Hotel Schräg

Hotel Schräg

von: Martin Walker

Dörlemann eBook, 2015

ISBN: 9783038209225

Sprache: Deutsch

156 Seiten, Download: 1319 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hotel Schräg



Das ist Kunst


»Was machen wir heute?«, fragt Lola und wundert sich ein wenig, dass sich Alain noch nicht gezeigt hat. Das Frühstück nämlich hat sein Vater Emil serviert. Wortkarg, nicht unfreundlich, und er hat sie zu lange angeschaut dabei.

Das Frühstück ist im Vergleich zum Essen vom Vortag ein Fest – sieht man einmal vom dünnen Kaffee und der Haut auf der warmen Milch ab. Benoît und Lola tunken Speck in Eigelb, schmieren Brote, er liest das Lokalblatt von letzter Woche. Wundert sich über die Kleinanzeigen, gesucht werden tüchtige Frauen und Aebi-Ersatzteile, angeboten werden Kaninchenställe und Melkanlagen. Das Kreuzworträtsel ist ausgefüllt, die Kästchen vom Lösungswort sind leer. Benoît überfliegt die entsprechenden Buchstaben: Sie geben keinen Sinn.

»Ich versuche, auf der Gemeinde etwas herauszufinden über Valse, die werden ja wohl irgendwelche Aufzeichnungen haben, Meldezettel, was weiß ich.«

»Nach über fünfzig Jahren?«

»Beamte bewahren doch alles auf.«

»Dann schau ich mich in der Gegend um. Vielleicht begleitet mich ja Alain auf einen Spaziergang …«

Keine Reaktion. Nur ein »Mach das, tut dir gut«.

Und wie gut ihr das tun würde, denkt Lola und nimmt – sie weiß, das würde Benoît ärgern – noch eine Scheibe Brot, schmiert Erdbeerkonfitüre darauf und krönt das Ganze mit zwei Stück Tilsiter.

»Ich werde nie verstehen, wie du so etwas essen kannst«, tönt es von hinter der Zeitung hervor. Er musste an den Kleinanzeigen vorbeigelinst haben.

Benoît macht sich an seine Recherchen, hat sogar ein Notizbuch eingesteckt, einen kleinen Fotoapparat, eine Videokamera – wer weiß, vielleicht ergibt sich ja die Möglichkeit, ein Making-of seiner Arbeit zu produzieren, man kann nie genug Material dafür haben.

Lola wandert durch das Slant House. Leer. Totenstill. Noch nicht mal aus der Küche hört sie ein Geräusch. Der Alte muss, nachdem er das Frühstücksgeschirr abgeräumt hat, verschwunden sein. Auch von draußen nichts. Kein Mensch unterwegs, und das morgens um zehn nach zehn. Sie sieht das Schlüsselbrett beim Empfang: 01, 03, 05, 70, 80, 90, 111, 222, HKW. Den Schlüssel für die Nullfünf trägt sie selber schwer in der Tasche, der Haken bei HKW – HKW? – ist ebenfalls leer. Das will ich sehen, denkt sie, den Süd- und die anderen Flügel der Schrägs. In einer dunklen Ecke entdeckt sie einen Bilderrahmen, getraut sich aber nicht, hinter die Theke zu gehen, um ihn näher anzuschauen.

Eine zweite Treppe führt ebenfalls ins erste Stockwerk, wo sie auf Anhieb die Zimmer 70 bis 90 findet, ein länglicher, zweigeschossiger Anbau, der entfernt an ein amerikanisches Motel erinnert, soweit sie das vom Flur aus erkennen kann. Alles abgeschlossen. Die übrigen Zimmer scheinen nicht zu existieren. Lola verlässt das Slant, geht um das Haus herum und sieht plötzlich einen angebauten Turm, der ihr gestern schon hätte auffallen müssen, hätte sie der Zustand des Slant nicht so verwirrt. Sie öffnet die Tür, geht die Treppe hoch. Im ersten Stock die 111, abgeschlossen, eine Treppe höher die 222, abgeschlossen. Noch höher und sie steht vor HKW, drückt vorsichtig die Klinke – und erschrickt.

