Lehrbuch Klinische Paar- und Familienpsychologie
von: Guy Bodenmann
Hogrefe AG, 2013
ISBN: 9783456752907
Sprache: Deutsch
358 Seiten, Download: 4342 KB
Format: EPUB
[11]1. Einführung
In diesem Buch soll die Bedeutung von Partnerschaft und Familie für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen in verschiedenen Facetten beleuchtet werden. Aufgrund der hohen Komplexität des Themas und der vielen Teilgebiete wird es allerdings nicht möglich sein, das Gebiet auch nur annähernd repräsentativ darzustellen, geschweige denn es erschöpfend zu diskutieren. Vielmehr sollen einzelne wichtige Aspekte aufgegriffen, einige vertiefter dargestellt und ein Blick für die insgesamt hochrelevante Funktion von engen dyadischen oder familiären sozialen Beziehungen im Rahmen der Klinischen Psychologie geschärft werden. Ihre Bedeutung soll im Rahmen von Störungen bei Personen in Partnerschaft ebenso thematisiert werden wie für die Kinder. Es wird gezeigt, dass ein individuumzentriertes Störungsverständnis bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu kurz greift und dass die sozialen Aspekte des bio-psycho-sozialen Störungsmodells nach wie vor zu kurz (häufig nur in Bezug auf soziale Unterstützung) kommen und ihr Potenzial für das Verständnis von Störungen und deren Behandlung nicht ausgeschöpft wird.
Doch betten wir die Thematik zuerst in die gesamtgesellschaftliche Situation der heutigen Partnerschaften und Familien ein, um ein Verständnis für die Ambivalenz zwischen Idealvorstellungen und realem Kontext zu erhalten und die Rolle der Beziehung in ihrem Zusammenspiel mit Störungen verstehen zu können.
Zur aktuellen Lage von Partnerschaft und Ehe
Seit Jahren wird in den westlichen Industrieländern über Scheidungsraten berichtet, die in Europa und den USA gleichermaßen auf hohem Niveau fluktuieren (z. B. Fincham & Beach, 2010; Bramlett & Mosher, 2002; Eurostat, 2009; Bundesamt für Statistik, 2010). Während die Anzahl Scheidungen vor allem ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts signifikant anstieg, zeigte sich in den vergangenen Jahren eine Stagnation auf hohem Niveau mit einem leichten Rückgang in Deutschland (siehe Abbildung 1-1) und Österreich, während in der Schweiz keine direkte Abnahme sichtbar wird.
Abbildung 1-1: Scheidungsverlauf von 1970 bis 2010 in Deutschland (Statistisches Bundesamt, Deutschland, 2012)
Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung liegt heute in westlichen Industriestaaten bei 40–50 % (Cherlin, 2010). So wurden in Deutschland im Jahre 2009 38,1 % (2,3 pro 1000 Einwohner), in Österreich 46 % und in der Schweiz 47,7 % Ehen aufgelöst. Im Jahre 2010 waren es 43 % in Österreich (2,1 pro 1000 Einwohner) und 54,4 % in der Schweiz (2,8 pro 1000 Einwohner). Damit ist es seit mehr als 10 Jahren wahrscheinlicher, dass eine Ehe durch Scheidung als durch Tod beendet wird (Pinsof, 2002).
Merke!
Die Scheidung ist in westlichen Nationen zu einem häufigen Phänomen geworden. Obgleich diese relative Scheidungsrate von der Anzahl geschlossener Ehen im selben Messzeitraum abhängt, ist das Maß doch indikativ, da sich die Eheschließungen in den vergangenen Jahren zwar verringert haben, sich aber auf einem relativ stabilen Niveau plus/minus Standardabweichung bewegen.
Bei nicht verheirateten Paaren scheint die Trennungsrate noch höher zu sein, wie die U. K. Millennium Cohort Study zeigt, der zufolge sich 35 % der unverheirateten Eltern vor dem fünften Geburtstag ihres Kindes trennten, gegenüber 9 % der verheirateten Eltern (Callan et al., 2006).
Laut Statistik finden die meisten Scheidungen im Durchschnitt nach 10–14 Ehejahren statt. In Deutschland lag die durchschnittliche Ehedauer im Jahre 2010 bei 14,2 Jahren, in Österreich bei 10,5 Jahren und in der Schweiz bei 14,5 Jahren. Zwischen 1970 und 2010 haben sich dabei bezüglich der Dauer bis zur Scheidung einige interessante Veränderungen ergeben (siehe Abbildung 1-2). [13]So haben die Scheidungen bei kurzen Partnerschaften abgenommen, während die Instabilität länger dauernder Ehen (mehr als 20 Ehejahre) signifikant zugenommen hat.
Abbildung 1-2: Durchschnittliche Ehedauer in den Jahren 1970 und 2010 (Statistisches Bundesamt, Deutschland, 2012)
Während 1970 in Deutschland 10,4% Ehen nach 20 und mehr Jahren geschieden wurden, waren es 2010 fast dreimal so viele Paare, die ihre Ehe nach dieser Zeitspanne auflösten (27,2 %). Die stärksten Veränderungen finden sich somit deutlich in den kurzen Ehen (1–2 Jahre), die seltener geschieden werden, und in den längeren Ehen, die heute signifikant häufiger durch Scheidung beendet werden. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Österreich, wo 1970 9,9 % und 2010 23,8 % der längeren Ehen geschieden wurden (Eurostat, 2012). In der Schweiz lösten sich 1970 15,5 %, im Jahre 2010 28,1 % der Ehen mit einer Dauer von 20 Jahren und mehr auf (Bundesamt für Statistik, 2012). Die Zunahme der Instabilität in der Gruppe der langjährigen Ehen ist damit im gesamten deutschen Sprachraum sichtbar.
