Aggression in der Pflege - Umgangsstrategien für Pflegebedürftige und Pflegepersonal

Aggression in der Pflege - Umgangsstrategien für Pflegebedürftige und Pflegepersonal

von: Theo Kienzle, Barbara Paul-Ettlinger

Kohlhammer Verlag, 2013

ISBN: 9783170243842

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 2779 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Aggression in der Pflege - Umgangsstrategien für Pflegebedürftige und Pflegepersonal



3 Reaktion auf aggressives Verhalten


Wenn die Pflegeperson in der Lage ist, aggressives Verhalten von ihr Anvertrauten differenziert einzuschätzen, kann sie auch differenziert und problembezogen antworten bzw. reagieren (s. Checkliste zur Erklärung S. 40).

Warnung

Keinesfalls sollte die Pflegeperson der Tendenz erliegen, Aggressionen als auch tatsächlich gegen die eigene Person gerichtete Kränkung aufzufassen und mit Gegenaggressionen zu reagieren. Neben dieser allgemeinen Forderung scheint es nötig, sich dem „Umgang mit Aggressionen“ auf vier unterschiedlichen Ebenen zu nähern:

  1. mögliche Reaktionsweisen in der akuten Situation,
  2. Erklärungsversuche des Verhaltens durch Reflexion der Situation,
  3. institutionelle Bedingungen,
  4. Persönlichkeit der Pflegekraft.

3.1 Reaktionsmöglichkeiten in der akuten Situation


Situationen, in denen sich ein Bewohner oder Patient aggressiv verhält, sind oft für die Pflegeperson nicht vorhersehbar. Deshalb sollte man sich bewusst darüber sein, dass solche Aggressionen jederzeit vorkommen können. Es ist häufig der Fall, dass auf ein korrektes Verhalten des Pflegepersonals eine nicht angemessene aggressive Reaktion erfolgt, die in keinem Zusammenhang mit dem Verhalten der Pflegeperson steht. Es gilt dann, die angemessene innere Einstellung hierzu zu finden. Aggressives Verhalten ist eine (wenn auch in der Regel unangemessene) Ausdrucksform menschlichen Verhaltens.

Beispiel:

Als eine Altenpflegerin einem Bewohner das Essen reichen will, schlägt er ihr den Löffel aus der Hand. Die Pflegekraft verlässt daraufhin das Zimmer. Als sie nach wenigen Minuten wiederkommt, entschuldigt sich der Bewohner. Sie unterlag einer Blitzableiterfunktion: Die Altenpflegerin hatte die Wut auf seine Situation, auf seine Hilflosigkeit, abbekommen.

Hinweis

Ebenso erscheint es ratsam, eine Einschätzung möglicher Aggressionen in Form einer Gefährlichkeitscheckliste vorzunehmen, um sich auf aggressives Verhalten einstellen zu können.

Die Gefährlichkeitscheckliste (gekürzt) (nach Breakwell 1998)

3.1.1 Handlungsablauf unterbrechen

Dem Betroffenen mit fester, ruhiger Stimme, unterlegt durch Mimik und Gestik, signalisieren, dass sein Verhalten unangemessen ist.

Beispiel:

Bei einem drohenden Angriff hält die Krankenschwester dem sich nähernden Patienten beispielsweise ein „Hören Sie auf!“ oder „Stop!“ entgegen. Worte, Mimik, Gestik und veränderte Stimmlage irritieren den Patienten, und er wird dadurch vielleicht innehalten.

3.1.2 Gründe für das Verhalten in der Situation klären

Beispiel:

Ein Patient ruft einem Krankenpfleger laut zu: „Kommen Sie jetzt endlich her!“ Die richtige Reaktion des Pflegers wäre in dieser Situation, dass er zum Patienten geht und fragt: „Warum schreien Sie mich so an?“

Hierbei ist es wichtig, dem Gegenüber deutlich zu machen, dass man nicht ihn, sondern, das aktuelle Verhalten ablehnt. Distanz schaffen heißt nicht, den anderen abzuwerten.

Warnung

Die stets verständnisvolle Pflegekraft läuft Gefahr, das aggressive Verhalten zu verstärken, denn der Betreute erlebt diese Handlungsweise als Zuwendung (Kap. 2.3.2).

3.1.3 Beruhigen

Dem Bewohner bzw. Patient verdeutlichen, dass die Pflegehandlung notwendig, wohlmeinend und nicht verletzend gemeint war, um ihn dadurch zu beruhigen.

Beispiel:

Einem blinden Bewohner die Zeit geben, die Pflegeperson durch Hören (z.B. Anklopfen und Sprechen) oder durch Berühren (z.B. die Hände reichen und befühlen lassen) wahrzunehmen.

3.1.4 „Aus dem Weg gehen“

Manchmal wird es notwendig sein, die negativ aufgeladene Interaktion zu unterbrechen und sich aus dem Fokus der Wut des Betreuten zu entfernen.

Beispiel:

Wenn ein Bewohner oder Patient in seiner Erregung so gefangen ist, dass der Pflegende ihn nicht erreicht, ist es sinnvoll, das Zimmer zu verlassen.

3.1.5 Hilfe holen

Ist für den Betreuer die Bedrohung (psychisch oder physisch) durch den Bewohner bzw. Patienten zu groß und/oder ist Gefahr im Verzug (z.B. durch gefährliche Gegenstände), ist es angemessen, Hilfe bei Kollegen zu holen.

