Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) - Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer
von: Vera Bernard-Opitz
Kohlhammer Verlag, 2014
ISBN: 9783170269514
Sprache: Deutsch
297 Seiten, Download: 7002 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
Mehr zum Inhalt
Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) - Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer
1 Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
- 1.1 Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
- 1.2 Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?
- 1.2.1 Besteht eine autistische Störung?
- 1.2.2 Auf welchem Niveau stehen Entwicklungsstand und Intelligenz?
- 1.2.3 Welche zusätzlichen psychiatrischen und neurologischen Probleme bestehen bei Kindern mit ASS?
- 1.3 Welche frühen Anzeichen für ASS gibt es?
- 1.4 Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?
- 1.4.1 Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen
- 1.5 Zusammenfassung
1.1 Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
Seit der Erstbeschreibung des frühkindlichen Autismus durch Leo Kanner 1943 haben sich die diagnostischen und therapeutischen Ansätze beim Autismus stark geändert (Kanner, 1943; Asperger, 1944; Lovaas, 1968; Lovaas & McEachin, 1993; Lord & Schopler, 1994; Maurice et al., 1996; Prizant et al., 1997; Koegel et al., 1998; Aspy & Grossmann, 2007; Bölte, 2009). Autismus wird derzeit als schwerwiegende Störung angesehen, die weite Bereiche der kindlichen Entwicklung betrifft. Der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« (Abk.: ASS) verdeutlicht, dass ein Kontinuum von Symptomen und Schweregraden zu diesem Krankheitsbild gehört (Wing & Gould, 1979; Wing, 1988; NIMH, 2004; Kaufmann, 2012).
ASS sind bei verschiedenen Kindern unterschiedlich ausgeprägt und verändern sich oft bei ein und demselben Kind im Laufe seiner Entwicklung. Es gibt kein einziges Verhalten, das immer auftritt und keines, das Kinder automatisch von einer Autismusdiagnose ausschließt. Andererseits gibt es klare Gemeinsamkeiten, die bei den meisten Personen mit ASS gefunden werden wie z. B. bestimmte soziale Auffälligkeiten (Lord & McGee, 2001). Die Schwere der Symptome sowie das Profil der Fähigkeiten variiert von erheblicher Beeinträchtigung bis zu einem fast normalen Verhalten. Wahrnehmungsstörungen, Kommunikationsauffälligkeiten, Defizite im Sozialverhalten sowie das Intelligenzniveau zeigen in der Gruppe der Betroffenen eine erhebliche Bandbreite von sehr subtilen Störungen bis zu erheblicher Beeinträchtigung.
Wie der Begriff »Haus« eine ganze Vielfalt von Gebäuden mit einschließt (z. B. Hochhaus, Bungalow, Villa, Hütte), so umfasst der Begriff »Autismus« viele Varianten und Facetten. Ein Mensch mit Autismus kann ein selbstständig lebender Arbeiter, Angestellter, freischaffender Künstler oder Akademiker sein, er kann aber auch ein Mensch sein, der nicht sprechen kann, nie gelernt hat, sich selbst zu versorgen und der lebenslang Hilfe benötigt. Andererseits haben Menschen mit Autismus auch eine Reihe gemeinsamer Merkmale. Im Folgenden wird versucht, diese Gemeinsamkeiten aufzuzeigen ebenso wie Interventionen, die wie ein Schlüssel zu einer ganz bestimmten Tür bzw. einer ganz speziellen Verhaltensauffälligkeit passen.
Autismus-Spektrum-Störungen umfassen verschiedene Störungsbilder
• Frühkindlicher Autismus
• Asperger-Syndrom
• Rett-Syndrom
• Desintegrationsstörungen
• Unspezifische Entwicklungsprobleme
Während man im deutschsprachigen Bereich Autismus unter »tiefgreifende Entwicklungsstörungen« einordnet (ICD-10, vgl. Dilling & Freyberger, 1999), hat sich im anglo-amerikanischen Raum der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« durchgesetzt. Unter ASS werden neben dem frühkindlichen Autismus das Asperger-Syndrom, das Rett-Syndrom, die Desintegrationsstörung und unspezifische Entwicklungsprobleme zusammengefasst (DSM-IV-TR, vgl. APA, 1994; NIMH, 2004, http://www.nimh.nih.gov/publicat/autism.cfm). Als typische Variante von ASS gilt der frühkindliche Autismus, der auch als »Kanner-Syndrom« bezeichnet wird. Eine leichtere Variante ist das Asperger-Syndrom, dargestellt u. a. 1988 im bekannten Film »Rain Man«. Kinder mit Rett-Syndrom und mit Desintegrationsstörungen sind sehr selten und werden daher meist extra erwähnt. Im vorliegenden Buch stehen ASS, wie allgemein üblich, für den frühkindlichen Autismus sowie das Asperger-Syndrom. Die neue DSM-V-Klassifikation betont das Kontinuum der Autismusstörung und verzichtet auf die Bezeichnung »Asperger Syndrom«. Da dieses derzeit jedoch diskutiert wird und ICD-10 (International Classification of Disease, www.autismus-online.de) im deutschsprachigen Bereich dominiert, wird im Folgenden weiter vom unteren Bereich der Autismusstörung als »Kanner-Syndrom« und dem oberen Ende als »Asperger-Syndrom « oder »hochfunktionalem Autismus« (High-Functioning-Autismus) gesprochen (Wing, Gould & Gillberg, 2011).
