Dreckstück

Dreckstück

von: Clémentine Beauvais

Carlsen Verlag GmbH, 2015

ISBN: 9783646927320

Sprache: Deutsch

96 Seiten, Download: 1737 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Dreckstück



ICH HABE DIE ANDEREN GEGENÜBER VOM CAFÉ GETROFFEN, wo sie sich gerade eine Zigarette ansteckten, morgens um acht, die erste. Die Straße schimmerte nassgrau nach dem Unwetter in der vergangenen Nacht. In den Pfützen sah man die Häuser.

»Wo ist Marguerite?«

»Die sitzt in Levallois fest, wegen des Streiks.«

An diesem Morgen standen Florian, Anne-Laure, Gonzague, Élise und ich vor dem Café. Das Wetter war scheußlich, kalt und trüb, wir unterhielten uns in einer Wolke aus Zigarettenqualm und kondensierter Atemluft.

Ich sage das noch mal ganz deutlich: Marguerite hatte nichts mit dieser Sache zu tun, wegen des Streiks. Wäre sie dabei gewesen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Wer weiß das schon. Wenn Mathieu dabei gewesen wäre, natürlich auch, aber Mathieu war nicht mehr dabei.

»Seht euch diesen Wichser an«, meinte Gonzague und wies mit dem Kinn die Straße hinunter.

Es war François, der eine halbe Stunde zu früh zur Schule kam, in seinen hässlichen Klamotten und den gelben Turnschuhen. Er lief auf uns zu, den Blick starr auf den Fußweg gerichtet. Er wusste, dass wir ihn beobachteten. Er hat ein Problem mit Anne-Laure, die immer ätzende Sprüche macht und ihn mit ihren hochhackigen Hirschleder-Stiefeln um einen ganzen Kopf überragt.

»Lass ihn in Ruhe, der will bestimmt nur wieder in irgendeinem Winkel der Bibliothek eine Lehrerin vernaschen«, erwiderte Anne-Laure.

François hatte im vorigen Schuljahr mit Madame Bonnot, der Französischlehrerin, geschlafen. Fünfzehn Jahre Altersunterschied. Seine Eltern hatten Anzeige erstattet und Bonnot wurde gefeuert. Seitdem lebt sie in Mexiko, weshalb ich manchmal denke, sie hätte das alles schon so geplant. Sie hat zwei Kinder, aber der Vater hat das Sorgerecht bekommen, ich weiß nicht, ob sie die beiden noch sieht.

Gonzague sagte:

»Ich habe so was von keinen Bock auf Schule!«

So fängt das jedes Mal an – sobald auch nur einer von uns das sagt, ist das wie ein Gähnen, es steckt alle an.

»Aber echt, ich auch nicht«, sagte Anne-Laure.

Élise will dann immer noch verhandeln. »Ach kommt, wenigstens heute Vormittag gehen wir noch hin.«

»Mach, was du willst«, meinte Florian, »aber ich habe die Schnauze voll. David?«

»Ich bin dabei«, sagte ich. »Oder meinst du, ich habe Lust, eine Geo-Arbeit zu schreiben?«

Anne-Laure ließ ihre Kippe, von Lippenstift gesäumt, auf den Boden fallen. Ein Tritt mit dem Absatz und die watteartige Füllung quoll zu beiden Seiten des Filters heraus.

»Wir gehen zu dir«, sagte sie zu Florian.

»Nein, mein Vater ist zu Hause.«

»Wieso denn das?«

»Der sitzt hier fest. Wegen des Streiks.«

Anne-Laure fluchte laut. Sie flucht immer mit ganz viel Luft in der Stimme. Florian wohnt gleich um die Ecke, in einer 300-qm-Wohnung mit Terrasse und Whirlpool. Wir anderen wohnen alle etwas weiter weg. Anne-Laure lässt sich jeden Morgen von ihrer Mutter bringen, die einen Aston Martin fährt und sie immer direkt vor der Schule absetzt, weil sie ihr nicht traut; sie hat Angst, dass Anne-Laure die Schule schwänzt – zu Recht.

Es fing an zu nieseln. Ganz feine Tropfen, die an unseren warmen Gesichtern abperlten. Anne-Laure und Élise hatten überall welche in den Haaren, wie Kristalle.

»Wir schreiben erst noch die Geo-Arbeit«, schlug Élise vor, »und dann hauen wir ab.«

»Keine Chance«, antwortete Florian unerbittlich.

Und so gingen wir los in Richtung Avenue de Tourville, ohne ein bestimmtes Ziel, untermalt vom Klackern der Absätze von Anne-Laure. Eine alte Frau führte ihren Hund spazieren. In diesem Viertel sehen die alle gleich aus, derselbe Pelzmantel, dieselbe blonde Föhnfrisur, dieselbe Lederleine, derselbe Hund: eine Fell-Explosion. Die Sonne ging jetzt auf, aber erst so gerade eben – das Licht war immer noch hellgrau, und als wir die Avenue erreichten, schalteten sich mit leisem Klicken die Straßenlaternen ab.