»Normalerweise klopfen wir an«, Alain liegt auf dem Bett und scheint so gar nicht überrascht.

»Was bedeutet HKW?«, fragt Lola und schaut zum Fenster hinaus, der Berg ist bedrohlich nahe.    

»Himmel Kann Warten. Komm her, ich zeig dir was.«

Lola setzt sich auf das Bett, nähert sich Alain, der sich umdreht und auf die Fotografie zeigt, die am Kopfende an der Wand hängt.

»Ein Valse.« Sie drehen sich die Gesichter zu, sehen sich an, verharren. »In diesem Zimmer hat er gewohnt, zusammen mit Gudrun, das ist die Frau auf dem Kalb, zuletzt allein, leider. Und weil das Zimmer eben diesen Namen hat, als sicher war, dass Gudrun aus Deutschland nicht wiederkommen würde, dass sie tot war, ermordet von den Nazis, hat Valse verlangt, ein anderes beziehen zu können – wo er sich dann noch in der ersten Nacht erhängt hat. Er hat alles meinen Großeltern vermacht, aber außer diesem Bild habe ich nie etwas gesehen. Ein feiner Mensch sei er gewesen, sagt Vater. Ich erzähl euch später mehr.«

Lola ist aufgewühlt. Denkt aber gleichzeitig: Benoît wird staunen. »Begleitest du mich auf einen Spaziergang durch das Dorf? Dann könntest du die Geschichte mit den Kamelen erzählen.«

»Einheimische klettern nicht, wandern nicht und spazieren erst recht nicht, du wirst dich schnell zurechtfinden. Aber von den Kamelen kann ich dir erzählen, geht allerdings nicht ganz schnell.«

Goa. Tönt gut. Goa-Party noch besser. Gerade wenn man aus einem Nest wie St. Meinart stammt. Mit achtzehn war Alain Schräg – ein achtzehnjähriger Mann, nicht mehr und nicht weniger, unerfahren, dafür mit gesundem Selbstverständnis ausgestattet, geerdet in einer Landschaft, die ihn nicht interessierte, sie war ja einfach da. Wie das Hotel auch. Und er wusste: St. Meinart, Slant House, das reicht nicht. Er packte eines Nachts ein paar Kleider ein, leerte den überraschend gut gefüllten Tresor gewissenhaft bis zur Rückwand (das schlechte Gewissen hielt sich in Grenzen, schließlich hat er die letzten Jahre nicht zu knapp in dem Hotel gearbeitet, ohne dass sein Vater auch nur daran gedacht hätte, ihm das irgendwie zu vergelten – er habe ja alles und brauche nicht mehr) und machte sich auf den Weg nach Goa. Darüber hatte er mal in einer Zeitschrift gelesen, hatte sich die Fotos angeschaut, und was er gelesen und gesehen hatte, hat ihm gefallen.

