Bindungsstörungen - Von der Bindungstheorie zur Therapie

Bindungsstörungen - Von der Bindungstheorie zur Therapie

von: Karl Heinz Brisch

Klett-Cotta, 2015

ISBN: 9783608202885

Sprache: Deutsch

378 Seiten, Download: 1364 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Bindungsstörungen - Von der Bindungstheorie zur Therapie



Vorwort des Autors zur Überarbeiteten und erweiterten Neuauflage (9. Aufl. 2009) Seit der ersten Auflage dieses Buches ist das Wissen in der Bindungsforschung sowie in der Anwendung der Bindungstheorie enorm gewachsen, so daß eine überarbeitete Neuauflage des Buches erforderlich wurde. Wesentliche neue Erkenntnisse zur Neurobiologie, Genetik, Psychotraumatologie und Präventionsforschung werden in gesonderten Kapiteln beschrieben sowie an einzelnen Stellen, zusammen mit Hinweisen auf die aktuelle Literatur, ergänzt, zudem in ihrer Bedeutung für die Entwicklung einer Psychopathologie diskutiert. Besonders die Bedeutung der desorganisierten Bindung für spätere psychische Störungen und die transgenerationale Verbindung zu traumatischen Erfahrungen der Eltern werden im Kontext der Erkenntnisse der Psychotraumatologie und der Genetik in einer Zusammenschau dargestellt. Dabei stellt sich immer mehr heraus, dass die Entwicklung von einer gesunden sicheren Bindung über die unsichere Bindung, die desorganisierte Bindung bis zur Bindungsstörung ein Kontinuum darstellt, das durch entsprechende Erfahrungen des Kindes mit seinen bedeutungsvollen Bindungspersonen beeinflußt wird. In diesem Zusammenhang wird die Verbindung zwischen desorganisierter Bindung und der Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung besonders diskutiert, ebenso neue Möglichkeiten der Bindungsdiagnostik in verschiedenen Altersgruppen. Feinfühlige empathische Erfahrungen eines Kindes - von Schutz, Sicherheit sowie von Exploration - fördern seine sichere Bindung, wogegen sich auf dem Boden von traumatischen Erfahrungen des Kindes, wie sie durch alle Formen der Gewalt entstehen, denen das Kind hilflos ausgeliefert ist, Pathologien bis hin zu schwersten Formen der Bindungsstörungen entwickeln können. Das Kapitel über Prävention wurde um die Beschreibung der bindungsbasierten Präventionsprogramms SAFE ® - Sichere Ausbildung für Eltern sowie das Programm B.A.S.E. ® - Babywatching erweitert. Das Programm SAFE ® beginnt bereits in der Schwangerschaft und begleitet Eltern bis zum Ende des ersten Lebensjahres ihres Kindes, mit dem Ziel, daß sich möglichst viele Kinder sicher an ihre Eltern binden und auf diese Weise einen lebenslangen Schutzfaktor für ihre gesunde Persönlichkeitsentwicklung erwerben sollen. Dieses Programm findet inzwischen sowohl in Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas, aber auch in Neuseeland, Australien und Singapur durch die Ausbildung von SAFE ® -Mentoren große Verbreitung. Ziel ist es, daß in Zukunft die Teilnahme an diesem Programm für Eltern so selbstverständlich wird wie der Besuch eines Kurses zur Geburtsvorbereitung. Das Programm B.A.S.E . ® - Babywatching ist eine besondere Form der Empathieschulung für Kindergarten- und Schulkinder. Durch die angeleitete reale Beobachtung der Interaktion zwischen Mutter und Baby sollen die Kinder lernen, sich in die Gedanken, Gefühle und Handlungsabsichten von Mutter und Kind hineinzuversetzen, und diese neue Fähigkeit auf ihr Miteinander im Spielalltag übertragen. Die Studienergebnisse sind ermutigend, so daß das Babywatching auch eine weitere Verbreitung in Europa wie auch in Neuseeland und Australien erfährt. Während in der Forschung wie auch in der klinischen Anwendung im Hinblick auf die Entwicklung der Bindung bisher bevorzugt dyadische Beziehungen im Mittelpunkt standen, wird in einem besonderen Kapitel ausgeführt, wie sich die verschiedenen Bindungsmuster auch in Gruppen und im Verhalten des einzelnen gegenüber Gruppen zeigen können. Die Bindungstheorie gewinnt angesichts der wachsenden Zahl von Säuglingen und Kleinstkindern, die in außerfamiliären Einrichtungen mit Konzepten der Tagesbetreuung in großen Gruppen versorgt werden, eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung. Hier kann die Bindungstheorie zur Frage der absolut notwendigen Qualität von Krippen und Kindergärten, speziell im Hinblick auf sekundäre Betreuungspersonen - nämlich Krippen- und Kindergartenerzieherinnen - und die Voraussetzungen, die diese mitbringen sollten, einen wesentlichen Beitrag leisten. Zusammenfassend gesagt, bringt diese Neuauflage den Leser somit auf den neuesten Stand der Forschung und beschreibt neue klinische Anwendungsbereiche sowie Präventionsansätze. