Immer noch Sturm

Immer noch Sturm

von: Peter Handke

Suhrkamp, 2015

ISBN: 9783518743676

Sprache: Deutsch

165 Seiten, Download: 1278 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Immer noch Sturm



EINS


Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Sanft abschüssig erscheint diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick. Ich habe sie vorzeiten, in einer anderen Zeit, gesehen, und sehe sie jetzt wieder, samt der Sitzbank, auf der ich einst mit meiner Mutter gesessen bin, an einem warmen stillen Sommer- oder Herbstnachmittag, glaube ich, fern vom Dorf, und zugleich in der Heimatgegend. Ungewohnt weit war und ist jener Heimathorizont. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten. Und auch wenn das wieder eine Täuschung ist: im nachhinein scheint es, daß die Mutter und ich uns an der Hand halten. Überhaupt geschieht in meinem Gedächtnis da alles paarweise; die Vögel fliegen zu Paaren im Himmel, die Schmetterlinge flattern paarweise durch die Lüfte, paarweise schwirren die Libellen, undsoweiter. Das Apfelbäumchen freilich ist mir, zusammen mit den nachleuchtenden Äpfeln, solcherart in wieder einer anderen Zeit begegnet, in einer Nachtsekunde, in einem Tagtraum, oder wann. Ich bin zunächst dagesessen mit geschlossenen Augen. Jetzt schlage ich sie auf. Und was sehe ich nun? Meine Vorfahren nähern sich von allen Seiten, mit dem typischen Jaunfeldschritt, deutlich von einem Fuß auf den andern tretend. Einzeln kommen sie daher, ausgenommen das Großelternpaar, einzeln die mehr oder weniger oder vielleicht gar nicht verwirrte Schwester meiner Mutter, und ebenso einzeln wandern mir deren drei Brüder daher, jeder auf einem eigenen Weg, oder Nichtweg. Der jüngste purzelt eher, läßt sich rollen, wie übermütig. Einzeln steuert ein jeder auf den ihm scheint’s vorgegebenen Ort oder Stehplatz zu, bis auf meine Großeltern wieder, welche sich auf die Bank setzen. Gar nicht alt ist dieses Paar, und ausnahmslos jung deren fünf Kinder, selbst der Erstgeborene, der Einäugige dort mit dem dichten Schnurrbart, geboren doch ziemlich lang vor den andern. Der jüngste der Söhne ist fast noch ein Kind, und meine Mutter erscheint mir buchstäblich blutjung, und beinah als heimliche Geliebte des mittleren Bruders, des schon früh weithin bekannten Frauenhelden. (»Blutjung« ist dagegen ihre kaum ältere Schwester angeblich nie gewesen.) Und daß ich’s nicht vergesse: Sie alle erscheinen mir in Schwarzweiß, nicht nur ihre Gewänder, und alle schön, wie eben nur welche in Schwarzweiß. Seltsam, daß diese Gestalten da ganz und gar nicht den Vorfahren ähneln, wie sie im Leben, oder auf Photographien, oder in den Erzählungen sich mir eingeprägt haben. Sie sind es nicht, weder in Aussehen noch Haltung noch Mienen. Und zugleich sind sie es. Sie sind es! Und dazu paßt es, daß sie mich jetzt auf meinem Platz ausfindig machen und mich erkennen, einer nach dem andern, erschrocken, erfreut, verdrießlich, gleichgültig, still, laut. Ein mehrstimmiges: »Hallo! Da schau her. Ach herrje. Der also. Du hier!« ergibt das, gefolgt von dem familien- und sippenüblichen einstimmigen Seufzerchor und dann einem ein- oder zehnstimmigen »Komm, Nachzügler. Aufgesprungen auf den Familienzug, Nachfahr. Der einzige, der uns noch träumt. Ach, daß uns doch einmal jemand anderer träume! Jemand Sachgerechter. Einer, der uns denkt, und bedenkt – und nicht dein ewiges Gedenken, dein immerwährendes Heraufbeschwören. Mit einem Wort: ein Dritter! Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen? Aber da du schon einmal da bist: Her mit dir, Letzter, ins Bild mit uns.«

Mindestens dreimal habe ich mir das sagen lassen, bis ich der Einladung, oder dem Befehl, oder was es war, nachgekommen bin. Ich habe gezögert, wie es meine Art ist. Von meinem Sitzplatz aufgestanden, habe ich mich wieder hingesetzt. Auf halbem Weg, an der Schwelle hinauf zur Heidesteppe, habe ich stehenden Fußes kehrtmachen wollen. Und schließlich habe ich, bei meinen Ahnen angelangt, mich bei einem von ihnen verstecken wollen; nicht bei den Großeltern, auch nicht bei den Schürzenzipfeln der Mutter – sie trug tatsächlich eine Schürze, eine festtägliche, wie in der anderen Zeit die Dorffrauen –, und auch nicht hinter dem ältesten und größten der Brüder. Sondern? Hinter dem jüngsten und kleinsten. Um so sichtbarer muß ich so wohl geworden sein: Eine heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den andern, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar. Meinem Alter nach könnte ich zum Beispiel den ziemlich bejahrten »Vater« der blutjungen »Mutter« darstellen.

