Was ist eigentlich Heimat? - Annäherung an ein Gefühl

Was ist eigentlich Heimat? - Annäherung an ein Gefühl

von: Renate Zöller

Ch. Links Verlag, 2015

ISBN: 9783862843169

Sprache: Deutsch

232 Seiten, Download: 700 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was ist eigentlich Heimat? - Annäherung an ein Gefühl



»Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.«

Herbert Grönemeyer

Sie verspricht Geborgenheit in einer unübersichtlichen Welt, sie fasziniert, sie ist unausweichlich, sie prägt unser Leben – die Heimat. Für dieses Buch habe ich mit Menschen gesprochen, die sie verlassen, verloren oder wiedergewonnen haben. Manche lehnen die Heimat ab, manche hängen an ihr – gleichgültig kann man ihr gegenüber nicht sein. Heimat lässt uns nicht los. Sie bleibt ein Teil unserer Identität, auch wenn wir sie bewusst verlassen. Sie kann für einen gewissen Zeitraum überdeckt werden, in den Hintergrund rücken, um dann im Alter meist wieder mehr Raum einzunehmen. Auf Dauer lässt sich die Heimat nicht ausradieren, sie taucht wieder auf, wenn wir in der Fremde unsere heimische Mundart hören, eine Landschaft wiedererkennen oder es plötzlich so riecht wie bei der Großmutter am Herd.

Die Protagonisten dieses Buches erzählen von ihrer Heimat, vom Verlust der alten und vom Neuanfang in der neuen, von Träumen, Sehnsüchten, Enttäuschungen und Erfolgen. Ob Ric, der sich als schwuler Latino und Schauspieler lieber nicht mehr auf eine örtlich fixierte Heimat festlegen will und seine gesamte Habe auf dem Gepäckträger seines Fahrrads transportieren kann; ob Yuan, die aus China in eine ganz andere, fremde Welt kam oder Christel, die ins Nachbardorf ziehen musste, weil ihr Heimatort Wollseifen zu einem militärischen Übungsplatz wurde; ob Juliane, deren Heimat DDR vom Lauf der Geschichte weggespült wurde oder Schahrsad aus Teheran, die der soziale Abstieg durch den Umzug nach Deutschland beinahe gebrochen hätte – alle diese Menschen haben den Verlust von Heimat als einen Bruch erlebt, der ihr Leben bereichert, erschwert und fundamental verändert hat.

»Was ist eigentlich Heimat?«, fragte ich auch Wissenschaftler wie die Psychologin Beate Mitzscherlich, den Historiker Klaus Ries und seinen Romanistik-Kollegen Edoardo Costadura oder die Ethnologen Beate Binder und Friedemann Schmoll. Brauchen wir sie – als Individuum und als Gesellschaft? Leben Menschen glücklicher, wenn sie in ihrer Heimat bleiben oder schmeckt sie nur von Weitem so süß? Sind wir auf das Gefühl angewiesen, eine Heimat zu haben, um unseren Weg in der Fremde gehen zu können? Oder blockiert sie uns dabei, in der neuen Umgebung ein neues Leben aufzubauen?

In den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Flüchtlinge dramatisch an. Bis zu 800 000 Menschen werden voraussichtlich im Jahr 2015 nach Deutschland kommen. Das provoziert einerseits Rechtsradikale. Fast täglich berichtet die Presse von brennenden Flüchtlingsunterkünften. Das bewegt aber auch immer mehr Menschen, die Notleidenden willkommen zu heißen. Werden sie jemals in Deutschland eine Heimat finden?

Medizinisch gesehen entsteht das warme Gefühl für unsere Heimat schlicht durch ein riesiges Sammelsurium an Engrammen, also Spuren in unserem zentralen Nervensystem, die durch besondere Reize oder Eindrücke hinterlassen wurden. Je positiver diese Eindrücke waren und je öfter wir sie erlebt haben, umso stärker sind die Engramme synaptisch verfestigt. Ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine besondere Landschaft – all das kann sich neurologisch gesehen wie ein Spinnennetz in unser Gehirn weben und Heimatgefühle erzeugen. Heimat kann damit an mehreren Orten empfunden werden oder überhaupt nicht örtlich gebunden sein. Wenn die neuralen Verlinkungen sich auflösen, etwa bei Demenzkranken, dann verschwindet auch die Heimat aus den Köpfen.

Welche Eindrücke wir unbewusst wählen, um unser neurales Heimatnetz zu weben, bleibt individuell. Übereinstimmend kann man festhalten: Heimat ist verbunden mit der Umgebung, in der jemand die wichtigsten Jahre seiner Sozialisation verbracht hat. Aber diese Jahre erlebt der eine als Kind, ein anderer als Jugendlicher, ein Dritter vielleicht erst als Erwachsener. Selbst Geschwister, die in derselben Familie, am selben Ort, unter denselben sozialen Bedingungen aufwachsen, können Heimat ganz unterschiedlich empfinden. Was dem einen Sicherheit bietet, ist dem anderen zu eng und miefig. Der eine leidet, wenn er in der Fremde lebt und versucht, so viel Traditionen und Gewohnheiten wie möglich auf seine neue Welt zu übertragen. Der andere passt sich scheinbar spielerisch an, findet Freunde, gründet eine Familie und wird bald nicht mehr als Zugezogener wahrgenommen. Während sich manche auf ihre Heimat besinnen als eine Art Kompensationsraum, der sie vor den Zumutungen der Globalisierung schützen soll – unter anderem vielleicht vor dem als unheimlich empfundenen Zuzug von Migranten –, stehen andere vor der Notwendigkeit, sich zu integrieren und eine neue Heimat aufzubauen.