 

Was danach passiert ist, haben wir nicht besonders geplant, auch wenn das hinterher viele Leute behauptet haben – die Journalisten halten immer alles für überlegt, organisiert und erprobt, aber wir sind keine Terroristen. Das war alles ganz anders. Die Leute wollen immer wissen, warum, warum, warum – aber es gibt kein Warum, ist euch das noch nie passiert, dass es kein Warum gibt? So wie bei François und Madame Bonnot – manchmal gibt es einfach kein Warum.

Wir sind keine Terroristen.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Élise.

Niemand antwortete. Es tropfte uns in den Kragen, weil wir direkt unter den Dachvorsprüngen der Häuser entlanggingen. Eine Schar Kinder lief hüpfend an uns vorbei zur Schule, in Begleitung ihrer Eltern, aber zu dem Zeitpunkt haben wir nicht sonderlich darauf geachtet, noch nicht. Es blieben noch gut zwanzig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Ein kleines Mädchen kam dicht an mir vorbei und ich sah, wie eine hellgraue Laus in ihren schwarzen Haaren herumspazierte, mal über, mal unter den Strähnen hindurch. Mir kam der Magen hoch, und ich rülpste einen Luftschwall aus, der nach Zigaretten, Milch und Cornflakes schmeckte.

»Diese Gören widern mich an«, sagte ich.

Wir betraten einen kleinen Park und setzten uns auf eine Bank. Wenige Meter von uns entfernt, neben einem Mülleimer, lag ein Obdachloser auf dem Boden und schnarchte. Seine roten, schorfigen Hände ragten aus einer dunkelblauen Jacke hervor, die mit Schmutzflecken und Essensresten übersät war.

»Mit diesem Viertel geht es echt bergab«, bemerkte Gonzague.

»Stimmt«, seufzte Anne-Laure. »Diese Penner überall, die sind wirklich furchtbar.«

»Die sind wirklich furchtbar«, wiederholte ich mit hoher Stimme.

»Du findest dich wohl besonders lustig, was?«, entgegnete sie, die Augenbrauen erhoben und die Nasenflügel gebläht.

War einen Versuch wert.

Das Wetter war wirklich schäbig an jenem Tag, auch wenn das keine Entschuldigung ist. Es war das schlimmste Wetter, das man in Paris haben kann, der Himmel hing steingrau über den Gründerzeithäusern, keine Wolken, keine Sonne, und die krallenbewehrten Bäume tröpfelten auf unsere Kapuzen herab, der Kies auf den Wegen knirschte unter unseren Schuhen, und im feuchten Dreck lagen zerknüllte Metrotickets, Zigarettenstummel und Kronkorken herum. Ein Klon der alten Frau mit Hund kam vorbei und ließ den Köter an eine der Bänke pinkeln, wo sein dampfender Strahl von der Erde verschluckt wurde.

»Wir könnten zu mir gehen«, schlug Gonzague vor.

»Das ist doch winzig!«, nörgelte Florian.

»Nett von dir, Alter, aber hast du eine bessere Idee?«

»Okay, wir gehen zu Gonz«, sagte Anne-Laure und stand auf. »Und auf dem Weg dahin holen wir uns was vom Chinesen.«

»Wie kann man um diese Zeit schon Appetit auf chinesisches Essen haben?«

»Das wärmen wir uns dann später auf.«

Die Eltern von Gonzague leben in einem Herrenhaus an der Dordogne, deshalb haben sie hier im Viertel eine kleine Wohnung für ihn gemietet, damit er in Paris aufs Gymnasium gehen kann. Wir folgten Anne-Laure und verließen den Park durch das quietschende Tor.

Und dann ist was total Bescheuertes passiert: Gonzague wollte die Straße überqueren, er ist einfach losgelaufen, ohne nach rechts oder links zu schauen, und wir hörten ein Hupen. Ein gelber Motorroller kam in voller Fahrt auf ihn zu, und die Straße war rutschig. Ein lang gezogenes Kreischen der Bremsen – und im letzten Moment machte der Roller einen Schlenker und wich Gonzague aus.

Der Rollerfahrer trug einen Helm, aber sein Hals und seine Hände waren zu sehen, und Gonzague hat ihm den Stinkefinger gezeigt:

»Kannst du nicht aufpassen, du dreckiger Gorilla?«

»So ein Arschloch!«, brüllte Florian, als der Roller schon um die nächste Ecke bog.

Dann haben wir alle die Straße überquert, und Anne-Laure ist auf Gonzague zugerannt:

»Alles okay, Gonz? Mann, hab ich mich erschrocken!«

Gonzague schüttelte den Kopf, er biss sich auf die Lippen und seine Hände zitterten. Er sagte:

»Geht schon. Mir würde es allerdings noch besser gehen, wenn hier nicht so viele dreckige Neger unterwegs wären, die alle nicht fahren können.« ...

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