Carsick - Meine unglaubliche Reise per Anhalter durch Amerika

Carsick - Meine unglaubliche Reise per Anhalter durch Amerika

von: John Waters

Ullstein, 2015

ISBN: 9783843711722

Sprache: Deutsch

400 Seiten, Download: 3190 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Carsick - Meine unglaubliche Reise per Anhalter durch Amerika



PROLOG:
GEHT’S IN MEINE RICHTUNG?


Ich war lange nicht mehr so aufgeregt und nervös. Vielleicht noch nie. Gerade habe ich einen Vertrag für ein Buch unterschrieben, mit dem wahrscheinlich kürzesten Pitch aller Zeiten. Ich, John Waters, werde allein per Anhalter von meinem Haus in Baltimore bis zu meiner Wohnung in San Francisco fahren und aufschreiben, was passiert. Klingt simpel, oder?

Bin ich komplett bescheuert? Brigid Berlin, in den Sechzigern gefährlichster und glamourösester von Andy Warhols Superstars, meinte neulich zu mir: »Wie kann ich mit siebzig noch angesagt sein?« Gute Frage. Okay, ich kann immer noch behaupten, ich sei »zwischen zwei Filmen«, wie man in Hollywood sagt, aber als sogenanntem Kultfilm-Regisseur ist mir schon lange klar, dass ich nicht nur einen Plan B brauche, der einen ähnlichen Stellenwert für mich hat wie Filme drehen, sondern auch einen Plan C, D und E. Aber Plan T für »Trampen«? Meine Güte, ich bin sechsundsechzig Jahre alt.

»Du hast dein ganzes Leben lang hart gearbeitet, um einen gewissen Komfort zu erreichen, warum willst du jetzt so etwas Unkomfortables tun?«, fragte mich Marianne Boesky, meine New Yorker Kunsthändlerin, als ich ihr von meinem »Undercover-Reiseabenteuer« erzählte, wie der Verlag mein neues Buch anpreist. Ein Schauspieler, der in meinen ersten Filmen mitgewirkt hat und vor kurzem eine Zeitlang obdachlos war, reagierte noch aufgebrachter, als ich andeutete, ein Anhalterbuch schreiben zu wollen. »Kein Mensch wird dich mitnehmen«, warnte er mich und erzählte, er habe selbst letztes Jahr notgedrungen versucht, in Florida zu trampen. »Niemand nimmt heute noch Anhalter mit«, schimpfte er. »Niemand!«

Selbst erfolgreiche Hipster reagierten schockiert, als ich ihnen meinen Plan anvertraute. »War nett, dich kennengelernt zu haben«, brummelte ein befreundeter kalifornischer Fotograf scherzhaft bei einem Abendessen, als er feststellte, dass er mich nicht vor Ende meiner Hobo-Homo-Reise wiedersehen würde. Mein Gott, fragte ich mich, ging es mir etwa wie JFK auf den kürzlich veröffentlichten geheimen Tonbandaufnahmen aus dem Weißen Haus, auf denen er seinen ersten Tag nach der Rückkehr aus Dallas plant und dazu bemerkt, was für ein »harter Tag« das werden würde? Von seiner Ermordung ahnte da noch keiner was. Wenn der gewusst hätte.

Was will ich eigentlich beweisen? Also, langweilen tue ich mich nicht. Neulich lernte ich eine ehemalige Strafgefangene kennen, die behauptete, ihre kriminelle Vergangenheit hätte nichts mit einer schwierigen Kindheit zu tun, sondern allein mit ihrer »Lust auf Abenteuer«. Die habe ich auch. Kicks eben. Aber bin ich nach fünfzehn Filmen und sechs Büchern nicht eigentlich zufrieden? Meine Karriereträume sind schon vor Jahren in Erfüllung gegangen, und was ich jetzt mache, ist auch nicht schlecht. Sollte ich mich nicht zur Ruhe setzen, statt den Daumen rauszuhalten? Aber wozu zur Ruhe setzen? Um verrückt zu werden?

