Keiner hält Don Carlo auf

Keiner hält Don Carlo auf

von: Oliver Scherz

Thienemann Verlag GmbH, 2015

ISBN: 9783522610575

Sprache: Deutsch

112 Seiten, Download: 8431 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Keiner hält Don Carlo auf



»Wie komm ich von hier nach Palermo?«, frag ich.

Hinterm Schalter im Bahnhof sitzt eine Frau. Die tippt was in ihren Computer. Ich knibbel aufgeregt an meiner Geldrolle rum.

»Die nächste Möglichkeit wäre um 14 Uhr 49 nach München, Gleis drei. Dann umsteigen in den Nachtzug nach Rom. Der ist morgen früh um 9 Uhr 25 da. Eine Stunde später Abfahrt nach Palermo. Ankunft in Palermo Sonntagnacht um 23 Uhr«, sagt die Schalterfrau.

Erst Sonntagnacht in Palermo?! Wieso dauert das so lange? Da bin ich ja nie am Montag zum Frühstück wieder hier!

»Geht das auch schneller?«, frag ich.

»Nein. Schlafwagen oder Liegewagen von München nach Rom?«

Ich komm nicht hinterher. Ich denk noch über Sonntagnacht und 23 Uhr nach. Die Frau tippelt mit den Fingern auf den Tisch.

»Schlafwagen oder Liegewagen?«, werd ich schon wieder gefragt. Keine Ahnung. Ich liege immer, wenn ich schlafe.

»Schlafwagen«, sag ich.

»Das macht dann 278 Euro 95.«

278 Euro?! Ich hab 210 Euro in meiner Geldrolle. Und die ist dick. Meinen ganzen Tresor hab ich leer gemacht. Ich dachte, die Hälfte reicht für den Zug nach Palermo. Mindestens.

»Wird’s vielleicht billiger, wenn ich mich nirgendwo hinlege und nur im Gang sitze?«, frag ich.

Die Frau schiebt ihre Brille hoch und guckt mich komisch an.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragt sie.

»Elf«, sag ich.

Ich hätte dreizehn sagen sollen! Das denken sowieso alle. Dass ich schon dreizehn bin. In dem Anzug, den ich anhab, erst recht. Der ist edel, mit weißem Hemd und Krawatte. Im Anzug seh ich aus wie ein italienischer Don. Don Carlo, der Gangsterboss. Und den hält keiner auf. Früher hat der Anzug Papa gehört. Den hat er als Kind getragen, wenn’s was Wichtiges gab. Jetzt gehört er mir. Und ich hab was Wichtiges vor. Ich hol uns Papa zurück.

»Wo sind denn deine Eltern?«, fragt die Schalterfrau.

»Papa ist in Palermo und Mama arbeitet im Altenheim.«

»Und deine Mama und dein Papa sind einverstanden, dass du alleine eine so weite Reise machst?«

»Mit Mama kann man nich’ drüber reden, das geht sofort nach hinten los«, kommt’s einfach aus mir raus.

Wenn ich Mama frage, wann wir Papa endlich besuchen, zählt sie nur seine Fehler auf und wird so wütend, als wär er noch da. Ich hab ihr gesagt, dass ich bei Martin aus meiner Klasse übernachte und morgen den ganzen Tag mit ihm unterwegs bin.

Die Frau lächelt nicht mehr. »Ich kann dir die Fahrkarteleider nicht verkaufen, wenn deine Mutter oder dein Vater nicht dabei sind.« Jetzt macht sie eine Pause. »Sag mal … bist du vielleicht von zu Hause abgehauen, Junge?«

Ich fang an zu schwitzen. »Nee. Ich will zu meinem Papa. Da ist auch zu Hause.«

Wieso sagt die Schalterfrau nicht einfach, ob’s nach Palermo auch billiger geht? Irgendwie läuft alles falsch.