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern aus allen Berufsgruppen sowie auch interessierten Eltern, daß Sie durch dieses Buch den Beitrag der Bindungstheorie für ganz unterschiedliche Bereiche schätzen lernen und dadurch so inspiriert werden, daß sie ganz eigene neue Möglichkeiten der Anwendung für sich entdecken können. Karl Heinz Brisch , im Februar 2009 Einleitung In der psychotherapeutischen Arbeit mit Säuglingen und ihren Eltern, mit Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen sowie mit Erwachsenen stellen wir uns die Frage, wie wir die Entwicklung einer bestimmten psychischen Symptomatik verstehen können. Alle psychotherapeutischen Schulen, ungeachtet ihrer Richtung, weisen heute der frühen Kindheit eine entscheidende Rolle für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen zu ( Kächele et al., 1999 ; Resch, 1996 ). Die Psychoanalyse entwickelte ihre Theorie zunächst auf der Grundlage der Erfahrungen, die aus der Patientenbehandlung von Erwachsenen stammten. Von den Erkenntnissen über psychodynamische Zusammenhänge, die in der Therapie gewonnen worden waren, wurde auf frühkindliche Entwicklungsphasen und deren Bedeutung für die psychische Entwicklung geschlossen. Die auf diese Weise entstandene Theorie war durch einen sogenannten » Adulto-Patho-Morphismus « geprägt: Krankheitssymptome im Erwachsenenalter wurden als Regression auf Phasen der frühkindlichen normalen Entwicklung verstanden und interpretiert. Die Begriffe »infantile Regression« und »fixierung auf frühkindliche Entwicklungsphasen« spielten eine besondere Rolle. In den Anfangsjahren hatte Freud noch die Bedeutung von realen Verführungserlebnissen in den Vordergrund seiner Theorie gestellt: Reale frühe Erfahrungen von sexueller Gewalt an Kindern von seiten ihrer engsten Bezugspersonen, auch von seiten der Eltern, wurden von ihm als für die kindliche Psyche traumatische Erfahrung betrachtet. Später nahm er hiervon Abstand und postulierte, daß die häufig in den Erwachsenenanalysen erinnerten Erlebnisse von sexueller Gewalt lediglich den kindlichen Phantasien entsprungen seien. Warum er seine Meinung änderte, hat er nie ausdrücklich erläutert. Er räumte nun den Phantasien eine Priorität für die psychische Entwicklung ein. Die jeweilige Verarbeitung durch die Phantasietätigkeit hielt er für die Entstehung von Psychopathologie für bedeutungsvoller als das vom Patienten berichtete Erlebnis selbst. Dieses schrieb er eher dessen Phantasiewelt denn realen Erfahrungen zu. Aus diesem Grunde konzentrierte sich die Psychoanalyse in der weiteren Entwicklung ihrer Behandlungstechnik auf die Bearbeitung insbesondere der unbewußten Phantasien und vernachlässigte die realen Erfahrungen der Patienten. Es kann vermutet werden, daß Freuds Theorie von der realen frühkindlichen Traumatisierung durch sexuelle Gewalt so brisant war, daß er um seine Anerkennung als Wissenschaftler fürchten mußte . Um diese war es zunächst nicht sonderlich gut bestellt, weil er durch die Entdeckung der kindlichen Sexualität angesichts der vorherrschenden bürgerlichen Moralvorstellungen im Wien des ausgehenden 19 . Jahrhunderts in größte Schwierigkeiten geriet und seine Theorie zunächst einmal auf Skepsis, ja sogar Ablehnung stieß. Ähnlich wie in Freuds früher Theorie vom Realtrauma entwickelte der Schweizer Psychiater Adolf Meyer ( 1957 ), auf den sich Bowlby später berief, eine an Darwin orientierte psychobiologische Konzeption. Er schrieb gerade den realen frühkindlichen traumatischen Umwelteinflüssen, die nicht nur auf sexuelle Gewalt beschränkt waren, eine