Irrtümer und Legenden der deutschen Geschichte
von: Bernd Ingmar Gutberlet
Europa Verlag, 2003
ISBN: 9783203776002
Sprache: Deutsch
193 Seiten, Download: 1390 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
VOLKSAUFSTAND (S. 151-152)
Im Westen Gedenken, im Osten Tabu Ausgelöst durch Proteste von Berliner Arbeitern auf einer Baustelle am Krankenhaus Friedrichshain, artikulierten seit dem 15. Juni 1953 Arbeiter in der ganzen DDR ihren Protest gegen die von der SED verfolgte, so genannte »neue Politik«. Wie andere sozialistische Staaten versuchte auch die DDR, das Wirtschaftswachstum mittels neuer Wege zu beschleunigen – letztlich auf dem Rücken der Arbeiter. Aus deren Ablehnung der jüngst verhängten Normenerhöhungen und abermaligen Lohnkürzungen wurden Streiks, und schließlich eine landesweite Erhebung breiter Bevölkerungskreise gegen die Regierung. West wie Ost waren überrascht von den plötzlichen Entwicklungen.
Die DDR-Regierung erwies sich als unfähig, einlenkend zu reagieren, solange es noch möglich war. Als der Sturz des DDR-Regimes unmittelbar bevorzustehen schien und Präsident wie Regierungschef bereits im sowjetischen Hauptquartier Zuflucht gefunden hatten, griff der »große Bruder« ein: Am Mittag des 17. Juni verhängte der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand über Berlin und russische Truppen beendeten die Kämpfe gewaltsam. Der Westen schaute gelähmt zu, gezwungen untätig zu bleiben. Nach der Niederschlagung der Proteste lautete die offizielle DDR-Lesart der Ereignisse zunächst, es habe sich um einen vom Westen gesteuerten faschistischen Putschversuch gehandelt.
Den Vorwurf der »imperialistischen Provokation« nahm man später wieder zurück, die Anschuldigungen gegen »Konterrevolutionäre « wurden jedoch aufrechterhalten. Die von den Arbeitern kritisierten Bestimmungen wurden zwar später ausgesetzt, die Tage im Juni aber wurden zu einem jahrzehntelang wirkenden Tabu. Insbesondere dass es sich von Anfang an um politische Forderungen gehandelt hatte und nicht um bloßen sozialen Protest aufgrund der schwierigen Lebensverhältnisse, wurde unter den Teppich gekehrt.
Der westdeutsche Bundestag hingegen fasste schon am 1. Juli 1953 den Beschluss, den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag zu machen. Während die CDU einen »nationalen Gedenktag « für ausreichend hielt, wollte die SPD einen deutschen Nationalfeiertag. Man einigte sich auf einen Kompromiss. Der SPD ging es um die Betonung des Einheitswillens und die heroische Auflehnung der ostdeutschen Arbeiterschaft. Die CDU unter Adenauer hingegen war auf die Westintegration fixiert. Heute ist der ehemalige BRD-Gedenktag zur deutschen Einheit, damals vor allem ein beliebter arbeitsfreier Tag im Frühsommer, nur noch eine ferne Erinnerung. Allenfalls erinnert man sich noch an schale Rituale im Bonner Bundestag, an Beschwörungen der Zusammengehörigkeit dies- und jenseits der deutsch-deutschen Grenze und an parteipolitische Schuldzuweisungen:
Man stritt bei dieser Gelegenheit, wer das rechte Politikkonzept habe, ob Westbindung oder Ostverträge die Sternstunde bundesrepublikanischer Nachkriegspolitik darstellten. Auch in der westdeutschen Beurteilung der damaligen Ereignisse in der DDR gingen die Meinungen und Einschätzungen auseinander. Worum handelte es sich nun bei den Ereignissen im Juni 1953, kurz nach dem Tod Stalins? Waren die Proteste in Ostberlin und in fast 300 Orten der DDR spontan oder geplant, hatten sie die deutsche Einheit als konkrete Perspektive im Blick oder vor allem die Verbesserung der Lebensumstände im Sinn? Außerdem stritt man, ob es nur um die Rücknahme der Normenerhöhungen für Arbeiter oder um den Sturz des Regimes gegangen war. Handelte es sich um einen begrenzten Arbeiteraufstand oder um eine landesweite Erhebung?