Die ungefähre Richtung war klar. Die Transportmittel zufällig. Die Reise lang und mit Umwegen und nicht geplanten Aufenthalten gespickt, unter anderem bereits in der Stadt, die gerade brannte. Er hat sich dort auch ein paar Wochen ausgetobt. Immerhin war er der Erste, der einen Molotow-Cocktail aufs Stadttheater geschmissen hat – ohne zu wissen, dass es das Opernhaus war. Aber es hat sich ja keiner getraut von den Städtern. Da musste schon einer vom Land kommen, einer, der sich auskannte mit Benzin und Öl. Und nicht nur darauf wartete, dass die ersten Schaufenster zu Bruch gingen, um sich bedienen zu können. Später hat er dann schon erfahren, worum es wirklich gegangen ist. Dort in der ehemaligen Fabrik bei den Vollversammlungen oder in dem Haus hinter dem Bahnhof, wo heute Busse stehen und ein albernes Gefährt seine Stadtrundfahrten beginnt, haben sie ihm erklärt, was man in der Stadt unter Kultur verstand und was eben nicht, noch nicht, dazugehörte. Und er war stolz darauf, etwas ausgelöst zu haben. Bewegung ist gesund, aber wer gesund lebt, lebt gefährlich – die Polizei hat hart durchgegriffen. Aber die Filme, die damals entstanden sind, die Drogen (gute Vorbereitung auf die Strandpartys, dachte er) und die Demos haben ihn fasziniert. Aufbruch, freie Sicht aufs Mittelmeer (das er eher als Indischen Ozean sah) und natürlich: Gurkensalat machen aus dem Staat, auch das wurde wieder aktuell. Gurkensalat mochte er schon immer gern.

Es war eine seltsame Zeit irgendwie, es fühlte sich schwebend an. Er war zu jung, um wirklich ein »Bewegter« zu sein, zu weit weg von den Leuten und überhaupt wollte er nach Goa. Alain schlenderte den Fluss entlang, dessen Ufer hier in maßloser Überschätzung Riviera genannt wurde, trank einen türkischen Kaffee und hörte Lady in Black, die sich in dem Café in einer Endlosschlaufe zwischen den niedrigen Hockern durchschlängelte. Und so muss es ein Sonntag gewesen sein, an dem er weiter nach Osten gegangen ist. Jetzt musste es schnell gehen, die Flugroute war abenteuerlich, die Stewardessen resolut und blondiert, dafür war das Ticket günstig.

Endlich der Strand von Goa: umwerfend. Laute Partys, unkomplizierte Frauen (eine höchst verblüffende Entdeckung, nichts mit Regarder, ne pas toucher!), schmackhaftes Essen und Gewürze, die wie kleine Feuerwerke seinen Gaumen erhellten. Und das Wetter: schön und heiß. Er spürte die luzide Erkenntnis keimen, dass er hier nie wieder weg wollte. Alain war in Trance.

Auch wenn der Tresor gut gefüllt war und Alain sparsam lebte, gingen die Mittel doch zur Neige. Aber er hatte ja von seinem Urgroßvater Unternehmergene geerbt. Also los, Arbeit suchen, am besten dort, wo es nicht von Touristen wimmelte, wie hier. Küste hoch, Zwischenhalt in Mumbai, weiter nach Jaipur. Da gab es zwar auch Touristen, aber solche mit mehr Geld. Zuerst das Umfeld analysieren, unbefriedigte Bedürfnisse der Kunden ermitteln und daraus eine Geschäftsidee entwickeln. Das Investitionsvolumen berechnen, Ausgaben definieren, Einnahmen rudimentär skizzieren, einen lokalen Kompagnon suchen und, das Wichtigste, Visitenkarten drucken. Das Umfeld bestand unter anderem aus Elefanten, die traditionellerweise und mittlerweile vor allem zu touristischen Zwecken bunt bemalt wurden. Alain führte, noch ganz besessen von Goa, neue Muster ein. Das war die Geschäftsidee: Er verkaufte aus Bananenblättern ausgestanzte Ornamente, die dann mit wasserfesten Farben nur noch auf die vorher sanft rasierte Elefantenhaut aufgerollt wurden. Alain mietete einen Laden an zentraler Lage, gleich neben dem Karachi Kirana Store: Jaipur Novelties.

Die Touristen in Jaipur waren begeistert und verlangten immer häufiger nach den »bekifften Elefanten« mit Paisley-Mustern und psychedelischen Verzierungen, die sich auf den Fotos so gut machten vor den roten Hausfassaden, neben dem Hawa Mahal oder zwischen den mageren Kühen, den Autos, den Motor- und Fahrrädern, den Handkarren und...

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