Anästhesie maßgeschneidert
von: Michael Möllmann, André Hemping-Bovenkerk
Georg Thieme Verlag KG, 2015
ISBN: 9783132020719
Sprache: Deutsch
336 Seiten, Download: 4444 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
1 Anforderungen an die „moderne“ Anästhesie
André Hemping-Bovenkerk
1.1 Einleitung
Anforderungen, die an Anästhesisten und Anästhesien gestellt werden, haben sich ebenso rasant entwickelt und diversifiziert wie das Fachgebiet selbst. Betrachtet man die Anfänge, so finden sich erste Hinweise auf eine erfolgreiche Anästhesie bereits in der Bibel: „Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloss die Stätte zu mit Fleisch“ (Genesis II, 21). Damit verbunden sind bereits erste Anforderungen an eine Anästhesie, die zumindest auch der allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes Anästhesie vom griechischen anaisthēsía entsprechen, definiert als Ausschaltung der Schmerzempfindung.
Als Geburtsstunde und damit Start einer rasanten Entwicklung der „modernen“ Anästhesie gilt der 16. Oktober 1846 als William Thomas Green Morton in Boston eine erfolgreiche Äther-Anästhesie demonstrierte.
Zwar markiert dieser Tag den Beginn der Neuzeit für die Anästhesie, verbunden mit einem strukturierten und beabsichtigten Fortschritt, aus heutiger Sicht ist das damalige Vorgehen jedoch nicht mehr modern. Es entspricht nicht mehr gemäß Definition des Begriffes modern ▶ [11] dem neuesten Stand der geschichtlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklung.
Die Anforderungen an das Fachgebiet Anästhesie befinden sich in einem stetigen Wandel. Anforderungen, mit denen Morton 1846 konfrontiert war, sind aus heutiger Perspektive selbstverständliche Kernaufgaben geworden. Betrachtet man die historische Entwicklung der Anästhesie, so haben sich die Anforderungen an die Anästhesie deutlich verändert.
1.2 Historischer Überblick
Bis zur Entwicklung der Anästhesie war die Geschwindigkeit des Chirurgen neben seiner Geschicklichkeit ein wesentlicher, das Outcome beeinflussender Faktor.
1.2.1 Ausschaltung von Schmerzen
Schmerz war ein fester Bestandteil jeder Operation und der Versuch einer Ausschaltung des Schmerzes durch Tränke von Pflanzen, der Inhalation von Dämpfen und ähnlichem wurde keine Bedeutung beigemessen bzw. nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Letztlich blieb die Vorstellung, dass Schmerz gottgegeben sei, über Jahrhunderte hinweg theologisch legitimiert. Da die Mortalität während einer Operation ohne Analgesie und ohne aseptisches Vorgehen extrem hoch war, stellten Operationen oftmals den letzten Ausweg dar, wenn keine andere Aussicht auf Heilung mehr bestand.
Bereits 1772 wurde Distickstoffmonoxid (Lachgas) durch Joseph Priestley synthetisiert. 1800 erkannte Humphrey Davy als erster dessen analgetische Wirkung im Rahmen eines Selbstversuches bei Zahnschmerzen. Allerdings fand diese Entdeckung keine weitere Beachtung. Die Geburt der „modernen“ Anästhesie wurde sozusagen erneut verpasst. Zunächst wurde Lachgas – ebenso wie Äther, der bereits 1540 von Paracelsus beschrieben worden war – zur Belustigung auf Veranstaltungen und Jahrmärkten verwendet. Erst 1844 erfolgte der Versuch einer alleinigen Lachgasanästhesie durch Horace Wells. Ein erneuter Einsatz 1845 bei einer Vorführung im Boston General Hospital scheiterte dann jedoch aufgrund einer fehlerhaften Dosierung, sodass die Verwendung von Lachgas zur Anästhesie zunächst nicht weiter verfolgt wurde.
Am 30. März 1842 führte Crawford Williamson Long die erste erfolgreiche Äthernarkose durch. Weitere 4 Jahre später und insgesamt 300 Jahre nach der Erstbeschreibung durch Paracelsus fand am 16. Oktober 1846 die erste öffentlich beachtete Ätheranästhesie durch den Zahnarzt William Thomas Green Morton statt, unter der John Collins Warren unter Anwesenheit weiterer Kollegen einen Tumor am Hals entfernte. Morton war damit der Erste, der mit persönlicher Inspiration und Überzeugung das richtige Agens vor dem richtigen Auditorium, am richtigen Platz sowie zum richtigen Zeitpunkt der Geschichte verabreichte und für eine Verbreitung dieser Neuigkeit über den gesamten Globus sorgte ▶ [5].
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Äther und Chloroform, das lange Zeit als Monoanästhetikum in der Geburtshilfe Verwendung fand, zur Einleitung und Aufrechterhaltung einer Inhalationsanästhesie eingesetzt. Dann folgten zunächst Halothan und Enfluran. Später wurden injizierbare Kurznarkotika (ab 1924 Barbiturate) und Opioide entwickelt.
Parallel zur Inhalationsanästhesie entwickelte sich auch die Lokal- und Regionalanästhesie seit 1884 stetig weiter. Bereits 1898/1899 führte Karl August Bier die erste neuraxiale Blockade durch.