Die aufgezeigten Methoden und Übungen sind zum Teil auch für Kinder mit anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen geeignet, müssen jedoch abgewandelt werden. Für die Planung von Therapien ist jedoch im Allgemeinen nicht die diagnostische Zuordnung wichtig, sondern das individuelle Kind mit seinen Fähigkeiten und Problemen.
Eine umfassende Diagnose durch spezialisierte Psychologen, Psychiater oder Neurologen ist notwendig, um das Krankheitsbild von ähnlichen Störungen abzugrenzen. Hierzu gehören zum Beispiel Hospitalismus, Enzephalitis, frühkindliche Schizophrenie, Lesch-Nyhan-Syndrom, Angelman-Syndrom, geistige Behinderung oder Wahrnehmungsstörungen (im Hinblick auf die ausführliche Differentialdiagnostik siehe Remschmidt, 2000; Klicpera, Bormann-Kischkel & Gasteiger-Klicpera, 2001 oder auch die ICD-10 Klassifikation unter www.autismus-online.de).
1.2 Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?
Für das diagnostische Vorgehen ist bei Verdacht auf Vorliegen von ASS folgende Übersicht hilfreich.
Diagnostik bei Verdacht auf ASS
Besteht eine autistische Störung?
• Auffälligkeiten im Sozialverhalten
• Auffälligkeiten in der Kommunikation und Sprache
• Auffälligkeiten in Stereotypien und Wunsch nach Gleichem
Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?
• Normal oder verzögert
• Spezielle Defizite und Fähigkeiten
• Intelligenzprofil
Welche Zusatzprobleme bestehen?
• Organische Auffälligkeiten, z. B. Hören und Sehen
• Schlafprobleme, Essensprobleme o. ä.
• Aufmerksamkeitsstörungen
• Sensorische und motorische Auffälligkeiten
• Emotionale und kognitive Probleme
Welche frühen Anzeichen gibt es?
• Warnzeichen
• Prognose
• Fähigkeitsorientiertes Vorgehen
Wie ist das soziale Umfeld?
• Familiengeschichte
• Geschwisterposition
• Erziehungsstil
1.2.1 Besteht eine autistische Störung?
Die Diagnose einer autistischen Behinderung wird nach neustem Standard durch Beobachtung und Fragebogenerhebung durchgeführt. So gibt die Beobachtungs- und Interviewliste für Autismus bei Kleinkinder, die sogenannte CHAT-Liste (Checklist for Autism in Toddlers) und ihre Variationen, bereits erste Hinweise auf autistische Symptome im Alter von 18 bis 24 Monaten (Q-CHAT, Allison et al., 2008; M-CHAT-Modified, Robins et al., 2014). Als grobes Erfassungsinstrument kann sie auch von weniger spezialisierten Erziehern, Krankenschwestern oder Kinderärzten eingesetzt werden. Eine deutsche Übersetzung liegt vor (Bölte & Poustka, 2004). Anhand von fünf Verhaltensweisen kann mit großer Wahrscheinlichkeit eine autistische Behinderung festgestellt werden. Hierzu gehören die folgenden kritischen Verhaltensweisen.
Indikatoren für autistische Beeinträchtigung bei Kleinkindern (CHAT)
Fragen an die Eltern
• Beschäftigt sich Ihr Kind mit imaginativem Spiel? (z. B.: Tut es so, als ob es mit Puppengeschirr Tee zubereitet?)
• Zeigt Ihr Kind jemals auf einen Gegenstand, um Sie auf etwas Interessantes hinzuweisen? (sog. protodeklaratives...