Allgemeine Pathologie für die Tiermedizin

Allgemeine Pathologie für die Tiermedizin

von: Wolfgang Baumgärtner, Achim Dieter Gruber

Enke, 2015

ISBN: 9783830412878

Sprache: Deutsch

293 Seiten, Download: 28774 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Allgemeine Pathologie für die Tiermedizin



2 Genetisch bedingte Erkrankungen


Wolfgang Baumgärtner, Peter Wohlsein

2.1 Allgemeine Anmerkungen


Die rasanten Entwicklungen und der Erkenntisgewinn über die molekularen Grundlagen der Krankheitsentstehung der letzten Jahre haben zu einer starken Zunahme der Zahl bekannter genetischer Erkrankungen und zu einer Renaissance ihrer Bedeutung auch bei Tieren geführt. Diesen unter dem Überbegriff „endogene Krankheitsursachen“ in einem Teil der älteren Literatur subsumierten Veränderungen stehen exogene, durch belebte Noxen sowie ernährungs- und umweltbedingte Krankheitsprozesse gegenüber. Als Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts wurde das Erbgut von verschiedenen Haustierspezies in den letzten Jahren vollständig sequenziert. Für viele Merkmale, z. B. Fellfarbe, Haarwachstum oder Körpergröße, kennt man heute die molekulargenetische Steuerung. Während sich früher die Genetik mit einzelnen Genen beschäftigte, ist es nun möglich, alle Gene und zukünftig wohl auch deren Interaktion noch detaillierter zu analysieren. Diese Vorgehensweise ist mit dem Begriff Genomforschung („genomics“) belegt.

Der Wissenschaftsfortschritt im Bereich der Genanalysen erbrachte auch die Erkenntnis, dass hereditäre Faktoren bei der Krankheitsmanifestation eine weitaus wichtigere Rolle spielen als allgemein angenommen wurde. Beim Menschen schätzt man, dass diese bei ca. 70% der Patienten der im Laufe des Lebens auftretenden Erkrankungen eine bislang noch nicht näher bestimmte Rolle spielen. Allerdings sind unter diesen nicht nur die klassischen Erbkrankheiten zu verstehen, sondern auch Veränderungen, deren Entwicklung durch das Zusammenwirken von Genen und Umweltfaktoren beeinflusst wird. Zu ihnen gehören beim Menschen unter anderem Neoplasien und kardiovaskuläre Erkrankungen. Letztendlich beruht die Krankheitsentwicklung in diesen und anderen Fällen häufig auf einer komplexen Wechselbeziehung zwischen individueller genetischer Ausstattung (Erbgut) und Umwelteinflüssen. Beachten Sie hierzu auch die Kapitel ▶ Methoden in der Pathologie mit ▶ Tab. 1.1 sowie ▶ Disposition. Obwohl bisher noch keine detaillierten Forschungsergebnisse vorliegen, ist davon auszugehen, dass dies in gleichem Maße für die Tiermedizin gilt. Insgesamt wird angenommen, dass die tatsächlich bekannten Erbkrankheiten nur „die Spitze des Eisbergs“ darstellen. So wird zumindest beim Menschen vermutet, dass 50% der spontanen Frühaborte auf Gendefekte zurückzuführen sind.

2.1.1 Erbkrankheiten


Nicht jede angeborene Erkrankung ist genetisch bedingt und nicht jede genetische Krankheit ist angeboren. Unter genetisch bedingten Erkrankungen sind nur diejenigen zu verstehen, die sich aufgrund von Genveränderungen entwickeln. Hingegen handelt es sich bei angeborenen Erkrankungen um jegliche Form von Veränderungen, die sich beim Neugeborenen infolge von intrauterin oder während der Geburt einwirkenden Prozessen postnatal manifestieren. Hierzu gehören Infektionen oder Schädigungen der Frucht unterschiedlicher Genese, z. B. durch toxische Einflüsse, Sauerstoffmangel, Hyperthermie, Mangelernährung, Medikamente etc. Sie können mit einer veränderten Entwicklung des Gesamtorganismus oder einzelner Organe einhergehen. Im Gegensatz dazu liegt bei genetisch bedingten Erkrankungen ein unmittelbarer Defekt im Erbgut vor. Als Erbkrankheiten werden daher Leiden bezeichnet, die auf einem Defekt, auch als Mutation bezeichnet, im Erbgut beruhen. Dieser kann an die nächste Generation weitergegeben werden. Das Erbgut findet sich vorwiegend im Zellkern und zum geringen Teil in den Mitochondrien.

