Bipolare Störungen
von: Denise Kästner, Dorothea Büchtemann, Steffi Giersberg, Christian Koch, Anke Bramesfeld, Jörn Moock, Wolfram Kawohl, Wulf Rössler, Wulf Rössler, Jörn Moock
Kohlhammer Verlag, 2015
ISBN: 9783170248281
Sprache: Deutsch
93 Seiten, Download: 5395 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
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3.1 Defizite in der Versorgung bipolarer Störungen
Versorgungsprobleme, die im Rahmen des Needs Assessment in Literatur und Experteninterviews beschrieben wurden, treffen teilweise nicht nur auf bipolare Störungen zu, sondern gelten für schwere psychische Erkrankungen generell, wie z. B. die fehlende strukturierte Diagnostik, die Einbeziehung von Angehörigen und knappe Behandlungskapazitäten bei Ärzten und Psychotherapeuten. Spezifisch für bipolare Erkrankungen zutreffende Versorgungsdefizite sollen jedoch im Folgenden im Zentrum stehen.
3.2 Diagnostik
Unter- und Fehldiagnostik
Unter- und Fehldiagnostik, vor allem der hypomanischen Phasen und bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, kommen häufig vor. Zwischen 9 und 12 Jahre vergehen zwischen den ersten Symptomen und der korrekten Diagnose. Dadurch verzögert sich der Beginn einer adäquaten Behandlung und das Risiko für ungünstigere Verläufe steigt (Bauer et al. 2008; Hauser et al. 2007; Pfennig et al. 2011).
Mangelnde Anwendung der internationalen diagnostischen Kriterien und unzureichendes Abfragen, aber auch – auf Patientenseite – Erinnern eventueller vergangener affektiver Episoden werden als Ursachen benannt (Bauer et al. 2008; Braeunig und Krueger 2011; Bruchmüller und Meyer 2009; Wolkenstein et al. 2011). Gerade bei Patienten mit wenigen oder mehrdeutigen Symptomen ist die Trefferquote dann gering (Braeunig und Krueger 2011; Bruchmüller und Meyer 2009; Meyer und Meyer 2009; Wolkenstein et al. 2011). Aus Expertensicht tragen ferner Hemmungen auf Seiten des Patienten im Anamnesegespräch, Stigmatisierung, fehlender Leidensdruck bei Hypomanie sowie speziell bei Hausärzten und Psychotherapeuten auch mangelnde Kenntnisse und Erfahrung mit bipolaren Störungen [FAP; FAW; P; PTE; PTP]4 zu den diagnostischen Problemen bei.
Als Lösungsansätze werden vor allem die Dissemination der strukturierten Diagnostik empfohlen (Bruchmüller und Meyer 2009; Wolkenstein et al. 2011), [P; PTE; PTP] sowie die Sensibilisierung und ggf. Schulung der Hausärzte, die oft die erste Anlaufstelle der Patienten sind [FAP; PTE].
3.3 Psychiatrische Behandlung und Pharmakotherapie
Ein wichtiges Versorgungsdefizit in der ambulant-psychiatrischen Behandlung, nicht nur bipolarer Patienten, liegt nach übereinstimmenden Aussagen der befragten Experten im Zeitmangel der Fachärzte (»Fünf-Minuten-Praxis«, A). Dieser bewirkt zum einen lange Wartezeiten auf einen (Erst-)Termin, zum anderen fehlt die Zeit für Gespräche, für die Einbeziehung des Patienten und für ein stringentes Monitoring von Wirkungen und Nebenwirkungen. Bedarfsorientierte, kurzfristige oder engmaschige Termine in Akut-, Krisen- und Entlassungssituationen sind kaum realisierbar mit der möglichen Folge eskalierender Episoden und (erneuter) Krankenhausaufenthalte [A; FAW; GP; P; PTE]. Ferner wird kritisiert, dass Ärzte sich nicht ausreichend mit Patientenrechten und den Bestimmungen des Betreuungsrechts auskennen würden, sodass teilweise über den Patienten hinweg gehandelt und entschieden werde [A].
Evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen
Bezüglich der Pharmakotherapie werden in der Literatur die verordneten Medikamente, deren Nebenwirkungen und Monitoring sowie die Medikamentenadhärenz thematisiert. Im Gegensatz zu aktuellen Empfehlungen weisen Untersuchungen auf einen Trend zu Kombinationstherapien mit mehreren Wirkstoffen sowie auf einen relativ geringen Anteil an Lithium-Nutzern hin: Nach Schätzung von Pfennig et al. (2011) wird nur jeder siebte Patient mit Lithium behandelt und laut Quante et al. (2010) erhalten nur 54 % der Patienten eine Monotherapie (Pfennig et al. 2011; Quante et al. 2010; Messer et al. 2009). Als problematisch werden außerdem die mangelnde Evidenz in der Behandlung bipolarer Depressionen sowie der Zulassungsstatus einiger Medikamente, der nur einen »off-label use« bei vielen klinisch wirksamen Behandlungsoptionen gestatte, betrachtet (Sarkar et al. 2009). Die befragten Experten ergänzen, dass Medikamente wie etwa Lithium teilweise nicht verordnet würden, um den hohen Monitoringaufwand zu vermeiden [FAW]. Dagegen würden Benzodiazepine zu großzügig verschrieben [FAP]. Aus Patientensicht wird die Suche nach dem passenden Medikament als »Lotteriespiel« empfunden, das neben Glück auch einen erfahrenen Facharzt sowie einen kompetenten, eigeninitiativen Patienten und Vertrauen in die Arzt-Patienten-Beziehung voraussetze [P].
