Wiener Flohmarktleben

Wiener Flohmarktleben

von: Richard Swartz

Paul Zsolnay Verlag, 2015

ISBN: 9783552057555

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 1093 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wiener Flohmarktleben



 

 

Auf Großmutters Glas waren die Karlskirche und die k.k. Polytechnische Schule in Wien abgebildet. Im Vordergrund schlängelt sich der Fluss gleichen Namens wie die Stadt sacht durch eine Landschaft mit Wiesen und Laubbäumen, die heute verschwunden sind, während der Fluss in einem Korsett aus Stein und Beton zu einem Bach zusammengeschnürt wurde, der nicht einmal dazu taugt, sich darin zu ertränken.

K.k. steht für kaiserlich-königlich. Das Glas kam aus der Werkstatt von Anton Kothgasser und muss irgendwann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefertigt worden sein, bevor k.u.k. – kaiserlich und königlich – durch den sogenannten Ausgleich zu der üblicheren Abkürzung wurde. Ebenso bürokratisch wie diskret enthüllt diese sprachliche Veränderung, dass die Habsburgermonarchie nach der Niederlage Österreichs im Krieg gegen die Preußen im Jahr 1867 in eine österreichische und eine ungarische Hälfte gespalten wurde. In der ungarischen Hälfte war der österreichische Kaiser aber nur König.

Das Glas gehörte zu den Gegenständen in der Grevgatan, die die Großmutter vor dem Krieg in Frankreich gekauft hatte, oft auf dem Flohmarkt an der Place de Clingancourt in Paris oder in Dörfern, deren Namen sie schon längst vergessen hatte. Seltsam aber, wie Wien in der Dordogne landen konnte. Sie hatte ihr österreichisches Glas nur deshalb gefunden, weil es zufällig neben einer Bonbonniere aus der berühmten Glashütte in Daumè-Nancy stand, einer Schale aus olivgrünem Überfangglas mit kleinen Medaillons auf dem Deckel und an den Seiten der Schale, die Angler zeigten. Diese Fischer, sogenannte pêcheurs à la ligne, standen oder saßen unter Weiden entlang der Ufer eines unbekannten Flusses. Ihre langen Angeln ragten über das Wasser hinaus oder in einen durchsichtigen Glashimmel hinein. Mehrere der Angler hatten Stummelpfeifen im Mund; sie rauchten oder saugten an kalten Pfeifen, während sie darauf warteten, dass etwas anbiss.

Zuerst hatte sich die Großmutter für die Bonbonniere interessiert, aber sie erwies sich als viel zu teuer. Auf einem solchen Niveau mit dem Handeln zu beginnen war nicht denkbar, noch dazu hatte der Händler ihr den Rücken zugekehrt, als hätte er alle Zeit der Welt, aber auf einem Flohmarkt ist die Zeit knapp: Jemand kann einem zuvorkommen und einen Gegenstand wegschnappen, einen Augenblick nachdem man ihn selbst entdeckt hat. Die Großmutter hatte weitergehen wollen, dann aber das Glas entdeckt, was nicht möglich gewesen wäre, hätte sie sich nicht zuerst mit der Bonbonniere beschäftigt.

Unbeschädigt. Und hier, in der Dordogne, war Kothgassers Glas ausländisch und billig gewesen.

Es war ein reines Schmuckglas, ausschließlich fürs Auge hergestellt; was Kothgasser geschaffen hatte, existierte um seiner Schönheit willen. Als Gegenstand war es unbrauchbar, keinem Menschen wäre es eingefallen, daraus zu trinken. Schon in der Zeit des großen Glaskünstlers wurde ein solches Glas in einer Vitrine oder auf einem Sekretär zur Schau gestellt. Dass die Großmutter es gut hundert Jahre später zwischen ihre Topfpflanzen auf das Fensterbrett gestellt hatte, schien die Befürchtungen meines Vaters im Hinblick auf das Bohemeleben in der Grevgatan nur zu bestätigen.

Das Glas, wie ich es in Erinnerung habe, war nicht höher als gute zehn Zentimeter, mit einem breiten, plumpen Fuß, der dem eines Elefanten glich. Bei diesem Tier ist es nicht leicht zu sagen, wo das Bein endet und der Fuß anfängt. Kothgasser hatte den Fuß des Glases geriffelt, vergoldet und dann die handkolorierte Stadtansicht eingerahmt, die, umrankt von einigen goldenen Arabesken, die Karlskirche und die Polytechnische Schule darstellte.

Hob man das Glas vorsichtig in das Licht, das in Großmutters Zimmer durch die Fenster fiel, zeichnete sich ein Stück Wien zwischen Auge und Himmel ab: aber eine sonderbar leere Stadt, ohne die Menschen, die doch darin wohnen mussten, als hätte Kothgasser die Einwohner der Stadt als überflüssig oder ganz einfach als störend empfunden, sich ausschließlich für Kirchtürme, Fassaden und die etwas steifen Laubbäume im Vordergrund interessiert.

Diese Misanthropie war störend. Kothgassers Wien war gespenstisch, als gehörte die Stadt in einen Albtraum oder wäre von ihren Einwohnern panikartig verlassen worden. Ein wolkenverhangener Himmel türmte sich hinter der Karlskirche auf. Obwohl die Wolken ebenso gut Rauch sein konnten, der vom Brand in einer der Wiener Vorstädte zum Himmel aufstieg, stickiger Rauch von Feuersbrünsten, die dort wüteten, jedoch versteckt hinter dem, was man sah, wenn man das Bild betrachtete.

