Aber der Himmel - grandios
von: Dalia Grinkevi?i?t?
Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2014
ISBN: 9783957571106
Sprache: Deutsch
206 Seiten, Download: 1895 KB
Format: EPUB
Jasinskienė hatte inzwischen bemerkt, dass ihr das Getreide, das sie noch im Altai-Gebiet gestohlen hatte, heimlich entwendet worden war. Sie entzündete einen Holzspan und sah, dass einige Körner in der Nähe von Atkočaitienės Pritsche lagen. Jasinskienė nahm eine Rute und schlug Atkočaitienė mit aller Kraft auf Gesicht und Hände. Die alte Frau fiel auf die Knie, schlug sich auf die Brust und schwor, sie habe das Getreide nicht gestohlen. Die unerbittlichen Schläge marterten weiter ihren Rücken. Wir rissen Jasinskienė die Rute aus der Hand. Nachdem Atkočaitienė gestanden hatte, dass sie die Diebin des Getreides gewesen war, vergab ihr Jasinkienė – sie küsste sogar das verlauste Gesicht der Greisin.
Jetzt kommt die Leichen-Brigade unter der Leitung von Abromaitis, und Atkočaitienė wird mit den Füßen voran aus unserer Baracke herausgetragen. Žukienė nimmt ihre Kerzen zurück, weist mir den Liegeplatz von Atkočaitienė zu. Ich habe Glück gehabt.
Ich sitze neben Krikštanis vor dem Ofen. »Dalia, du bist ungeheuer stark, ja, wie eine Verrückte kämpfst du um dein Leben«, sagt er zu mir. Diese Anerkennung lässt mein Herz kräftiger schlagen. Totoraitytė klettert von der Pritsche oben runter, dreht uns ihren Hintern zu, setzt sich auf den Eimer. Sie hat Durchfall – zehnmal am Tag setzt sie sich auf den Eimer und zeigt uns ihren Hintern. Der Eimer ist voll, er stinkt, ihre Mutter kann ihn nicht aus der Baracke heraustragen, weil die Tür zugeschneit ist. Also kippt sie den ganzen fürchterlich stinkenden Inhalt auf einen Schneehaufen mitten in der Baracke. Wir können das Wasser nicht von draußen holen, daher schaufeln wir den Schnee aus der Barackenmitte, lassen es in der Konservendose schmilzen und trinken es.
Dalia mit ihrem Bruder Juozas. 30er-Jahre
Die Hälfte der Bretter aus dem Lagerhaus ist verschwunden. Alle stehlen, weil es rundherum kein Stück Holz mehr gibt. Mindestens zehn Kilometer müssten wir gehen, wollten wir das Holz selber anschaffen – dafür haben wir keine Kraft mehr. Die Fässer flackern, die Bretter brennen – vor dem Feuer krempeln wir unsere Hosen hoch und reinigen die vereiterten Wunden, fangen die Läuse. Die Läuse lieben die Wunden, es juckt unglaublich. Unsere Wunden sind offen, schon seit Monaten heilen sie nicht. Der eingetrocknete Stoff unserer Hosen muss jeden Abend aus ihnen entfernt werden. Das tut weh, aber es geht.
Es ist hell in der Baracke. Fast jeder hat seinen eigenen brennenden Holzspan oder eine Kerze und sucht sich nach Läusen ab. Diese Arbeit hat etwas moralisch Befriedigendes: Du, Biest, du beißt mich noch, na, warte mal, traksch, ich werde dich zwischen meinen Nägeln zerquetschen und basta. Es ist leicht, die Läuse im Hemd zu fangen, in einer Strickjacke ist das schwieriger, aber der Fang verschafft dann doppelt so große Befriedigung. Mittlerweile haben wir uns erstaunliche Fähigkeiten auf diesem Gebiet angeeignet – wir fangen die Läuse nachts, werfen sie im Dunkeln in Gläser voller Wasser. Morgens leeren wir die Gläser durch das Türloch. Jasinskienė hat eine einfachere Methode entwickelt: Jede erwischte Laus zerbeißt sie auf der Stelle und spuckt sie aus. Grockis liegt Tag und Nacht an ihrer Seite, er ist auch krank und erzählt, dass er ununterbrochen Jasinskienė mit den Zähnen klappern hört. Das geht ihm langsam auf die Nerven. Jasinskienė leidet an Skorbut, sie kann ihre Beine nicht mehr ausstrecken und wenn der Mensch erst einmal liegt, wird er von den Läusen regelrecht aufgefressen. Als wir noch im Altai-Gebiet waren, war sie die stärkste Frau von uns – sie trug hundert Kilo schwere Säcke. Jetzt lebt sie von der Brotkarte ihrer zweijährigen Tochter Dalytė. Das Getreide, für das sie Atkočaitienė geschlagen hat, ist alle. Nun muss sie gemeinsam mit ihrer Tochter von sechshundert Gramm Brot leben. Die macht sich häufig in die Hose. Jasinskienė hatte mich einmal gebeten, die Strickjacke und die Hose ihrer Tochter aufzuhängen. Ich habe das getan, irgendjemand hat die Sachen aber geklaut. Die Frau weinte vor Hilflosigkeit. Sie kann nicht von der Pritsche runter, macht sich die Hosen voll, zittert in ihren nassen, übel riechenden Lumpen, wärmt sich an dem zierlichen Körper der kleinen Dalytė. Grockis liegt neben ihr, auch er leidet an Durchfall mit dem Unterschied, dass er noch genug Kraft hat, nach unten zu gehen, auf den Topf. Juozas und Oldas liegen da mit abgefrorenen Füßen. In unserer Baracke sind nur wenige, die noch laufen können. Eine bin ich.
