Der Klang der Hoffnung - Die Geschichte einer unmöglichen Liebe

Der Klang der Hoffnung - Die Geschichte einer unmöglichen Liebe

von: Suzy Zail

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2015

ISBN: 9783641146818

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 3258 KB

 
Format:  EPUB

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Der Klang der Hoffnung - Die Geschichte einer unmöglichen Liebe



Kapitel 2

Wir liefen in Fünferreihen durch das Ghetto. Mit dabei waren der Metzger Benedek, der kleine Max Spitz, auf den ich oft an den Wochenenden aufgepasst hatte, die alte Frau Eppinger, die auf ihren Krückstock gestützt lief, und die Markovits-Zwillinge, die zwei gleiche Taschen hinter sich her schleiften. Mutter, Vater, Erika und ich schlossen uns dem Schuster, dem Fischhändler, dem Schneider und dem Zahnarzt an.

Zu beiden Seiten der traurigen Prozession standen SS-Wachmänner und ungarische Wachposten. »Macht schnell! Beeilung!« Die Wachmänner hoben ihre Schlagstöcke. Vater nahm mir meinen Koffer ab. Er trug schon einen Rucksack und den Proviantbeutel auf dem Rücken.

Vor der Synagoge hatte sich eine Schlange gebildet. Meine Mutter griff nach meiner Hand und wir reihten uns ein. Die Schlange bewegte sich langsam auf einen Konvoi von Lastwagen mit offener Ladefläche zu. Es war heiß, doch die Hand meiner Mutter fühlte sich klamm an. Auf dem blassblauen Stoff ihres Baumwollkleids zeichneten sich unter den Achseln dunkelblaue Flecken ab und in ihrem Gesicht klebten Haarsträhnen. Wir kletterten auf den dritten Lastwagen und warteten.

Es war eine Erleichterung, als um die Mittagszeit die Fahrzeugmotoren endlich stotternd zum Leben erwachten und der Fahrtwind meine Haare trocknete. Wir hatten unseren gesamten Wasservorrat aufgebraucht und ich war durstig und müde. Ich wollte nur schlafen, aber es gab keine Sitze auf der Ladefläche, also stützte ich mich mit den Unterarmen auf die Seitenwand und blickte nach draußen. Die Synagoge und mein ganzes bisheriges Leben verschwand in den Staubwolken, die die Lastwagenräder aufwirbelten.

Erika holte ihren Fotoapparat aus dem Rucksack und ein Halstuch aus ihrer Tasche. Sie schlug die Kamera in das Halstuch ein und zog den Stoff über der Linse etwas zurück.

»Bitte lächeln«, raunte sie.

Ich starrte meine Schwester an. »Nur weil sie unsere Taschen noch nicht durchsucht haben, heißt das nicht, dass sie es nicht noch tun werden.« Ich warf einen schnellen Blick auf die Kamera. »Sieh zu, dass du sie irgendwie loswirst.« Aber das tat sie nicht. Sie knipste Fotos von den Wachleuten und ihren Pistolen, von den Lastwagen hinter und denen vor uns.

»Erwischt!«, sagte sie, aber sie meinte nicht mich oder die Wachleute, sondern Hitler.

Unser Konvoi schlängelte sich durch die engen Gassen des Ghettos und passierte das Haupttor, vorbei am Rathaus und an meiner Schule, an der Bücherei und am Park.

Es war schon zwei Wochen her, dass ich die Brunnen, die zwiebelartigen Kuppeln und die bunten Glasfenster auf dem Hauptplatz von Debrecen gesehen hatte, und ich sehnte mich danach, von der Ladefläche zu springen und durch die Straßen zu rennen. Ich fragte mich, wie es wohl den Enten in den Stadtgärten erging. Niemand hatte mehr Brot übrig.

Die Hatvan-Straße war für einen Wochentag ungewöhnlich ruhig. Jene wenigen Leute, die in den Straßencafés saßen, starrten schweigend auf ihre Speisekarten oder eilten zurück in die Häuser, sobald wir an ihnen vorbeikamen. Unser Lastwagen polterte an einem bekannten cremefarbenen Haus vorüber.

»Leo!«, keuchte Vater.

Leo Bauer stand auf einem Balkon im zweiten Stock. Er starrte unseren Lastwagen an, aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Der alte Uhrmacher hatte fünfzehn Jahre lang für Vater gearbeitet, bis Mendels Uhrenfabrikation geschlossen worden war und Leo und alle anderen nichtjüdischen Angestellten gezwungen worden waren, ihre Arbeitsplätze aufzugeben. Die Regierung hatte versprochen, Leo anderswo unterzubringen, aber der alte Mann hatte das Angebot ausgeschlagen.

»Ich kenne diesen Mann!« Leo zeigte auf meinen Vater, aber die Wachmänner beachteten ihn gar nicht. »Ich kenne seine Familie. Sie sind anständige Leute. Sie haben nichts verbrochen.« Seine Stimme hallte über die Straße. Hinter halb zugezogenen Vorhängen und schiefen Fensterläden lugten die Nachbarn hervor, aber niemand trat auf den Balkon, um sich Leos Protest anzuschließen. Sein Gesicht fiel in sich zusammen. Er hob die Hand und winkte zum Abschied.

Einige Jungen, die auf der Straße Ball spielten, wichen zurück an den Bordstein, als unser Konvoi vorüberzog. Sie verkrochen sich nicht in den Hauseingängen oder wandten sich ab. Sie hoben den rechten Arm.

»Heil Hitler!«, riefen sie und rannten hinter den Lastwagen her. »Heil Hitler.«

Erika hielt sich an der Seitenwand fest und lehnte sich ganz weit vor. Ihre Augen blitzten zornig und ihre Wangen waren gerötet. Sie öffnete den Mund.