Viele Jahre später sollte ich ein ähnliches Glas auf dem Flohmarkt von Wien in der Hand halten. Er befand sich damals immer noch auf dem Platz Am Hof im ersten Bezirk, von wo er erst Ende der siebziger Jahre zum Naschmarkt im sechsten Bezirk umziehen würde. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammte das Glas aus Anton Kothgassers Manufaktur, Kunstglas, das schon damals sehr selten zu werden begann und deshalb oft kopiert oder gefälscht wurde. Wie Onkel Acke es mich gelehrt hatte, drehte ich es um, wegen der feinen, unregelmäßigen Kratzer an der Unterseite des Fußes, die den neu hergestellten Gläsern fehlen und die von den Fälschern gewöhnlich vergessen werden; solche Kratzer sind eines der sichersten Zeichen für alte und echte Ware.

Hatte das Glas solche Kratzer?

Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht an das Motiv des Glases oder daran, was es kosten sollte, nur dass ich es vorsichtig zurück an seinen Platz stellte. Vermutlich war das ein Fehler. Auf einem Flohmarkt kommt es vor, dass man bereut, was man kauft, öfter jedoch bereut man, was man nicht gekauft hat. Im Nachhinein will ich nicht ausschließen, dass es das einzige Mal war, dass ich den Flohmarkt besuchte, als er sich noch auf dem Platz Am Hof befand. Jedenfalls ist es so lange her, dass ich mich an nichts anderes erinnere als an dieses vermutlich echte Kothgasserglas, das ich nicht kaufte, und an einen grauen, milden Wintertag mit leichtem Schneefall.

Schnee fiel in Wien sehr früh an diesem Morgen. Die Händler hatten hier und da Plastikfolien über ihre Waren gelegt, regungslos und traurig betrachteten sie, wie diese langsam verschwanden; mit der Hand musste der Kunde den Schnee von den Gegenständen wegfegen, die zum Verkauf standen.

Kurz darauf zog der Flohmarkt in den sechsten Bezirk; ein paar Jahre später folgte ich ihm. Der Platz Am Hof hatte sich als zu beengt für einen Flohmarkt erwiesen. Denn kein Flohmarkt lässt sich wie ein Fluss in ein Bett zwängen, das er sich nicht selbst gegraben hat, wie ein nicht regulierter Strom muss er über seine Ufer treten können, ohne Rücksicht auf Form oder Richtung, mit ständigem Raum für immer mehr Sachen und Dinge.

Aber mitten in Wien gab es keinen solchen leeren Platz. Hier ist der offene Raum schon seit Jahrhunderten abgesteckt und in seiner endgültigen Form erstarrt, während die Häuser rings um den Platz Am Hof mit ihren strengen, abweisenden Fassaden unmissverständlich klarmachen, dass ihre Grenzen nicht verhandelbar sind. Am Hof ist ein autistischer Platz, der sich selbst überaus ernst nimmt. Er ist nur mit den menschlichen Grundbedürfnissen beschäftigt: Die große Feuerwache an der Nordseite des Platzes ist dafür da, die irdischen Güter zu schützen, die Kirche der Kroaten gegenüber, sich um die geistlichen zu kümmern. Solche noble Tätigkeiten gehören dorthin, während der Ramsch und die Vergänglichkeit, mit der ein Flohmarkt zu tun hat, als Hohn auf diese schützenden und bewahrenden Institutionen verstanden werden kann. Zusammen unterstreichen die Feuerwache und die Kirche, dass Am Hof ein Platz ist, der sich für den Menschen weit wichtigeren Dingen widmet als dem Schachern mit Dingen, die man auf einem Dachboden oder in einem Keller gefunden hat.

Vor allem aber fehlte dem Platz Am Hof das Umfeld, das jeder Flohmarkt braucht: Stadtviertel an der Grenze zum Verfall, Läden mit Schildern »Auslage in Arbeit« und schmutzigen Fenstern, Lokale von zweifelhaftem Ruf, Cafés, die erst ein paar Stunden vor dem Morgengrauen zumachen, Treffpunkte, wo ein Einkauf vom Flohmarkt begutachtet oder ein Geschäft abgeschlossen und begossen werden kann, was – angesichts der frühen Stunde – leicht zu allzu vielen Gläsern führen kann. Selbst der märchenhafteste Flohmarktfund kann so in kurzer Zeit zu einem richtig schlechten Geschäft werden. Wie ihre Kollegen im ersten Wiener Bezirk nehmen die Kellner in solchen Lokalen Bestellungen für Kaffee oder Wein entgegen, servieren auch nach Schließung der Küche ein Gulasch, ein Paar Frankfurter oder Debreziner, sind aber darüber hinaus sehr sachkundig bei der Begutachtung der Flohmarktfunde, wenn sie hier noch einmal den Besitzer wechseln.

Ein solches Lokal war lange Jahre das »Mario« am Naschmarkt. Es hatte fast rund um die Uhr geöffnet, und die Kellner waren mit den Flohmarktgeschäften genauso vertraut wie mit den Gewohnheiten und Wünschen ihrer Stammgäste. Hunde waren ebenso willkommen wie zahlende Besucher, manche Kellner betrunkener als die Gäste an den Tischen, die auf Bedienung warteten. In feierlichem Schweigen konnte ein solcher Kellner in diskretem Abstand vor dem Tisch stehen bleiben, an dem ein Gegenstand vom Flohmarkt gerade den Besitzer wechselte, bereit, seine Meinung anzubieten, falls er gefragt würde; und gefragt wird er, früher oder später, und was der Kellner dann meint – oft nur mit ein oder zwei Gesten, die einen Sachverhalt eher andeuten als feststellen –, entscheidet nicht selten die Verhandlung, ohne dass einer der Betroffenen sich gekränkt fühlt.

Aber selbst den Flohmarkt zu besuchen würde solch einem Kellner niemals einfallen.

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