Mutter ist krank geworden. Ihr Gesicht ist geschwollen, der ganze Kopf. Sie wiegt nicht mehr als 30 Kilogramm und sieht aus wie ein junges Mädchen. Ihre Rippen stechen hervor, die Beine sind dürr – nur noch Haut und Knochen. Ich sehe sie an und denke, ich würde es sogar schaffen, sie mit meinen eigenen Händen herauszutragen. Sie glüht wie ein Ofen. Fieber. Sie sieht nichts mehr, weil ihre Augen zugeschwollen sind. Juozas und ich schauen sie an, eine tiefe dunkle Angst ergreift uns beide. Wir umarmen uns und weinen.
»Dalia, wenn Mama stirbt, werde ich mich mit diesem Messer umbringen«, sagt mein Bruder auf dem Bauch liegend. Ich spüre, wie sein dürrer, geschwächter Körper im Weinkrampf zuckt.
Mutter ist schon bewusstlos. Ich bete zum ersten Mal in diesen Monaten des Grauens.
»Gott, lass mir meine Mutter, lass mir meine Mutter«, sage ich, während ich ihren reglosen Körper umarme, ihre Rippen, ihr schrecklich geschwollenes, formloses, rotes Gesicht.
Jemand gräbt sich zu unserer Höhle durch, kriecht hinein und ruft uns laut zu, dass das Gericht tagt. Ich werde dort erwartet. Ich krieche mit Žukienė heraus, die als Zeugin mitkommen muss.
»Leb wohl, Mama, leb wohl, Mami«, zum Abschied küsse ich ihren reglosen Körper, das Gesicht, Arme, Beine.
Juozas und ich – wir wissen, was los ist. Unsere Mutter hat freiwillig den Hungertod gewählt, sie hat ihre Brotration unbemerkt an uns verteilt, und wir, wie hungrige Tiere, erfroren und ausgelaugt von der schweren Arbeit, haben alles verschlungen, ohne zu fragen: Mutter, hast du auch schon gegessen? Wir haben unsere Mutter umgebracht! Leb wohl, Mama, wenn ich vom Prozess zurückkomme, bist du wahrscheinlich schon tot und kalt. Es ist besser so, du wirst wenigstens nicht mehr erleben müssen, wie deine Tochter ins Gefängnis kommt. Leb wohl, Mama! Žukienė zog mich von dem lauwarmen Körper meiner Mutter weg.
Ich sitze auf einer Anklagebank, neben mir fünf weitere Angeklagte. Wir werden beschuldigt, Bretter aus dem Lagerhaus gestohlen zu haben. Uns gegenüber, am Tisch, der mit rotem Stoff bedeckt ist und auf dem fünf Kerzen brennen, sitzt der Richter – ein achtzehnjähriger Jakute. Gewöhnlich ist er für Revisionen zuständig, heute aber hat die Partei ihm die Richterrolle übertragen. Er sitzt zwischen zwei Sekretärinnen, die jedes Wort protokollieren. Eine ist Lehrerin für Zeichnen, die Komsomolzin Nowikowa aus Leningrad, die andere – die Komsomolzin Mironowa. Die zweite bekommt gelegentlich tagsüber oder nachts Besuch – von einigen Vorgesetzten. Der Gerichtssaal ist in einer leeren Nachbarsbaracke eingerichtet, am Tag ist hier eine Näherei untergebracht. Zwei rote Öfen strahlen Wärme ab. In meinem Kopf – Chaos. Vor meinen Augen schwanken unzusammenhängende Bilder, Gesichter. Ich will schlafen. Meine Augen fallen zu. Wie durch einen Traum höre ich die Stimme von Riekus:
»Nein, das ist nicht wahr, Genosse Richter, ich habe an jenem Tag keine Bretter gestohlen, ich habe an jenem Tag nur einen Sarg gefertigt, danach habe ich das Restholz einfach mitgenommen.«
Warum verteidigt er sich? Warum lügt er, der Dummkopf, ist das nicht egal, wo man stirbt – im Gefängnis oder im gewaltigen Todeskombinat – auf der Insel Trofimowsk. Mein Kopf kippt auf die Brust. Der Schlaf hat mich besiegt, die Baracke hier ist voller Zuschauer, alles rauscht, summt und dröhnt rundherum.
»Das ist nicht wahr, Richter, ich habe keine Balken nach Hause geschleppt. Ich hatte einen Balken in der Hand, aber als ich Sventickis traf und er mich rief, habe ich den Balken sofort aus der Hand fallen lassen – gar nichts habe ich nach Hause gebracht.«
Ich schlage meine Augen auf und sehe vor mir einen grauhaarigen Finnen, einen etwa siebzigjährigen Greis mit müden Hundeaugen, die tief in den Augenhöhlen liegen. Mit seinem Gesicht wäre er für einen Maler, der den Hunger darstellen will, ein geeignetes Modell. Der Greis wurde direkt nach der Leningrader Blockade hierher deportiert. Dort hat er eine Brotration von 125 Gramm erhalten, Brot durchmischt mit Spreu und Lehm. Hier, in der Todesfabrik Trofimowsk, bekommt er 600 Gramm Brot. Nur warten hier auf ihn außerdem noch Kälte, Skorbut, Typhus, Läuse und die Polarnacht. Er ist also der Verbrecher. Er hat den Staat beklaut, weil er in seine Baracke für den Ofen etwas Holz gebracht hat, damit sein Gesicht auftaut und die Augen, damit seine Kleidung...