Deren jüngster Bruder, das Fastkind, ist, mit mir im Schatten, immer wieder, sagen wir, dreimal, zur Seite getreten, und ich bin ihm nachgerückt. Und zugleich ist die Sippe, geleitet von meiner Mutter, mir auf ähnliche Weise nähergerückt und hat einen eher lichten Halbkreis um mich gebildet. Diese gemeinsame Bewegung hat mich freilich nicht geängstigt: Ich bin zuletzt meinen Leuten entgegengekommen und habe ihnen nacheinander die Hand gereicht (eine andere Berührung kam ja, oder kommt, bei unsereinem kaum in Betracht). Nur vor der Mutter dann habe ich im Abstand innegehalten, und habe gesagt: »Da seid ihr nun, Vorfahren. Die längste Zeit schon habe ich auf euch gewartet. Nicht ich lasse euch nicht in Ruhe. Es läßt mich nicht in Ruhe, nicht ruhen. Ihr laßt mich nicht in Ruhe, nicht und nicht. Hallo, Frau Mutter! Seit einer Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und noch immer redest du mit deinem landfremden Akzent, als ob die Truppen Napoleons weiterhin die Herren von Kärnten und Krain wären, du Karawankenfranzösin du. Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan. Guten Tag, Großvater, stari ocˇe, dober dan, tesar, bzw. Zimmermann. Guten Tag, Onkel und Taufpate Gregor, moj stric in moj boter, mein Onkel und mein Pate, dober dan. Guten Tag, teta, das ist: Tante, Ursula, keine Angst, und schon gar nicht hier, vor mir. Cheers, Mutterbruder Valentin, Englischsprecher of our family, Schachmeister, und auch sonst ein kleiner Meister. Guten Tag und dober dan, stric Benjamin, Fastkind du, dem die Erde der Tundra, gemäß dem Spruch auf dem Gedenkstein, leicht sein sollte. Und jetzt du, Mutter: So jung wie jetzt warst du in meinen Tag- wie Nachtaugen nie. Und auch eine andere Erscheinung bist du jetzt, mit anderen Zügen, einer anderen Stimme, einem anderen Akzent, anderen Augenfarben. Und doch bist du dieselbe. Du bist es. Aber sag: Wo sind wir jetzt alle zusammengekommen? Denn unsere Gegend scheint das hier nicht zu sein, bis vielleicht auf den Apfelbaum da. Nur schauen bei uns zuhause die Äpfel ganz anders aus, wie eben Äpfel zum Hineinbeißen, zum Stehlen. Und dieses Dörrzeug da verlockt einen weder zum Hineinbeißen noch zum Obstdiebwerden, und schon gar nicht zum Sündebegehen. (Obststehlen war in unserer Gegend ja nie eine Sünde – oder mittlerweile doch?) Und unsere Gegend und das Gelände hier: erst recht kein Vergleich. Was soll das-da-da eigentlich darstellen? Eine Heide? Die Steppe? Die Taiga? Die Tundra? Für mich: zum Davonlaufen. Nur daß das nächste Gelände ziemlich sicher noch um eins gottverlassener ist, und die übernächste Station ganz sicher eine Jauchenstation, und die überübernächste todsicher ein Minenfeld, und so fort, bis zuletzt an gar keinen Ort.« Die blutjunge Mutter hat gleich geantwortet: »Auch ich habe dich nicht gleich erkannt. Und bevor du ins Reden kamst, war ich – unsicher. Aber so weiß ich, du bist es, mein Sohn. Mein Sohn, der nie zu uns hier, zur Familie, zur Sippe gehören wird, Vaterloser du, der du Ersatz, Halt und Licht suchst bei deinen Vorfahren. Und jetzt zu deiner Frage, die wieder einmal keine war: Doch, das hier ist unsere Gegend. Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten, slowenisch Koroška, lepa Koroška, das schöne Kärnten. Und da hinten irgendwo mußt oder kannst du dir unsere Saualpe oder die Svinjska planina vorstellen, die, obwohl sie ja nach außenhin daliegt wie eine Riesen-Sau, in Wirklichkeit nach dem Blei, in unserer Haussprache svinec, heißt, dem Blei oder svinec innen im Berg, von welchem die wüsten Sommergewitter auf der Svinjska planina oder Saualpe her - -, her - -, hilf mir, Sohn, nein, hilf mir nicht, herrühren, herstammen, und ebenso unser Haus- und Familienname, erinnere dich, nein, erinnere dich nicht, du hast seit je ein schlechtes Gedächtnis, merk es dir, Sohn. Und merk dir: Sau haben, heißt bei uns hier: Glück haben, und: Auf die Saualpe gehen, heißt bei uns: glückselig gehen, ohne Bleifüße gehen.«

Ich habe kurz ihr Spiel mitgespielt wie sie das meine zuvor: »Und was muß ich mir dort hinten für einen Totschlägerberg, für ein Jammertal, für eine Teufelsschlucht, für eine Drachenwand, für ein Steinernes Meer, für eine Mammutfurzklamm, für einen Selbstmördergrat vorstellen?«

Die Mutter hat mein Spiel nicht mehr mitgespielt: »Dort hinten kannst du dir die Karawanken denken, und dahinter dann Slowenien, Jugoslawien.«

Ich, in einem Versuch, weiterzuspielen: »Aber Jugoslavija, das gibt es doch seit einer Ewigkeit nicht mehr, nicht das königliche nach dem Ersten, und erst recht nicht das ohne König nach dem Zweiten Weltkrieg. Was für eine Art von Zeit soll hier eigentlich gelten? Wann ist das, jetzt? Die Heide-Steppenzeit, oder was? Die Sonntagsschürzenzeit? Die Knickerbockerzeit? Die Butterfaßzeit? Die Apfelveredelungszeit? Die...

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