Kann mir etwas passieren? Ich weiß, dass Serienmörder regelmäßig Anhalter aufsammeln und umbringen, aber sind die Opfer bedauerlicherweise nicht meistens junge Nutten? Ja, ja, ich habe von Herb Baumeister gehört, dem »Würger von der I-70«, der mindestens sechzehn Männer stranguliert hat, aber die hat er in Schwulenbars aufgegabelt, nicht an Raststättenauffahrten. Ich muss allerdings zugeben, dass ich selbst ein paar ziemlich durchgeknallte Trucker kenne. Einer von ihnen muss einiges Stirnrunzeln bei meinen Nachbarn ausgelöst haben, als er mich besuchen kam und seinen Sattelzug in der kleinen Straße vor meinem Haus parkte, womit er praktisch den halben Block blockierte. Er ist lustig und sexy und hetero, aber ein echter Freak, und er erzählt gern Horrorgeschichten von unterwegs. Wie er auf Speed junge Ausreißerinnen mitnimmt und sie hinten in seinem Truck vögelt oder mit einem Beutel fremdem, cleanem Urin für eventuelle Drogentests mit Vollgas durch die Nacht rast und dabei in einen Strumpf masturbiert. Lachend gestand er mir, manchmal nichtsahnenden Vorstädtern eine riesige Ladung Kies auf den Rasen zu schütten, wenn eine Wiegestation vor ihm liegt und er weiß, dass er zu schwer geladen hat. Was, wenn mich so jemand mitnimmt?

Kann ich wirklich auf die strikte Tagesplanung verzichten, an die ich mich im normalen Leben so gewöhnt habe? Ich? Der ultimative Kontrollfreak, der Wochen im Voraus plant, wann er Süßigkeiten essen darf? Klar habe ich die Route für den Trip genau geplant und meine zu wissen, wie viele Raststätten es auf dem Weg gibt und wie weit sie auseinanderliegen, na und? Soll ich wirklich aussteigen, wenn eine Mitfahrgelegenheit vom Weg abweicht, aber trotzdem Richtung Westen fährt? Ich finde zwar nicht, dass man es sich nicht immer aussuchen kann, sollte aber die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ich mich irre.

WIR SIND ALLE TRAMPS stand auf einem linksradikalen Poster, das ich in den Sechzigern, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, an der Wand hängen hatte. Ich weiß noch, wie mein Vater sich darüber aufregte. Ein Tramp. Das war in seinen Augen das Allerletzte. Kann ich jetzt, wo er traurigerweise von uns gegangen ist, endlich einer werden? Ein Vagabund? Ein Schmarotzer? Kann man ein Landstreicher sein, wenn man drei Häuser und Wohnungen besitzt und sich den Sommer über in Provincetown einmietet? Wird dieses Buch so etwas wie eine Neuauflage des inzwischen veralteten, aber enorm einflussreichen Sachbuchs Black Like Me von 1961, in dem der weiße Autor John Howard Griffin als Schwarzer verkleidet per Anhalter und Bus den Süden durchkreuzt, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, diskriminiert zu werden?

Ich habe genauso viel Angst wie der Mann in Black Like Me. Aber vor anderen Sachen. Schlechten Fahrern zum Beispiel. Es wundert mich, dass nicht jeden Tag jeder, der Auto fährt, dabei umkommt. Wenn man bedenkt, wie schnell die Leute direkt nebeneinanderher rasen. Und dabei auch noch SMS schreiben oder telefonieren. Oder einfach nur fahren wie die letzten Idioten! Niemand fährt wirklich sicher. Ich fürchte, mein unwillkürliches Beifahrergehabe wird den Leuten nicht gefallen. Wenn ich »Langsamer!« brülle oder auf imaginäre Bremsen steige, ist man mir dann wohl böse? Ich steige nie vorne ein, solange ich nicht hinterm Steuer sitze – außer in australischen Taxis, nachdem ich irgendwo gelesen habe, dass sie einen da für hochnäsig halten, wenn man hinten sitzt. Wenn man in Baltimore, wo ich lebe, vorne einsteigt, denken sie, man will sie überfallen, und knallen einen wahrscheinlich ab.