Merke!
Rund jede dritte bis zweite Ehe wird in West- und Nordeuropa und in den USA gegenwärtig durch Scheidung beendet. In den vergangenen 40 Jahren hat sich das Scheidungsrisiko mehr als verdoppelt. Während die Scheidungshäufigkeit bei kürzeren Ehen abgenommen hat, stieg sie vor allem bei Paaren mit mehr als 20 Ehejahren.
[14]Sind feste Paarbeziehung und Ehe am Ende?
Trotz dieser zunehmend höheren Instabilität von Paarbeziehungen, der polemisch diskutierten Desinstitutionalisierung der Ehe, des gewähnten Zerfalls der Familie und der weiten Verbreitung von Scheidungen hat die enge Partnerschaft oder Ehe in den vergangenen Jahrzehnten erstaunlicherweise kaum an Attraktivität eingebüßt. Zwar wird häufiger geschieden und die Heiratsraten waren seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts rückläufig, doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass dieser Rückgang im Zeitverlauf als relativ harmlos zu bewerten und vor allem darauf zurückzuführen ist, dass heute später geheiratet wird als früher, wodurch eine statistische Verzerrung durch den Wegfall der jüngeren und mittleren Generation stattfindet. «1961 gingen z. B. von 1000 ledigen Männern im Alter von 26 Jahren 221 die Ehe ein; 1999 waren es nur noch 46. Bei den Frauen sanken die Ziffern ähnlich stark, bei den 24-Jährigen z. B. von 254 auf 53» (Peuckert, 2004, S. 47). Die seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts rückläufige Zahl an Erstehen wird jedoch durch Zweit- und Drittehen, die in diesem Zeitfenster deutlich zugenommen haben, kompensiert, sodass das Gesamtbild keinen dramatischen Einbruch an Eheschließungen zeichnet, sondern im Gegenteil dieser starke Wiederverheiratungstrend mitunter ein Grund dafür ist, weshalb heute die Gesamtzahl der Eheschließungen in Deutschland leicht ansteigt. Um reine Erstehen (bei denen beide Partner ledig sind) handelte es sich im Jahre 2002 in Deutschland nur noch bei 47 % der Männer und 53 % der Frauen (Peuckert, 2004). Um Folgeehen handelte es sich in Deutschland bei 26 % der geschlossenen Ehen (Statistisches Bundesamt, Deutschland, 2012), in Österreich bei 24,5 % (Statistik Austria, 2012) und in der Schweiz bei 22,2 % (Bundesamt für Statistik, 2012).
Merke!
Die Ehe hat nicht wirklich an Bedeutung verloren. Nach wie vor verheiraten sich die meisten irgendwann im Laufe ihres Lebens. Selbst nach der Erfahrung einer Scheidung sinkt der Wunsch nach einer Ehe und stabilen Beziehung keineswegs.
Statistiken zeigen, dass auch heute noch rund 80–90 % der Bevölkerung irgendwann einmal im Leben heiraten oder mindestens einmal eine feste intime Beziehung haben (Myers, Madathil & Tingle, 2005). Rund zwei Drittel der Geschiedenen heiraten wieder (Grünheid & Roloff, 2000). Wie Abbildung 1-3 für Deutschland zeigt, sind Personen mittleren Alters in überwiegender Zahl verheiratet.
Das gleiche Bild zeigt sich für Österreich, wo in der mittleren Alterskohorte 82 % verheiratet sind. In der Schweiz leben 78 % der mittleren Alterskohorten im Ehestand.
Die Ehe scheint damit nicht an Zugkraft verloren zu haben. Dennoch [15]spiegelt diese Situation ein Paradoxon wider: Einerseits heiraten die meisten Menschen immer noch (und praktisch alle gehen damit eine enge, auf Stabilität angelegte Beziehung ein), andererseits ist die Ehe meist nicht beständig. Wo liegen die Gründe für diese Ambiguität? Wie Sabatelli und Ripoll (2004) festhalten, lässt sich diese Frage am besten beantworten, wenn man austauschund ressourcentheoretisch analysiert, welchen Nutzen eine enge Partnerschaft oder die Ehe den Menschen heute noch bringt, wo dermaßen viele andere Beziehungsoptionen zur Verfügung stehen (Sassler, 2010). Gemäß der Austauschtheorie (Thibaut & Kelley, 1959) sollten Beziehungen nur dann eingegangen und aufrechterhalten werden, wenn sie mehr Nutzen als Kosten mit sich bringen.
Abbildung 1-3: Anzahl verheirateter Personen in Deutschland nach Alter (Statistisches Bundesamt, Deutschland, 2012)
Familiäre Diversität und ihre klinisch-psychologische Bedeutung
Über die Bedeutung der heutigen Diversität von Familien wird in Fachkreisen kontrovers debattiert. Während die einen die Vielfalt der heutigen Familienformen als Ausdruck eines neuen Zeitphänomens sehen, relativieren [16]die anderen die Exklusivität dieser Erscheinung und argumentieren, dass es in der Geschichte der Menschheit stets diesen Pluralismus an Familienformen gab. Nur war dies eben früher nicht aufgrund von Scheidung der Fall, sondern aufgrund der hohen Sterblichkeit infolge von Seuchen, Hungersnöten und Kriegen, ökonomischen Bedingungen...