Beispiel:

Als eine Heilerziehungspflegerin von einem Heimbewohner mit dem Küchenmesser bedroht wird, verlässt sie sofort die Wohngruppe, um Hilfe von der Nachbargruppe zu holen.

Ebenso kann möglicherweise einer Eskalation des Geschehens entgegengewirkt werden, indem eine andere Pflegekraft die Pflegehandlung fortsetzt.

Beispiel:

Wenn sich das aggressive Verhalten direkt gegen eine bestimmte Person richtet („Sie sind ein Spion!“), ist es sinnvoll, dass eine Kollegin oder ein Kollege die Pflegetätigkeit im weiteren Verlauf verrichtet.

3.1.6 Ablenken

Eine aggressive Handlungskette kann von der Pflegeperson unterbrochen werden, indem sie den Bewohner bzw. Patienten abzulenken versucht bzw. seine aggressive Energie in Bewegung oder andere Handlungen umzuleiten versucht.

Beispiele:

1) Eine Bewohnerin verweigert das Mittagessen. Ein Altenpfleger, der ihr das Essen reichen soll, fragt die Bewohnerin: „Haben Sie früher gerne gekocht?“ Daraufhin erzählt sie ihm ausführlich über ihre Familie und deren Essgewohnheiten, während der Altenpfleger ihr das Essen reicht.

2) Bei autoaggressivem Verhalten (z.B. Kopf gegen die Wand schlagen) kann ein Heilerziehungspfleger einen Bewohner an die Hand nehmen und mit ihm umhergehen.

3) Bei ständigem Schreien von Bewohnern kann ein Heilerziehungspfleger durch gemeinsames Schreien eine Ventilfunktion schaffen.

Warnung

Die Gefahr beim Ablenken besteht darin, dass gerade das Ablenken zu einer Verstärkung des negativen Verhaltens führen kann, da es als Zuwendungsgewinn erlebt wird.

3.1.7 Ignorieren des aggressiven Verhaltens

So zu tun, als ob nichts gewesen wäre und die Pflegehandlung dementsprechend fortzusetzen, kann zur Verstärkung des aggressiven Verhaltens führen. Dem Bewohner bzw. Patienten wird auf diese Weise nicht bewusst gemacht, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist. Schweigen heißt einerseits Akzeptanz des Verhaltens, andererseits signalisiert es ein Nicht-Ernst-Nehmen des Betroffenen und kann zu einer Steigerung des aggressiven Verhaltens führen.

Beispiel:

Ein Bewohner greift nach der Hand einer Pflegekraft und reißt daran. Falsch wäre es, wortlos mit der Grundpflege fortzufahren. Korrekt wäre, den Bewohner stattdessen auf sein negatives Verhalten „aufmerksam“ zu machen.

3.1.8 Verharmlosen und/oder Verniedlichen

Verharmlosen und/oder Verniedlichen kann ebenfalls zu einer Aggressionssteigerung führen. Der Patient bzw. Bewohner fühlt sich nicht ernstgenommen oder sieht sein Verhalten als angemessen an und beginnt, die Situation als „Spielchen“ aufzufassen: eine perfekte Gelegenheit, Zuwendung vom Pflegenden zu erhalten.

Beispiele:

1) Ein Heilerziehungspfleger sagt zu einem Bewohner: „Jetzt nimm doch endlich Deine Medizin, Du bist doch mein Liebling!“ Der Bewohner lässt den Heilerziehungspfleger daraufhin einige Minuten zappeln.

2) Eine Heimbewohnerin weigert sich, morgens aufzustehen, weil sie starke Kopfschmerzen hat. Eine Altenpflegerin reagiert darauf mit den Worten: „Stellen Sie sich doch nicht so an!“ und wundert sich, dass sie eine Ohrfeige bekommt.

3.1.9 Drohen und Bestrafen

Dieses Verhalten kann zu einer kurzfristigen Änderung bzw. zur Unterlassen des aggressiven Verhaltens führen – aber es erzeugt auch Angst. Diese Angst wiederum kann erneut aggressives Verhalten als Abwehrreaktion auslösen (S. 27).

Beispiel:

Ein Patient will nicht essen. Pflegekraft: „Wenn Sie nicht essen, dürfen Sie auch nicht aufstehen!“ Als Reaktion kotet der Patient ein.

Hinweis

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Einsatz von Medikamenten und freiheitsentziehenden Maßnahmen nur in sogenannten Notfallsituationen angemessen und vertretbar ist (II. Rechtlicher Teil).

3.2 Reflexion aggressiven Verhaltens


3.2.1 Allgemeines

Wird man in der Pflege mit aggressiven Verhaltensweisen von Bewohnern bzw. Patienten konfrontiert, ist der Betroffene zunächst erschrocken, erstaunt, vielleicht auch verletzt. Nachdem die Situation nun gemeistert bzw. darauf reagiert wurde, ist es wichtig, genauer hinzusehen, was der oder die Auslöser für das Verhalten gewesen sein könnten. Wenn die Pflegekraft eine mögliche Erklärung für das Verhalten findet, kann sie demnächst eine erneute Aggression bereits im Vorfeld vermeiden oder im Nachhinein das Verhalten des Bewohners oder Patienten nachvollziehen und wieder unvoreingenommen auf die betreffende Person zugehen. Es soll hierbei nicht um Schuldzuweisungen oder Rechtfertigungen gehen, sondern um das Verstehen von Verhaltensweisen, um Klärung der Situation auf der Basis...

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