1.2.2 Optimale Operationsbedingungen
Bis dahin waren die Anforderungen an die Anästhesie im Wesentlichen die Analgesie, Hypnose und Sicherstellung des Überlebens des Patienten. Mit der Entwicklung der ersten Muskelrelaxanzien kam als weitere Dimension der Komfort des Operateurs hinzu.
Der Anästhesist entwickelte sich vom Hilfsassistent chirurgischer Eingriffe im Operationssaal zum Spezialisten für Narkose und Betreuung von Patienten in kritischen Lebenssituationen ▶ [12].
1.2.3 Junge Geschichte der Anästhesie – Fokus Versorgungsqualität
1949 sollte im Rahmen des 52. Deutschen Ärztetages der Facharzt für Anästhesie in die Facharztordnung aufgenommen werden. Allerdings wurde der Beschluss aufgrund des Protestes weiterer Fachgesellschaften ausgesetzt. Erst 1952 wurde die „Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Anästhesie“ gegründet, aus der 1953 die „Deutsche Gesellschaft für Anästhesie“ hervorgehen sollte. 1960 wurde der erste außerordentliche Lehrstuhl (Prof. Frey, Mainz) eingerichtet und 1966 folgte der erste ordentliche Lehrstuhl in Hamburg. Diese Entwicklung kennzeichnet die zunehmende Bedeutung der Aus- und Weiterbildung von Anästhesisten sowie der wachsenden Diskussion um Mortalität und Sicherheit von Patienten, der durch eine strukturierte und entsprechend qualifizierende Ausbildung begegnet werden sollte.
Seitdem ist die Anästhesie fester Bestandteil des medizinischen Spektrums in Deutschland und ein Krankenhaus mit operativem Spektrum ohne Anästhesie undenkbar.
Die weitere Entwicklung der Anästhesie ist insbesondere durch Einführung eines Standardmonitorings und damit verbunden einer Diskussion um die Vermeidung von anästhesieassoziierten Todesfällen geprägt. Die Einführung der Pulsoxymetrie Mitte der 70er Jahre stellt einen wesentlichen Meilenstein dar.
Mit der Einführung der EEG-basierten Messung der Anästhesietiefe im Jahr 1996 rückte die Diskussion um eine adäquate Tiefe in den Fokus der anästhesiologischen Forschung, auch verbunden mit Fallberichten von Awareness und Bedenken um das Outcome der Patienten. Lange Zeit lag der Fokus der anästhesiologischen Outcome-Forschung auf der intraoperativen Wachheit ▶ [10].
Die wachsenden Anforderungen an das Fachgebiet erforderten neben der Qualifizierung zum Facharzt für Anästhesie weitere Subspezialisierungen. Neben der Zusatzbezeichnung „spezielle Schmerztherapie“ (1996) und „Notfallmedizin“ (2003) wurde auch die „spezielle Intensivmedizin“ aufgenommen. So wie sich die Anästhesie einst aus dem chirurgischen Fach heraus entwickelt hat, etabliert sich heute die Schmerzmedizin zunehmend als eigenständiges Fachgebiet, aber auch Notfall- und Intensivmedizin werden mehr und mehr als eigene Fachgebiete wahrgenommen.
1.2.4 Outcome
Aktuell erweitern nicht invasive Monitoringmethoden wie nicht invasive Herzzeitvolumen-Messung und Pulskonturanalysen das anästhesiologische Spektrum und tragen zu einer lebhaften Diskussion über den Einfluss der Anästhesie auf Mortalität und kognitive Fähigkeiten bei. Die Optimierung anästhesiologischer Arbeitsplätze unter arbeitspsychologischen und ergonomischen Gesichtspunkten verbunden mit einer besseren Übersicht und der Integration neuer Alarmhierarchien bringt zusätzliche Verbesserungen.
1.3 Anforderungen heute
Der historische Überblick zeigt, dass sich das Anforderungsspektrum in den letzten 160 Jahren seit der Geburtsstunde der „modernen“ Anästhesie stetig erweitert hat. Die rasante Entwicklung der Chirurgie, die Vergrößerung des operativen Spektrums und der Rückgang der operationsbezogenen Mortalität wären ohne die immensen Fortschritte in der Anästhesiologie kaum denkbar gewesen (▶ [12], ▶ [17]).
Die gestiegene Versorgungsquantität älterer und multimorbiderer Patienten erfordert auch weiterhin ein hohes Maß an Innovation und Qualitätsorientierung des Anästhesisten sowie die Anpassung an veränderte Anforderungen.
1.3.1 Aus Sicht der Patienten
Anästhesie erfordert die Betrachtung des gesamten Menschen, nicht nur eines erkrankten Organs. Für ein besseres Verständnis ist es essenziell, sich die Bedürfnisse und die daraus resultierenden Anforderungen aus Sicht der Patienten näher zu betrachten. Die Angst der Patienten, während der Anästhesie zu versterben, hat sich über die Zeit nicht wesentlich verändert, trotz des Vertrauens, dass die Anästhesie sicherer geworden ist ▶ [34]. Neben Awareness, Schmerz und PONV stellt mittlerweile die Sorge um kognitive Veränderungen eine neue Dimension der Bedenken dar. Aus Gründen der Übersicht wird im Folgenden auf die Darstellung der...