Das Phänomen Heimat ist nicht ohne deren Verlust zu betrachten. Die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, so lange sie nicht bedroht oder verloren ist. Erst dann beginnen sie, sie zu vermissen – und verstehen oft gar nicht genau, was sie eigentlich vermissen. Manche Menschen träumen ihr Leben lang davon, wieder nach Hause zurückzukehren. Und wenn sie es schließlich tun, finden sie dort keine Heimat mehr. Diese Ambivalenz der Sehnsucht bewegte Philosophen, Historiker und Psychologen seit jeher. Schon der römische Philosoph Seneca kam zu dem Schluss, der Mensch brauche eine Heimat und implizierte gleichzeitig, dass er sich auf der Wanderschaft danach sehnt. Er sagte: »Einem Schiff ohne Hafen ist kein Wind der richtige.« Rund 2000 Jahre später prägte der Philosoph Martin Heidegger für Jahrzehnte die Diskussion mit seiner These, ohne Heimat leide der Mensch an einer »Seinsvergessenheit«, die ihn in eine tiefe Krise stürze.

Gerade Heidegger steht wegen seines Flirts mit der nationalsozialistischen Ideologie jedoch auch für die Desavouierung des Heimatbegriffs. Für Jahrzehnte war er scheinbar unauflösbar konnotiert mit der deutschen »Blut-und-Boden«-Politik Hitlers, für die so unfassbar viele Soldaten begeistert in den Krieg und so viele »Volksdeutsche« heim ins Reich gezogen waren. Der rassistische und ausgrenzende Heimatgedanke der Nationalsozialisten war Grundlage für die Ermordung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern. Nach dem Krieg strebten die Deutschen daher nach einem rationaleren Verhältnis zu ihrem Staat, den Hitler ihnen als die »Heimat« verkauft hatte. Im intellektuellen Diskurs war Heimat out.

Viele der Millionen Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen und den tschechoslowakischen Grenzgebieten blieben ihrem Sehnsuchtsort treu, aber deren revisionistische Vertreter diskreditierten die Heimat in den Augen vieler Deutscher noch mehr. Zwar flüchteten sich in den 50er Jahren gerade ältere Leute in die heile Welt der Heimatfilme und -romane, in denen es keinen Krieg und keine Schuld der Deutschen gab. Aber die nachkommende Generation fand diese Schmöker altmodisch, kitschig, unerträglich. Sie wollte lieber die Welt entdecken, als an ihrer Heimat zu kleben. Der moderne, aufgeschlossene Mensch sollte mobil und flexibel sein. Der Medienphilosoph Vilém Flusser etwa, der als Prager Jude während des Zweiten Weltkrieges aus seiner Heimat fliehen musste und in Brasilien lebte, sagte in seinem Vortrag »Heimatlosigkeit ist Freiheit«[1], der Mensch sei kosmopolitisch wie eine Ratte und könne sich überall eine neue Heimat schaffen.

Jetzt aber lässt sich seit ein paar Jahren beobachten, wie sich die Heimat vom verstaubten Mauerblümchen zum neuen Trendwort Deutschlands mausert. Tim Mälzer gab ein Kochbuch mit dem schlichten Titel »Heimat« heraus, der Heimathirsch in Köln ist längst kein Geheimtipp mehr unter Jazzfreunden, in Hamburg isst man im Restaurant Heimat Küche & Bar und in Berlin zieht die Neue Heimat in den Hallen des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks mit zahlreichen Events junge Kreative und Schaulustige an. Das Leitmotiv des Performance-Künstlers Stefan Strumbel lautet: What the fuck is Heimat? Heimatgeschäfte und Heimatagenturen werden gegründet und nicht zu vergessen: unzählige neue Heimatmuseen. Auch in der Sprache besinnt sich Deutschland auf seine regionalen Dialekte. In München betreibt die Akademie der Wissenschaften bayerische Mundartforschung, es gibt Online-Sprachkurse für Plattdeutsch und in Köln kann man Examen an der Akademie för uns kölsche Sproch machen. Heimat wurde von den Teilnehmern eines Wettbewerbs des Deutschen Sprachrats und des Goethe-Instituts im Jahr 2004 zu einem der schönsten deutschen Wörter gekürt. Und Bayern schuf 2014 ein Heimatmuseum.

Woher kommt diese unerwartete Popularität? Die Psychologin Beate Mitzscherlich erklärt die heutige Suche nach Heimat als eine Reaktion auf die Uferlosigkeit innerhalb einer globalisierten Gesellschaft. Immer mehr Menschen empfinden ihre kleine Lebenswelt als bedroht. In der modernen Gesellschaft ist Flexibilität eine Voraussetzung für Erfolg. Und Mobilität ist längst kein Ausdruck mehr von persönlicher Freiheit, sondern von beruflichen Zwängen. Das Verlassen der Heimat gehört zum Alltag. Es ist fast unmöglich, sein gesamtes Leben an ein und demselben Ort zu verbringen. Menschen ziehen aus freien Stücken oder notgedrungen, für die Arbeit oder für die Liebe, aus politischen Gründen oder aus wirtschaftlicher Not von einer Stadt in die andere, in fremde Länder oder auf andere Kontinente. Alte Beziehungen werden abgebrochen, neue geknüpft. Nicht immer gelingt die Integration am neuen Wohnort. Heimat lässt sich nicht einfach ersetzen.

Und auch die Zurückgebliebenen fühlen sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Alle Krisen und Kriege auf der Welt fühlen wir zeitnah auch in Deutschland. Längst hat die Globalisierung das kleinste Dorf erfasst – wenn der Weizen im Ausland billiger...

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