Iran - Die Revolution der Kinder

Iran - Die Revolution der Kinder

von: Navid Kermani

Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN: 9783406687051

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 5060 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Iran - Die Revolution der Kinder



Einleitung


Gestern besuchte ich Parastou Foruhar in Offenbach. Sie ist Künstlerin und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Ich wollte mit ihr die Passagen dieses Buches durchgehen, in denen ich die Ermordung ihrer Eltern Dariusch Foruhar und Parwaneh Eskandari schildere, zweier berühmter Oppositioneller. Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes haben sie am 22. November 1998 in Teheran umgebracht. Seither führt Parastou einen kafkaesken Kampf gegen die iranische Justiz, die an der Aufklärung der Verbrechen nicht interessiert ist. Immer wieder fliegt sie nach Iran, läuft Gerichtskorridore auf und ab, wartet vor Amtszimmern, wird abgewiesen und verschafft sich nach Stunden dennoch Zutritt, um in ein anderes Büro, ein anderes Gebäude, ein anderes Viertel geschickt zu werden, wo sie wieder durch Korridore irrt und vor Amtszimmern wartet. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nimmt. Sie hat zwei jugendliche Söhne, sie hat ihre Arbeit und ihre Ausstellungen, sie hat ihr Leben in Deutschland, und doch reist sie mehrmals im Jahr nach Teheran, wo sie im Haus ihrer Eltern wohnt, in dem Haus, in dem sie großgeworden ist. Sie sitzt an dem Schreibtisch, an dem ihr Vater ermordet worden ist, und verschickt Offene Briefe, wendet sich an die verschiedenen Behörden und Zeitungen, sie trifft Unterstützer und pilgert jeden Morgen in ein anderes Justizgebäude, obwohl sie die Hoffnung aufgegeben hat, dort je die Wahrheit zu erfahren.

Parastou ist eine selbstbewußte und liebevolle Frau, man spürt das sofort, wenn man sie trifft. Ihre Trauer verbirgt sie lieber hinter einem Scherz, als mit ihr hausieren zu gehen. Das zähe Drängen auf Aufklärung erklärt sie nicht als Akt des politischen Widerstands, sondern als einzige Möglichkeit, an den Morden nicht zu zerbrechen. Sie sagt das ganz schlicht: Wenn ich aufhöre nachzufragen, tragen die Mörder einen weiteren Sieg davon. Wenn ich resigniere, sterben meine Eltern noch einmal. Ihr Leben verpflichtet mich zur Beharrlichkeit. Sie hat Milchkaffee bereitet, aber auf die persische Art einer teetrinkenden Nation, Nescafé in heißer Milch, und sie hat Croissants auf den Küchentisch gestellt. Im Detail vergegenwärtigen wir jene Nacht, die Uhrzeit, zu der es bei ihren Eltern geklingelt hat, wieviel Männer ihre schon älteren, zerbrechlichen Eltern an welchen Stellen festhielten, wo das Messer in sie eindrang und wieviel Stiche es waren. Sie kennt die Einzelheiten aus den Protokollen der Täter und dem Gutachten des Gerichtsmediziners. Ja, die Täter sind gefaßt worden, aber deren Auftraggeber üben weiter ihre Staatsämter aus. Parastou durfte die Akten für kurze Zeit einsehen. Das Szenario, das sie vorstellen, ist widersprüchlich und blendet den politischen und religiösen Hintergrund aus, aber der eigentliche Tathergang wird doch erkennbar. Tathergang. Das Wort kenne ich aus dem Tatort und aus Pressekonferenzen deutscher Polizeisprecher. Es ist völlig unangemessen für das, was Parastou schildert. Aber weil sie versucht, möglichst sachlich zu sprechen, will auch ich das Wort nicht ersetzen. Ich will jede Einzelheit wissen und frage oft nach, dabei schäme ich mich meiner Fragen. Man will doch von der Tochter einer Ermordeten nicht wissen, worauf die Würgemale am Mund schließen lassen. Aber sie sagt jedesmal, wenn sie meine Scham bemerkt: Nein, nein, Sie sollen das alles hören, es ist gut, daß Sie nachfragen, man soll alles erfahren. Immer wieder kämpft sie mit den Tränen, aber nur ein einziges Mal verliert sie den Kampf, nämlich als sie berichtet, wie ihre Großmutter von den Morden erfuhr: aus den Nachrichten im Fernsehen, da sie gerade zu Abend aß. Ich habe vergessen zu fragen, wie alt die Großmutter und ob sie die Mutter des Vaters oder der Mutter ist. Sie muß schon über neunzig sein, vermute ich. Wieder und wieder stelle ich mir seit gestern die Szene vor, wie die Großmutter vor dem Fernseher zu Abend ißt, und dann teilt dieser verfluchte iranische Staatsrundfunk als eine der letzten Nachrichten ungerührt den Mord mit, den sein Staat selbst begangen hat. Ich weiß nicht, warum Parastou ausgerechnet hier die Tränen kamen und auch mir dieses Bild nicht aus dem Kopf geht, wahrscheinlich weil ich es mir im Unterschied zur eigentlichen Tat vorstellen kann, weil ich selbst iranische Großmütter kenne und wie sich ihr Leben vollständig auf ihre Kinder und Enkel richtet – und sie hatte dieses Kind nun schon sechzig oder siebzig Jahre zu behüten versucht und wegen seiner politischen Aktivitäten viele Stunden der Panik durchlitten –,weil ich weiß, was iranische Großmütter zu Abend essen, wie sie sich vor den Tisch im Wohnzimmer knien, um den Spielfilm nicht zu verpassen.