»Nein!« Ich packte ihren Arm. »Tu’s nicht. Sie werden uns erschießen.« Erika umklammerte die Seitenwand, ihre Knöchel waren weiß. Dann drehte sie sich wieder in Richtung der Jungen.

»Scheiß auf Hitler«, flüsterte sie. »Scheiß auf euch alle!« Sie ließ die Kante los und sank zu Boden.

Am frühen Nachmittag erreichten wir die Serly-Ziegelei vor den Toren der Stadt. Ich kletterte hinter meinem Vater von der Ladefläche des Lastwagens und folgte ihm durch das Tor. Wir waren nicht die Ersten hier. Es wimmelte von Menschen aus den umliegenden Dörfern und Weilern, die auf dem schmutzigen Boden bereits ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ihre Gesichter waren schmuddelig und ihre Kleider verdreckt. Sie sahen aus, als wären sie schon seit mehreren Tagen hier. Letztes Jahr hatte ich zusammen mit Vater und drei Freundinnen im Puszta-Wald unter offenem Sternenhimmel gezeltet. Für ein paar Tage würde ich auch jetzt draußen schlafen können. Ich blickte meinen Vater unsicher an.

»Ich weiß, auf den ersten Blick sieht es schlimm aus«, sagte er. »Aber wenn wir zusammenbleiben, ist alles in Ordnung.«

Erika öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ich warf ihr einen warnenden Blick zu und sie hielt sich zurück. Papa versuchte, sich selbst Mut zu machen.

Ich ließ den Blick über den Hof schweifen. Bestimmt waren es mehr als tausend Leute, die sich hier in der Ziegelei zusammendrängten, und es strömten immer mehr Menschen durchs Tor. Ich betrachtete die Familien, die unter freiem Himmel ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die Habseligkeiten aus ihren Koffern lagen rundherum verstreut. Unterwäsche flatterte am Stacheldrahtzaun in der warmen Brise. Ein alter Mann mit entblößtem Oberkörper beugte sich über einen dampfenden Kessel mit Wasser und wusch sich, seifte seinen schlaffen Bauch und die herabhängende Haut unter den Armen ein. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Ich will nach Hause, ich muss nach Hause. Der Mann fischte einen tropfenden Lumpen aus der Schüssel, lockerte seinen Gürtel und nestelte an seinem Reißverschluss. Ich senkte den Blick und starrte auf meine Füße, wollte nicht, dass der erste nackte Körper, den ich zu Gesicht bekam, alt, blass und schrumpelig war.

Wir bahnten uns einen Weg zwischen Bündeln, Taschen und Schlafsäcken hindurch und hielten dabei nach einem freien Platz Ausschau. Hier und dort sah ich bekannte Gesichter: mein Lehrer aus der sechsten Klasse, die Frau vom Postamt, die Ehefrau des Rabbis. Aber ich winkte nicht und grüßte auch niemanden.

Ich machte einen großen Schritt über eine alte Frau, die sich auf dem Boden zusammengerollt hatte, und folgte Vater. Wir kamen an einem Jungen vorbei, der über eine Metallschüssel die Zähne putzte, und einem Mann, der in sein Gebetbuch schluchzte.

»Lasst uns jetzt unser Lager aufschlagen«, sagte Vater. »Wenigstens sind wir hier etwas geschützt.« Er stellte unsere Taschen neben einem ausgedienten Brennofen ab.

Ich spähte in den Ofen. Überall auf dem Boden lagen Ziegelsteine, die Wände und das Dach waren zerbröckelt, aber es war Platz genug für uns vier, damit wir uns unter unseren Decken ausstrecken konnten.

Vater krempelte seine Hosenbeine hoch, kniete sich hin und begann, den Schutt beiseitezuräumen. Als der Boden schließlich frei war, zog er eine Decke aus seiner Tasche und breitete sie auf dem Beton aus.

»Da habt ihr Platz für eure Taschen«, sagte er, stand auf und klopfte sich den Staub ab. Ich versuchte zu lächeln, aber alles war viel zu traurig – unser verfallener Unterschlupf, das bittere Schweigen meiner Mutter, das gequälte Lächeln meines Vaters. Ich zog das Cis aus der Tasche und versteckte es unter meiner Decke. Ich hatte das Bedürfnis, frische Kleider anzuziehen, aber kaum einen Meter von uns entfernt saß ein Junge auf einer Decke. Er las ein Buch, aber sein Blick wanderte rastlos umher. Erika lächelte ihn an.

»Er hat einen guten Geschmack«, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie zog die Schleife aus ihrem geflochtenen Zopf und löste ihr Haar, sodass es ihr frei über die Schultern fiel. »Lass uns auf die Suche nach einer Dusche gehen. Meine Haare sind schmutzig.«

Wir fanden keine Dusche, nur ein Dutzend Toiletten in der hintersten Ecke des Hofes, vor denen sich eine Schlange gebildet hatte, die dreimal um die Toiletten-Baracke führte. Wir stellten uns an und warteten, während andere die Schlange verließen und stattdessen einen Baum oder einen Fels aufsuchten. Im Inneren der Baracke waren die Böden nass vom Urin und die Klos mit durchweichtem Papier verstopft. Es stank. Trotzdem war es besser, als draußen irgendwo in die Hocke zu gehen. Ich hielt mir die Nase zu und kauerte mich über die Schüssel.

Bei Anbruch der Dämmerung war ich am Verhungern. Mutter leerte einen Tiegel mit Hühnerfett in einen Topf, den Vater zu einem Feuer in der Mitte des...

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