Wenn du jetzt bei mir wärst - Eine Annäherung an Anne Frank

Wenn du jetzt bei mir wärst - Eine Annäherung an Anne Frank

von: Waldtraut Lewin

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2015

ISBN: 9783641153595

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 584 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Wenn du jetzt bei mir wärst - Eine Annäherung an Anne Frank



Die Züge der Niederländischen Bahn, der Nederlandse Spoorwegen, sind elegante, schnittige Gebilde mit spitzen Schnauzen in den Farben Blau und Gelb, sie sehen so blitzend sauber aus, als kämen sie gerade erst aus der Waschanlage – was vielleicht ja sogar stimmt.

Anne bewundert sie rückhaltlos.

»Keine Dampfloks! Kein Ruß und Dreck! Und so leise!«

Wir sitzen in einem komfortablen Großraumabteil; der Zug ist halb leer. Ich habe eine Tasche voller Bücher eingepackt, damit sich meine Freundin auf der Fahrt nicht langweilt, aber bislang sieht es nicht danach aus. Sie schaut aus dem Fenster und kommentiert, was sie sieht, mit Begeisterung.

Alleen und Bäche, saftige Wiesen mit Kuhherden, mal schwarzweiß, mal rehbraun, Schafe, Ziegen, Pferde, Bauerngehöfte mit Gänsen und Hühnern, der Hofhund davor …

Verständlich, ihre Faszination. Denn: Wann hat sie dergleichen zuletzt gesehen? Als sie zehn Jahre alt war, vielleicht. Dann verschwand sie, nach der Zeit im freien Amsterdam, hinter den Mauern des Hinterhauses.

Erst als wir die Grenze zu Deutschland passieren, als die offene Weite der holländischen Landschaft abgelöst wird von der zersiedelten, in kleine Teilchen gleichsam zerfallenden deutschen, lässt ihr Interesse für das Draußen nach.

Sie winkt den gerade herbeikommenden Servicewagen herbei, wir bestellen Kaffee, und dann lehnt sich zurück, bereit zu schwatzen.

Frankfurt scheint zunächst einmal ausgeblendet, das Thema Israel beherrscht weiter ihre Gedanken. Und Haile. Damit werde ich mich abfinden müssen.

Haile, der einen Pass besorgt, Haile, der ein Handy organisiert, Haile, der auch, wie ich nun erfahre, Geschichten zu erzählen weiß.

Denn: »Haile hat gute Bekannte in Tel Aviv.«

»Er hat Juden unter seinen Bekannten?«, frage ich misstrauisch. »Ist er nicht Äthiopier?« Anne, stolz auf frisch erworbenes Wissen, erklärt mir lebhaft: »Nein, er stammt aus dem Nachbarland. Das heißt …« Sie kramt in ihrem Gedächtnis, sagt dann strahlend: »Das heißt Eritrea. Und sein Volk sind die Tigrai. Die Tigrai sind Christen. Aber in Äthiopien, da gab es Juden. Die sind jetzt in Israel. Und mit denen ist er bekannt.

Das ist eine geheimnisvolle und aufregende Sache. Es sind die Nachkommen des biblischen Königs Salomo und einer afrikanischen Königin, sie hieß Makeda. Jedenfalls behaupten sie das von sich. Sie nennen sich Beta Israel, Kinder Israels. Die Äthiopier nennen sie Falascha. Hast du noch nie davon gehört?«

Ich erinnere mich dunkel. »Gab es da nicht einmal eine Luftbrücke von Äthiopien nach Israel?«

»Eine Luftbrücke? Was ist eine Luftbrücke?«

Ja, woher soll sie das wissen. Ich mühe mich um einen Erklärungsversuch. »Um die Versorgung einer Stadt zu sichern, die man auf dem Landweg nicht erreichen kann, oder um Menschen aus einem Krisengebiet herauszuholen, setzt man Flugzeuge ein, viele Flugzeuge, die auf der gleichen Strecke in kurzen Abständen nacheinander fliegen, sodass sie wie eine Brücke sind, auf der sich Güter oder Leute bewegen können.«

Sie begreift sofort. »Also das Gegenteil zu einem Bombergeschwader! Friedensflugzeuge!« Ihre Augen leuchten.

Jetzt fällt es mir wieder ein. »Es wird zwei oder drei Jahrzehnte her sein, als der Judenstaat so eine Luftbrücke nach Äthiopien einrichtete, um jüdische Äthiopier zu retten, glaube ich. Es gab eine Hungersnot im Land. Und man wollte ihnen verbieten, nach ihrem Glauben zu leben. Die Beta Israel hatten um Hilfe gebeten.«

»Die Flugzeuge, das waren die Boten des Himmels! So hat Haile sie genannt. Diese Juden lebten in einer Wüste, so habe ich das verstanden. Sie hatten dort ihre Synagogen und hielten die strengen Regeln ein, was man als Jude essen darf und was nicht. Diese Menschen, die kannten nichts von der Zivilisation. Kein Auto, und erst recht keinen Flieger. Aber sie wussten, dass es einen Judenstaat gab.«

»Was hat dir Haile noch erzählt?«

»Vor über hundert Jahren, hat er gesagt, hat die oberste jüdische Glaubensbehörde …«

»… das Rabbinat!«

»Ja, hat das Rabbinat sie als Juden anerkannt. Als einen verlorenen Stamm. Was ist das mit den Stämmen, Corelli?«

»Das waren die Nachkommen der Söhne des Erzvaters Abraham aus der Bibel. Und einige der Stämme gingen verloren, welche, das habe ich vergessen.«

