.2.2 Mentalisierungsprozesse

Die Mentalisierung wird durch ein adäquates Auffangen (Containment) und Rückspiegeln der kindlichen Affekte unterstützt. Beide Momente sind abhängig von der Fähigkeit der Eltern, sich auf das Kind einzulassen und eigene induzierte Affekte auszuhalten. Mit zunehmendem Alter des Kindes bedeutet das Aushalten der Affekte nicht nur ein passives Auffangen, sondern auch ein adäquates Antworten auf die Affekte. Aggressionen müssen in der Art ernst genommen werden, dass sie auf einen Widerstand und eine angemessene Antwort treffen können, da ihre affektive Energie sonst nicht abgeladen werden kann. Dies erfordert eine hohe Präsenz und...

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