große Bedeutung für die psychische Entwicklung zu. Nach Meyers Theorie entstehen psychische Erkrankungen durch den mißlungenen Versuch des Individuums, auf psychosoziale reale Belastungen zu reagieren. Ist das Individuum mit seinem Anpassungsversuch überfordert, können Krankheitssymptome entstehen. Die unterschiedliche Fähigkeit zur Anpassung an spätere reale äußere Belastungen hängt davon ab, welche frühkindlichen realen Erfahrungen während der ersten Jahre in der Primärfamilie und in anderen wichtigen Beziehungen gemacht wurden. Der Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby ist beim Studium der Lebensläufe von psychisch schwer gestörten Kindern und Jugendlichen immer wieder auf extreme reale frühkindliche Traumatisierungen dieser Kinder gestoßen und erkannte, daß diese in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit bedeutungsvoll waren. Die von den Kindern berichteten Erfahrungen hielt er nicht für Produkte ihrer Phantasie. Bei der Ursachenforschung in bezug auf die mögliche Entwicklung der Psychopathologie dieser Kinder mußte er erkennen, daß in ihren Lebensgeschichten Erfahrungen mit vielfältigen frühen Verlusten und Trennungen von Bezugspersonen gegenüber anderen berichteten traumatischen Erlebnissen auffällig in den Vordergrund rückten. Diese klinische Entdeckung auf der Basis von genauen Berichten kann man als die Geburtsstunde der Bindungstheorie bezeichnen. Dennoch war es für Bowlby von seinen ersten Ideen bis zur Formulierung der Bindungstheorie ein langer und schwieriger Weg. Anfangs konnte er nicht ahnen, daß seine ursprünglich stark angefeindete Theorie gerade in der Entwicklungspsychologie große Resonanz finden und den Anstoß für eine umfangreiche Forschung geben würde. Diese blieb nicht nur auf London begrenzt, sondern wurde durch Bowlbys Schülerinnen und Schüler - hier sei an erster Stelle die kanadische Mitarbeiterin Mary Ainsworth genannt - inzwischen in zahlreiche andere Länder getragen. Bindungsforschung findet heute außer in England in großem Umfang insbesondere in den USA , Kanada, Israel, Japan, Italien, den Niederlanden und Deutschland statt. In Deutschland ist die Bindungsforschung eng mit Klaus E. und Karin Grossmann verknüpft, früher in Bielefeld, jetzt am Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Regensburg. Das Ehepaar und sein wissenschaftliches Team haben durch zahlreiche prospektive Längsschnittstudien mit reifgeborenen , gesunden Kindern weltweit Beachtung gefunden. Ein Schwerpunkt dieser Forschergruppe ist insbesondere die Frage der Kontinuität oder Wandlung früher Interaktionserlebnisse und Bindungsqualitäten von der Säuglingszeit bis ins Jugendalter sowie die Erforschung der Weitergabe von Bindungsmustern von der Generation der Eltern auf die der Kinder. Die wesentlichen Ergebnisse der bedeutendsten internationalen Längsschnittstudien zur Bindungsentwicklung werden von K. Grossmann, K. E. Grossmann und E. Waters dargestellt und diskutiert (Grossmann et al., 2005). Die Grundlagenforschung ist inzwischen enorm vielfältig und liefert eine so gewaltige Fülle von Ergebnissen, daß ein Überblick den Rahmen dieses Buches sprengen würde. 3 Daher sollen lediglich die Grundkonzepte der Bindungsforschung im Überblick dargestellt werden. Weiterhin werden Befunde aufgegriffen, die für die klinische Anwendung der Bindungsforschung und die Behandlung auf der Grundlage der Bindungstheorie von Bedeutung sind. Bowlby selbst war ein engagierter Kliniker, der sich durch seine Erfahrungen aus der therapeutischen Praxis zur Neuformulierung von gängigen theoretischen Konzepten gezwungen sah. Mein Anliegen ist es, sein klinisches Interesse wieder aufzugreifen und das theoretische Wissen für praktizierende Psychotherapeuten zu erschließen. Im ersten Teil dieses Buchs erläutere ich in einem kurzen historischen Rückblick die Entwicklung der Bindungstheorie. Nach einer Zusammenfassung der Bindungstheorie stelle ich ihre wesentlichen Konzepte vor, insbesondere zur Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit, der kindlichen Bindungsqualität und der Bindungsrepräsentation bei