Letztendlich habe ich einige Erfahrung als Anhalter. Man kann sich das heute kaum vorstellen, aber Anfang der Sechziger ließen mich meine Eltern jeden Tag von der Highschool nach Hause trampen. Das machten alle. Die Straßen waren voll von schick angezogenen Teenagern mit ausgestrecktem Daumen und Lacrosse-Schläger über der Schulter. Ich bin sicher, dass damals schon genauso viele Serienmörder unterwegs waren wie heute, es bekam nur niemand mit. Niemand warnte uns vor den Gefahren des Trampens. Davon, dass überall das Böse lauere, war jedenfalls keine Rede.

Natürlich gab es Perverse, und ich hatte jedes Mal einen Ständer und hoffte, einer von ihnen würde mich mitnehmen und mir einen blasen. Was auch oft geschah. Auf dieser Reise werde ich es vermutlich immer noch wollen, aber statt einem Ständer habe ich wohl eher Viagra in der Tasche. Ist Trampen per se schwul? Sind nicht Fernfahrerkneipen und trampende Schlägertypen in Levi’s-Klamotten Grundbestandteil von Pornofilmen? Meine geplante Route ist die I-70 West, und sollte mich tatsächlich jemand in die Richtung mitnehmen, dann werde ich herausfinden, ob es die Kansas City Trucking Company wirklich gibt – oder ob es nur der Name eines fiktiven Unternehmens im gleichnamigen Schwulenklassiker von Joe Gage war. Ich bin auf einer Reise von El Paso nach Marfa, Texas, an der echten El Paso Wrecking Corp. vorbeigefahren – so hieß die Fortsetzung von Gages Film – und fast vom Highway abgekommen. Sollte es diese Trucking Company wirklich geben, könnte ich mich vielleicht dort absetzen lassen und mich mit den Leuten anfreunden.

Als junger Mann bin ich auf allen fünf großen Interstates kreuz und quer durchs Land gefahren und fand es immer toll. Wir überführten Wagen von einem Ende der USA ans andere, ließen uns von den Besitzern die Schlüssel geben und mussten nur noch das Benzin zahlen. Ich weiß noch, wie ich mit ein paar Freunden (David Lochary, Steve Butow und David Hartman) in Minneapolis stoned auf einen wunderschönen Sonnenuntergang zufuhr und dabei »America the Beautiful« sang. Im Nachhinein wundert es mich, dass man uns die Wagen anvertraute, so wie wir damals aussahen, aber auch wenn wir gegen die Regeln verstießen, indem wir andere Leute (und Drogen) mitnahmen, lieferten wir die Wagen immer heil ab. Wenn ich es mir allerdings genau überlege, haben wir nie Tramper mitgenommen, und das war auf dem Höhepunkt der Hippiezeit. Warum also sollte jetzt, 2012, jemand bei mir anhalten?

Wenn ich in Provincetown bin, trampe ich immer noch nach Longnook, den schönsten Strand in Truro (zirka fünfzehn Kilometer entfernt). Normalerweise verabrede ich mich dazu. Der Autor Philip Hoare, die Künstlerin und Sängerin Kembra Pfahler, der verstorbene, großartige Kunsthändler Colin de Land, sie alle standen mit mir am Highway. Und im Grunde gab es nie ein echtes Problem. Einmal war ich mit der Fotografin Henny Garfunkel unterwegs, die mit ihrer extremen Frisur und ihren atemberaubenden Outfits Kinder zum Weinen bringen kann, als ein Mann...

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