2.1.1.1 Karyotyp

Unter Karyotyp versteht man die Gesamtheit und Ausbildung aller zytologisch erkennbaren nukleären Chromosomeneigenschaften eines Individuums. Der Karyotyp wird bestimmt, indem Chromosomen in der Metaphase der Mitose mittels Spezialfärbung (z. B. Giesma-Bandenfärbung) dargestellt und paarweise zu einem Karyogramm angeordnet werden. Die Chromosomen werden unterteilt in Autosomen und die 2 geschlechtspezifischen Gonosomen (X, Y). Als Genotyp wird die exakte genetische Ausstattung eines Individuums, die es im Zellkern trägt, bezeichnet.

Menschen und Tiere besitzen teilweise stark voneinander abweichende Karyotypen. Nach internationaler Übereinkunft gibt der Karyotyp die Gesamtanzahl der Chromosomen an. Menschen haben normalerweise 46 Chromosomen in 23 Paaren. Die Chromosomenpaare 1–22 sind Autosomen, beim 23. Chromosomenpaar handelt es sich um die Geschlechtschromosomen oder Gonosomen (XY beim männlichen und XX beim weiblichen Tier).

2.1.1.2 Genomaufbau

Unter Berücksichtigung des Genomaufbaus mit seinem speziestypischen Chromosomensatz, seinen Chromosomen, Chromosomenarmen und Genen können Mutationen jeden Bereich innerhalb der genomischen Elemente betreffen. Mutationen können spontan oder unter Einwirkung von mutagenen Agenzien, z. B. chemischen Stoffen, physikalischen und biologischen Faktoren (z. B. Toxine, Viren), auftreten. Sie können sich entweder in Keim- oder Körperzellen (somatische Mutationen) ereignen, und wenn sie nicht zum Tod der Zelle führen, auf nachfolgende Generationen von Zellen oder Individuen übertragen werden. Wenn Mutationen in allen Körperzellen vorliegen, wurden sie entweder von einem Elternteil geerbt oder sind in der Keimzelle bzw. in der befruchteten Zygote neu entstanden. Erbdefekte in somatischen Zellen, die im Laufe des Lebens entstehen, spielen bei der Tumorigenese (Tumorentstehung) und bei manchen kongenitalen Missbildungen eine essenzielle Rolle. Diese werden allerdings nur an Tochterzellen und nicht an Individuen nachfolgender Generationen weitergegeben. Nur Mutationen, die in Keimbahnzellen vorliegen, werden an die Individuen nachfolgender Generationen weitergegeben. Bei Mutationen ist weiterhin zu unterscheiden, ob Gonosomen oder Autosomen betroffen sind.

2.1.2 Mosaizismus


Von Mosaizismus spricht man, wenn ein Individuum genetisch verschiedene Zellen besitzt. Es handelt sich um Zellen mit unterschiedlichen Karyotypen und/oder Genotypen, die von der gleichen Zygote abstammen. Ursächlich kommen Mutationen, Mitosestörungen und auch genetisches „imprinting“, also regional unterschiedliche Inaktivierungen von maternalen oder paternalen Genen infrage.

Unterschiedliche Karyotypen können dadurch entstehen, dass es im Laufe der Embryonalentwicklung durch Störungen bei der Zellteilung, meist als Folge einer Non-Disjunction, zu Änderungen im Chromosomensatz in verschiedenen Zellen in demselben Individuum kommt. Mosaizismus findet sich häufig im Zusammenhang mit Veränderungen bei den Gonosomen. Ein typisches Beispiel bei Tieren sind schildpattfarbene Katzen, deren orangefarbene und schwarze Fellfarbenverteilung durch regional zufällig verteiltes „imprinting“ der farbrelevanten Gene entsteht. Selbst eineiige Zwillingskatzen zeigen daher völlig unterschiedliche Farbverteilungen, nicht jedoch geklonte Katzen, bei denen das „imprinting“ erhalten bleibt.

2.1.3 Chimäre


Der Begriff Mosaizismus muss von dem der Chimäre abgegrenzt werden, bei der Zellen aus mehreren individuell befruchteten Eizellen oder somatischen Stammzellen in einem Individuum vereinigt sind (z. B. nach Organ- und Zelltransplantation, heterologe Gentherapie). Ein Beispiel für natürlich vorkommende Chimären in der Tiermedizin sind die beim Rind im Zusammenhang mit einer zweigeschlechtlichen Zwillingsträchtigkeit auftretenden unfruchtbaren, maskulinisierten weiblichen Zwillinge. Dabei finden sich nach Austausch von Blutzellen über das kommunizierende Blutsystem in der Plazenta männliche Knochenmarksstammzellen und möglicherweise Keimbahnzellen lebenslang auch im weiblichen Zwilling. Bei diesen Zwicken oder...

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