Erwachsenen. Hierbei werden auch Erkenntnisse aus der Neurobiologie diskutiert. In diesem Zusammenhang gehe ich auch auf die transgenerationalen Aspekte der Weitergabe von Bindungsmustern und auf die Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren für eine gesunde Entwicklung ein. Abschließend erläutere ich Konzepte von Bindung und Trennung in anderen psychologischen Theorien und psychotherapeutischen Schulen. In einem zweiten Teil lege ich die theoretischen Aspekte eines Konzepts der Bindungsstörung im Sinne einer Psychopathologie dar. Insbesondere die Zusammenhänge zwischen Bindung und Trauma werden erläutert. In einem historischen Überblick verfolge ich, wie die heute häufig gebrauchten Diagnosemanuale sowie auch neuere diagnostische Systeme speziell für die Säuglings- und Kleinkindzeit bindungstheoretische Konzepte in ersten Ansätzen aufgegriffen haben. Da die bisherigen Klassifikationssysteme allerdings keine ausreichenden Möglichkeiten für die Diagnostik von Bindungsstörungen bieten, beschreibe ich eine weiterführende und umfassendere Klassifikation von Bindungsstörungen und stelle die Möglichkeiten der Bindungsdiagnostik in verschiedenen Altersstufen dar. In einem dritten Teil formuliere ich die Theorie eines bindungsbasierten therapeutischen Vorgehens. Hierbei beziehe ich mich auch auf Ergebnisse aus der Psychotherapieforschung, die in der Bindung zwischen Therapeut und Patient 4 einen wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Behandlung sehen. Grundlegende technische Aspekte und Vorgehensweisen einer bindungsbasierten Behandlung werden ausgeführt. Schwerpunkte liegen hier auf der Erstbegegnung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten, der Gestaltung des Settings , der Bedeutung der Frequenz, der Beendigung der Behandlung und den Fragen von Bindung und Autonomie im therapeutischen Prozeß. In einem vierten Teil schildere ich Fallbeispiele aus der klinischen Praxis. Aus didaktischen Gründen konzentriert sich die Betrachtung von Krankheitsgeschichte, Diagnostik und Behandlungsverlauf auf die jeweils spezifische Störung der Bindungsdynamik. Ich übergehe andere mögliche Interpretationen der jeweiligen Psychodynamik, um besonders den Aspekt der Bindungsstörung herauszuarbeiten. Die Symptomatik der Patienten kann allerdings aus dem Blickwinkel einer anderen Theorie auch ganz anders verstanden und mit einer anderen Technik behandelt werden. Die kasuistischen Beispiele werden entlang der Bindungsentwicklung im Lebenslauf zeitlich gegliedert dargestellt, und zwar von der Phase, in der sich ein Paar eine Schwangerschaft wünscht, an bis zum Erwachsenenalter. Dieser Gliederung liegt eine Betrachtung zugrunde, die die Bindungsentwicklung als einen lebenszeitlichen Prozeß mit immer wieder geforderten Phasen der Adaptation an neue Beziehungs- und Lebenssituationen versteht. Im fünften und letzten Teil diskutiere ich Fragen der Prävention. Ich stelle Möglichkeiten einer frühzeitigen bindungsbasierten Schulung zur Vermeidung von späteren psychischen Störungen vor, die speziell Schwangeren und ihren Partnern sowie Eltern mit ihren Kleinstkindern angeboten werden kann. In Anbetracht zunehmender Aggression und Gewalt in Kindergärten und Schulen kommt einer bindungsbasierten frühzeitigen Prävention und Beratung große Bedeutung zu. Gemäß dem heutigen Forschungsstand über den Zusammenhang von Bindung und Aggression werden Leitlinien für eine Prävention in der pädagogischen Arbeit dargelegt sowie die bindungsbasierten Präventionsprogramme SAFE ® - Sichere Ausbildung für Eltern und B.A.S.E. ® - Babywatching in Kindergarten und Schule vorgestellt. Ich stelle Überlegungen an, inwieweit ein bindungsbasierten Ansatz auch auf andere Settings der Psychotherapie mit Gruppen oder mit Familien übertragbar ist und dort angewendet werden kann. Zum Abschluß diskutiere ich noch offene Fragen und Perspektiven im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Technik einer bindungsbasierten Psychotherapie sowie die Bedeutung für die psychotherapeutische Ausbildung.

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