»Wartest du mal kurz einen Moment, ja?« Die Frau geht zu einer anderen Schalterfrau. Sie sprechen leise miteinander und gucken ernst zu mir rüber. Die sind gegen mich. Ist klar.

Jetzt kommt die Frau wieder. »Ich möchte gern mit deiner Mutter telefonieren. In Ordnung? Gibst du mir bitte ihre Telefonnummer?«

Ich nehm meinen Koffer und dreh mich um.

Dann renne ich aus der Halle, an zwei Sicherheitsleuten vorbei. Die sind auch gegen mich, bestimmt. Ich renne noch schneller. Direkt zu Gleis drei, die Treppen rauf und den ganzen Bahnsteig runter, bis zum Ende. Am Ende versteck ich mich hinter dem Süßigkeitenautomaten, da ist erst mal Ruhe.

Aber in meinem Kopf geht alles durcheinander. Die Schalterfrau. Mama. Sonntagnacht. 278 Euro. Mein Plan war viel einfacher! Ich wollte mich in den Zug setzen und los. Den Briefumschlag mit Papas Adresse hab ich dabei. Das Foto von seinem Balkon auch. Und die Italienkarte kenn ich auswendig. Palermo ist eine Stadt auf Sizilien und Sizilien ist eine Insel. Die ist weit unten, im Süden von Italien. Auf der Karte sieht Italien aus wie ein Stiefel und Sizilien liegt wie ein Fußball direkt vor der Fußspitze. Ich weiß also genau, wo ich hinmuss.

Seit fünf Monaten will ich jetzt schon nach Palermo. Seit fünf Monaten, zwei Wochen und sechs Tagen. Seit Papa weg ist, weil Mama ihn rausgeschmissen hat. Mitten in der Nacht. Nur Papas Sachen liegen jetzt noch in Kisten unten im Keller. Die hab ich am Anfang wieder raufgeschleppt.

»Carlo, das geht nicht!«, hat Mama gesagt.

»Wann kommt Papa wieder?«, hab ich gefragt.

Mama hat an die Decke gestarrt und nach Antworten gesucht. Aber an der Decke gab’s keine guten Antworten.

Seitdem warte ich. Ich warte immer. In der Schule, im Bett, beim Essen. Ich werd das Warten auf Papa nicht los. Aber Mama will nicht hin und Papa kommt nicht her. Also muss ich’s alleine versuchen. Papa überraschen. Einfach vor seiner Tür stehen und ihn zurückholen. Aber ohne Fahrkarte komm ich nicht zu ihm!

»Wenn du was willst, musst du’s durchziehn, Carlo. Dann schaffst du alles! Du musst es nur wirklich wollen. Und einfach durch! Bloß nicht so viel denken!«, hat Papa mal auf dem Zehnmeterbrett gesagt. Dann ist er mit ’ner Arschbombe runter. Ich hab ein Foto von ihm, mitten im Sprung. Seine goldene Kette fliegt hinter ihm durch die Luft und die Sonnenbrille sitzt noch oben auf seinem Kopf, wie immer.

Als der ICE kommt, nehm ich meinen Koffer. Ich hör Papas dickes Lachen, wenn er die Tür in Palermo aufmacht und ich vor ihm stehe: »Du bist ganz alleine von Bochum bis hierher gefahren?! Du bist ein Kerl, Carlo. Du bist wie ich!«

Ich schalte meinen Kopf aus. Wie aufm Zehner. Da bin ich auch gesprungen, ohne zu denken. Die Wagen vom Zug seh ich verschwommen. Wie durch Mamas Brille. Lieber unscharf gucken, keinen Schaffner sehen. Ich fahre ohne Karte, beschlossen.

Beim Einsteigen schau ich nur auf den Boden. Dann lauf ich durch den Gang. Von einem Abteil zum nächsten, bis ins Restaurant. Als ich am Tisch sitze, fahren wir schon aus dem Bahnhof. Zurück geht jetzt nicht mehr.