Nebenwirkungen der typischerweise verwendeten Psychopharmaka werden häufig problematisiert. Vor allem Gewichtszunahme, Stoffwechselerkrankungen, neurologische oder kognitive Beeinträchtigungen, Schlafstörungen und Selbstwertprobleme (durch Übergewicht) stehen im Fokus (Bauer et al. 2008; McIntyre 2009). Der Umgang mit Nebenwirkungen, konkret die Anamnese von Risikofaktoren, Kenntnisse über Folgeerkrankungen, das Monitoring und die Behandlung somatischer Probleme, erscheinen verbesserungswürdig (Bauer et al. 2008; Lecrubier et al. 2008; McIntyre 2009). Inkonsequentes Monitoring wird durch die Experten vor allem mit Zeit- und Kapazitätsproblemen begründet, aber auch mit Kooperationsdefiziten hinsichtlich des Hausarztes (z. B. fehlende Informationen zu Verordnungen, fehlender oder verspäteter Austausch von Befunden) [FAP; FAW].
Zur Medikamentenadhärenz und -akzeptanz gibt es unterschiedliche Befunde: einerseits gute Akzeptanz und Zufriedenheit (Quante et al. 2010), andererseits eine Compliance, die mit 35 % der Patienten noch niedriger ist als bei der Schizophrenie (Moeller et al. 2007). Der befragte Facharzt stellt die Adhärenz als Problem lediglich in der akuten Manie und in der Langzeitprophylaxe dar, wenn die Krankheitseinsicht bzw. die Symptome fehlten [FAP].
Hinsichtlich der Pharmakotherapie werden in der Literatur verschiedene Vorschläge präsentiert. So sollte auf gute Information und Instruktionen insbesondere bei der Lithiumtherapie und bei älteren Patienten geachtet werden (Schaub et al. 2001), Therapieziele sollten klar definiert und dabei die Krankheitskonzepte der Patienten und Angehörigen berücksichtigt werden. Adhärenzfördernd wirken des Weiteren ein vertrauensvolles Gesprächsklima, einfache Dosierungsschemata und Medikamententrainings (Moeller et al. 2007), Telefoninterventionen, strukturierte Versorgungsprogramme wie Disease Management und Bonusprogramme, die innerhalb von IV-Verträgen umzusetzen sind (Stiegler 2008).
3.4 Psychotherapeutische Behandlung und psychoedukative Interventionen
Erschwerter Zugang zu Psychotherapie
Die bekannte Knappheit an psychotherapeutischen und manualbasierten psychoedukativen Angeboten im ambulanten Bereich scheint für bipolare Störungen in besonderem Maße zuzutreffen. Akutbehandlungen sind so kaum möglich. Als eine Ursache identifizieren Hasmann et al. (2008) und Trapp et al. (2008) den hohen Qualifikationsaufwand angesichts ausführlicher Therapiemanuale. Die Experten vermuten zudem, dass viele Psychotherapeuten bipolare Patienten eher ablehnten, weil sie aufgrund mangelnder Kenntnisse über die Störung und Therapiemöglichkeiten überfordert wären und die Erfolgsaussichten eher gering einschätzten [FAP; GP; P; PTE; PTP]. Zudem seien einige wirksame Therapieverfahren in Deutschland nicht zugelassen, während wiederum nicht alle zugelassenen Verfahren für die Behandlung bipolarer Störungen geeignet seien [FAW].
Ambulante Psychoedukation wird zwar vereinzelt von Kliniken und Psychiatrischen Institutsambulanzen angeboten, steht jedoch insbesondere auf dem Land letztlich doch nur während stationärer Aufenthalte zur Verfügung. Der Stundenumfang ist dabei meist zu gering, und die Aufnahmefähigkeit des Patienten während einer solchen akuten Episode nicht optimal [A; FAP; P], (s. a. Trapp et al. 2008). Störungsspezifische Angebote, die gemischten vorzuziehen wären, fehlten vollständig [A; P]. Als Ursachen für den Mangel an ambulanter Psychoedukation werden die unklare bzw. unzureichende Finanzierung in der Regelversorgung sowie die relativ geringe Prävalenz der Erkrankung vermutet [GP; PTP].
Diese fehlende psychotherapeutische bzw. psychoedukative Unterstützung wirke sich nach Ansicht der Experten negativ auf die Krankheitsverläufe und die Adhärenz aus [GP; PTE]. Ihre Bedeutung für den Behandlungserfolg werde von Ärzten nach wie vor unterschätzt [A]. Es werden mehrere Vorschläge genannt, wie der Zugang zu verbessern wäre: kürzere PE-Manuale (Hasmann et al. 2008), die Etablierung psychoedukativer Angebote bei Anbietern wie dem SpDi [B; GP], die breite Bekanntmachung von vorhandenen Angeboten [B] sowie ggf. auch die Verstärkung...