Später finde ich mich in der S-Bahn nach Frankfurt wieder und dann im Zug nach Berlin. Ich habe einen Stapel Bücher zur iranischen Geschichte mitgenommen, die ich noch einmal querlesen möchte. Aber es ist wie verhext: Gleich welches Buch, welche Seite ich aufschlage, treffe ich nur auf hingerichtete Politiker, verhaftete Schriftsteller, gefolterte Geistliche, ermordete Intellektuelle. Und alle haben sie nichts anderes getan, als ein Leben lang, vier, fünf, sechs Jahrzehnte für ihre Freiheit zu streiten. Es gelingt mir nicht mehr, über Nebensätze hinwegzulesen: war jahrelang schwerer Folter ausgesetzt, hat acht oder zwölf oder zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht, verbrachte den Rest seines Lebens unter Hausarrest, wurde hinterrücks erdolcht. Jede dieser Angaben erzählt mir eine Geschichte, erzählt von Ehefrauen, Großmüttern, Kindern, von bestialischen Folterern und nicht zu ertragenden Schmerzen, von Einsamkeit, Verzweiflung, Unsicherheit, Angst. Einige dieser traurigen, gequälten, niemals zurückweichenden Helden, den Politiker Mehdi Bazargan, den Theologen Hossein Ali Montazeri, den Schriftsteller Huschang Golschiri durfte ich kennenlernen, die Begegnungen schildere ich in diesem Buch. Parastou Foruhar habe ich soeben getroffen. Vierzehn Jahre war ihr Vater im Gefängnis, bevor die Revolution siegte und er zum Arbeitsminister ernannt wurde, nur um zwei Jahre später wieder im Untergrund zu verschwinden, acht Monate lang, nur um schließlich aufgespürt und für ein weiteres Jahr verhaftet zu werden. Alle glaubten, er würde zusammen mit Sadegh Ghotbzadeh, dem ehemaligen Außenminister, hingerichtet, bis die Mutter einen Anruf von Ahmad Chomeini erhielt. Alles sei überstanden, sagte der Sohn des Revolutionsführers. Eine Woche später kam Foruhar frei. Wahrscheinlich hatte Chomeini sich nicht durchringen können, seine Unterschrift unter das Todesurteil zu setzen, da sein 1977 gestorbener, vielleicht ermordeter Sohn Mostafa im Gefängnis Freundschaft mit Foruhar geschlossen hatte. Kaum aus der Haft entlassen, setzte Foruhar als Führer der liberalen „Iranischen Volkspartei“ seinen friedlichen Einsatz gegen die Diktatur fort, sechzehn Jahre lang, bis zum Tod. Selbst seine Ehe mit Parwaneh Eskandari hatte ihren Ursprung im Widerstand, sie war eine junge Aktivistin, druckte Flugblätter gegen den Schah und sorgte für deren Verteilung im ganzen Land. Bis zum Ende war das gemeinsame Leben von der Politik geprägt, ihr Haus diente als Parteizentrale, Tagungsbüro und Anlaufstelle von Journalisten aus aller Welt. Es ist schwer, sich so ein Leben vorzustellen. Parastou hatte ich gefragt, wovon die Eltern sich und die Kinder ernährten. Die Mutter habe am Anfang noch als Lehrerin gearbeitet, der Vater dagegen seinen Anwaltsberuf insgesamt nur vier Jahre ausüben dürfen, vier von vierzig oder fünfundvierzig Jahren. Ihre Eltern hätten von ihrem Erbe gezehrt, aber am Ende kaum mehr als das Haus besessen.

Ich saß im Zug und fand in allen Büchern nurmehr den gleichen Plot. Die gesamte neuere iranische Geschichte schien sich mir auf ein vergebliches Aufbegehren zu reduzieren, und wann immer für kurze Zeit freudige Erregung das Land erfüllte, weil ein Diktator aufgegeben oder nachgegeben hatte, sollte die Enttäuschung umso unbarmherziger auf dem Fuße folgen. Man liest das so, in ein, zwei Sätzen: Am 12. Juli 1906 schossen die Truppen Mozaffer ed-din Schahs in die Menge der Trauernden, zweiundzwanzig Menschen wurden getötet. Als sich die Demonstranten Mitte Juli 1935 nicht zerstreuten, stellten Reza Schahs Truppen auf den Dächern der umliegenden Gebäude Maschinengewehre auf und eröffneten das Feuer. Uber hundert Menschen wurden getötet, drei Soldaten, die den Schießbefehl verweigerten, hingerichtet. Am 8. September 1978 weigerten sich die Demonstranten auf einem großen Platz in der Nähe des Parlamentsgebäudes, sich zu zerstreuen, ver-mutlich in Unkenntnis des Kriegsrechts. Die Truppen feuerten direkt in die Menge, auch aus Kampfhubschraubern wurde geschossen, Hunderte starben. Allein in den Monaten September und Oktober 1988 wurden mindestens dreitausend, vermutlich deutlich mehr Menschen hingerichtet. Jeder einzelne von ihnen hat eine Biographie. Hinter jedem einzelnen der Sätze verbergen sich Jahre des Widerstands, des schließlichen Triumphes, des geraubten oder verspielten Sieges. Es ist das wiederkehrende Muster der neueren iranischen Geschichte.

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich in Iran ein Kreis aus Intellektuellen, die rechtsstaatliche Reformen und die Einsetzung eines Parlaments verlangten. Als sich ihnen...

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