Plötzlich fährt unser Wohnhaus vorbei. Meine Italienflagge flattert am Geländer von unserm Balkon. Der geht nach hinten zu den Gleisen raus. Von da aus hab ich den ICEs nachgeguckt und meinen Plan gemacht. Jetzt schau ich dem Balkon hinterher … Morgen Nacht bin ich in Palermo. Eigentlich wollte ich da schon zurück sein, mit Papa zusammen. Ich wollte seine Sachen aus dem Keller holen, noch bevor Mama von der Nachtschicht nach Hause kommt …

Ein Mann schaut komisch zu mir rüber. Als ob er merkt, dass ich schwarzfahre. Ich dreh mich weg, weil ich so auffällig schwitze. Ich möchte am liebsten abtauchen. Sofort.

Zwischen meinen Füßen liegt ein Hund. Der gehört zur Frau hinter mir und hat sich unterm Sitz durchgeschoben. Ich beug mich zu ihm runter und verschwinde mit dem Kopf unterm Tisch.

Der Hund kaut auf einer alten Fahrkarte rum und guckt lieb zu mir hoch. Hunde mag ich. Denen ist egal, dass ich schwarzfahre oder dass ich dick bin. Hauptsache, sie kriegen was zu fressen. Und Hunde glauben immer, dass ich was zu fressen bei mir hab.

Ich hol ein Pizzabrötchen aus der Anzugtasche. Der Hund wedelt sofort mit dem Schwanz. Und mir geht’s auch gleich besser.

»Die Fahrkarten bitte!«

Ich zucke zusammen und stoß mit dem Hinterkopf an die Tischplatte. Das wummert richtig. Mir wird fast schlecht. Ich dachte, Schaffner kommen nicht ins Restaurant!

Ich bleib mit dem Kopf unterm Tisch und gucke unscharf auf die Schuhe vom Schaffner und auf den Knipser, der an seinem Gürtel baumelt.

»Hilf mir, Hund«, flüstere ich.

Aber der Hund schluckt bloß das Pizzabrötchen runter und kaut weiter auf der alten Fahrkarte rum.

Der Schaffner ist schon mit dem Mann gegenüber fertig. »Guten Tag?!«, ruft er jetzt zu mir runter. »Ihre Fahrkarte bitte!«

Ich zwäng mich unterm Tisch vor und rück mich vorm Schaffner zurecht. Meine Krawatte hängt schief und das feine Hemd klebt an meinem dicken Mozzarella-Bauch. Ich hab’s überm Bauchnabel fast durchsichtig geschwitzt. Wenn der Schaffner mich zurückschickt, bringen mich die Sicherheitsleute vom Bahnhof zu Mama. Dann komm ich nicht mehr zu Papa, nie.

»Junger Mann! Ihre Fahrkarte!«

»Die hat der Hund gefressen«, sag ich auf einmal.

Oder hab ich’s nicht gesagt? Der Schaffner beugt sich vor, als hätte er mich nicht richtig verstanden.

»Der Hund hat sie gefressen. Da kann ich nichts für«, sag ich noch mal. Ich zeig untern Tisch.

Der Schaffner geht langsam in die Hocke und ich seh mit ihm zusammen nach: Von der alten Fahrkarte liegen nur weiche Reste auf dem Boden und ein paar Fetzen hängen aus der Schnauze vom Hund.

»Das gibt’s doch nicht …«, sagt der Schaffner.

Die Frau hinter mir dreht sich um und zerrt ihren Hund sofort an der Leine zurück.

»Was hast du gemacht, Rudi?!«, ruft sie.

»Er hat die Fahrkarte von dem Jungen gefressen!«, sagt der Schaffner und fängt an zu lachen.

Jetzt drehen sich auch die anderen Gäste um.

Die Frau packt Rudi am Nacken und holt ein paar Fetzen aus seinem Maul. Da ist aber nichts zu retten. Jetzt lachen alle im Restaurant. Außer mir und der Frau.

»Is’ gut. Die...

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