»Du weißt aber so viel! Ja, es war der Stamm Dan, von dem diese Beta Israel herkommen sollen. Und so hat man sie denn ins Land geholt. Mit der … wie sagtest du? Mit der Luftbrücke.«

Haile scheint erst einmal vergessen. Wobei es mich denn doch wundert, dass ein junger Mann aus Eritrea Beziehungen zu ehemaligen Äthiopiern hat. Soviel ich weiß, sind die beiden Länder »feindliche Brüder« …

Anne ist aufgesprungen, steht im Gang, ihren Kaffeebecher in Händen. Ihre Augen wirken dunkel, so groß sind ihre Pupillen. »Ich sehe es vor mir! Sie leben wie im Mittelalter, diese Beta Israel, und dann kommen die Flugzeuge. Die Menschen sterben vor Angst, meinst du nicht?«

»Ich glaube schon.«

»Ich muss so eine Geschichte schreiben. Ich denke mir ein Mädchen … nein, lieber einen Jungen. Er kann ein bisschen Englisch. Vielleicht war er mal auf einer christlichen Missionsschule. Er ist ein kluger und mutiger Junge. Er …«

Sie setzt sich wieder, stellt den Becher beiseite.

»Hast du Papier? Einen Stift?«

Ich greife in meine Tasche, ziehe das ledergebundene Büchlein hervor, in das ich mir Stichworte zu Themen notiere, wenn ich unterwegs bin. (Es ist noch nicht einmal halb voll, meistens arbeite ich gleich mit dem Laptop, ohne handschriftlichen Vorlauf.) Und einen Kugelschreiber finde ich auch.

»Genügt dir das?«

Verzückt betrachtet sie das Buch, blättert darin, streichelt die leeren Seiten.

»Was für ein wundervolles Papier das ist! Weich wie Seide! So etwas hatte ich dann gar nicht mehr, damals. Als mein Tagebuch voll war, hat mir Miep ja die alten Kontobücher aus dem Büro gebracht, da konnte ich die Rückseite vollschreiben. Das hier – das ist einfach wundervoll! Und dieser Stift, das ist aber kein Füller, nicht wahr?«

Ich erkläre es ihr.

»Gut. Du kannst ja etwas lesen, oder?« Ihre Stimme wird tiefer, gleicht noch einmal mehr der Stimme jener Schauspielerin, die sie damals verkörperte, auf der Bühne in Berlin. Ihr Gesicht nimmt den Ausdruck äußerster Konzentration an, die Stirn gerunzelt, der Blick ins Nichts gerichtet. Dann setzt sie den Stift an.

Anne Frank schreibt.

Später lese ich die Geschichte.

Die Boten des Himmels

Ich heiße Joab und hüte die Ziege. Ich kümmere mich auch um meine kleinen Geschwister, denn mein Vater ist an einer Krankheit gestorben und meine Mutter ist sehr schwach.

Wir sind in die Wüste geflohen vor der Gewalt böser Menschen und wir waren am Verschmachten. Ich wusste nicht, wie lange meine Mutter noch durchhalten würde.

Und dann geschah das Wunder.

Die Boten des Himmels kamen!

Auf ihren weißen Schwingen ließen sie sich mit großem Getöse aus den Wolken herab zu uns, die wir uns schon aufgegeben hatten.

Nun standen sie zwischen den Sanddünen, unbeweglich, glitzernd in der heißen Luft. So hatten wir uns die Engel Des Herrn nicht vorgestellt.

Männer in merkwürdigen gelbgrauen Gewändern entstiegen ihren Bäuchen.

Sie begannen mit uns zu reden, in einer Sprache, die entfernt an die unsere erinnerte. Wir wussten zunächst nicht, was sie wollten, aber sie brachten uns Brot und Früchte, sie brachten uns Wasser und Milch für die Kinder. Sie versicherten uns, diese Lebensmittel seien gut für uns, nach unseren Speisegesetzen. Wir aßen und tranken.

Ich hatte bei einem Missionar der Christen ein wenig Englisch gelernt und konnte mich schließlich mit ihnen verständigen und herausfinden, was sie wollten.

Und wir erfuhren: Sie wollten uns heimholen! Ins Gelobte Land. Ins Land, wo Milch und Honig fließen. Für uns alle sei dort das Haus bereitet und wüchse ein eigener Feigenbaum, in dessen Schatten wir sitzen können.

Die Boten versicherten uns auch, dass in jenem Land alle den Namen Des Herrn in unserer Weise verehren würden.

Wir weinten und lachten. Wir umarmten einander und die fremden Männer. Wir sollten gerettet sein! Auf Flügeln würden wir davongetragen!

Aber dann wurden wir aufgefordert, in die Bäuche der weißen Riesenvögel einzusteigen, die wir für Engel gehalten hatten.

Da packte uns der heilige Schrecken. Wir sollten also, wie Jona im Bauch des Walfischs, von diesen Ungetümen verschluckt werden! Vielleicht würden sie uns gar nicht wieder ausspeien, und wir müssten darin verderben und sterben?

Vielleicht war das doch keine Rettung, sondern ein Fallstrick des Bösen?

Einige wollten weglaufen. Aber weit kam keiner, wir waren zu schwach durch die lange Wanderung. Manche warfen sich zu Boden und flehten Den Ewigen um einen schnellen Tod an, ehe sie sich in den Rachen dieser Tiere begeben...

Kategorien

Service

Info/Kontakt