Die Legende von der christlichen Moral - Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist
von: Andreas Edmüller
Tectum-Wissenschaftsverlag, 2015
ISBN: 9783828863309
Sprache: Deutsch
256 Seiten, Download: 1147 KB
Format: EPUB, PDF, auch als Online-Lesen
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Die Legende von der christlichen Moral - Warum das Christentum moralisch orientierungslos ist
2. Kapitel:Die normative Beliebigkeit des Christentums
In diesem Kapitel geht es mir um die Plausibilisierung der empirischen These, dass zu normativen Fragen so gut wie keine einheitlichen oder berechenbaren Antworten von Seiten des Christentums zu erwarten sind. Dies gilt nicht nur interkonfessionell, also im Vergleich der einzelnen christlichen Glaubensrichtungen, sondern auch intrakonfessionell – z.B. im Rahmen der katholischen Variante des Christentums. Für diese Datensammlung trenne ich aus Gründen der Übersichtlichkeit den Bereich des Normativen in die Fragen nach der politischen Gerechtigkeit und der Moral im engeren Sinne. Ab dem nächsten Kapitel gehe ich dann der Frage nach, wie diese normative Beliebigkeit erklärt werden kann.
Politische Gerechtigkeit
In diesem Abschnitt geht es um die Fragen, wie ein gerechter Staat strukturiert sein sollte, welchen Einfluss er auf das Leben der Bürger nehmen sollte und in welche Lebensbereiche sich der Staat nicht einmischen sollte. Natürlich kann ich nicht für das gesamte Christentum eine umfassende Bestandsaufnahme liefern. Ich beschränke mich deshalb auf so typische wie wichtige und aussagekräftige Beispiele zur Stützung der Beliebigkeitsthese.
Erste Indizien
Betrachten wir die deutsche Parteienlandschaft, so fällt auf, dass mit Ausnahme der Linken überall bekennende Christen in führenden Positionen vertreten sind. Auf jedem Kirchentag treten sie medienwirksam in Erscheinung, halten Reden und leiten Workshops. Gepredigt wird auch von Zeit zu Zeit. Gleiches gilt für die Laienorganisationen der christlichen Kirchen. Bekannte Politiker gehören dort zur Stammbesetzung. Ich glaube nicht, dass dieses Engagement für den Glauben ausschließlich oder vorwiegend auf wahltaktische Überlegungen zurückzuführen ist. Man wird bei uns – ganz im Gegensatz zu den USA – auch ohne Bekenntnis oder aktiven Bezug zur christlichen Religion gewählt.12 Umso überraschender scheint, dass es offenbar nicht möglich ist, unter aufrichtigen Christen zu einheitlichen Antworten auf wichtige politische Grundsatzfragen zu kommen. Grüne Christen schaffen es nicht, sich mit liberalen Christen auf die Grundlagen der Wirtschaftspolitik zu einigen. Sozialdemokratische Christen haben eine andere Einstellung zu Fragen des Rüstungsexports als christsoziale. Christdemokratische Christen wollen eine grundlegend andere Familienpolitik als grüne oder liberale Christen. Und für Themen wie Sterbehilfe oder Abtreibung gilt genau das Gleiche. Und so weiter ….
Dieser erste Eindruck eines sehr, sehr breit gefächerten christlichen Gerechtigkeitspluralismus wird durch einen Blick in die Regale jeder gut sortierten Buchhandlung oder deren Angebot im Internet verstärkt. Unter Bezug auf Jesus Christus und seine Lehre wird vom klassischen Kapitalismus über den Sozialstaat bis hin zum konsequenten Sozialismus so ziemlich jede politische und wirtschaftliche Systemvariante vertreten. Hier ein paar Titel zur Veranschaulichung:
–Jesus, der Kapitalist: Das christliche Herz der Marktwirtschaft.
–Christentum und Sozialismus: Ein gesellschaftspolitischer Brückenschlag.
–Gieriges Geld: Auswege aus der Kapitalismusfalle – Befreiungstheologische Perspektiven.
Auch hier gilt: Offensichtlich kommen gleichermaßen engagierte und gebildete Christen nach ausführlicher Überlegung zu grundlegend unterschiedlichen Resultaten. Und zwar auf Basis derselben Heiligen Schrift, der Bibel. Wie kann das sein? Die bisher genannten Beispiele mögen harmlos erscheinen, sind sie doch im Rahmen demokratischer Meinungsvielfalt prinzipiell vertretbar.
Politische Gewalt
Dieser Eindruck der Harmlosigkeit ändert sich, wenn man den Blick erweitert und auf die nähere deutsche Vergangenheit richtet. Die Geschichte des Christentums im Nationalsozialismus liefert die ganze Bandbreite möglicher Positionen. Viele Christen standen dem Nationalsozialismus sehr distanziert, sogar feindlich gegenüber. Es gab Christen, deren bewußte und durchdachte Gewissensentscheidung sie in den Widerstand, in das Konzentrationslager und in den Tod geführt hat. Stellvertretend für viele sei an Rupert Mayer, Pater Kolbe, Edith Stein, die Münchner Weiße Rose und viele Mitglieder des Kreisauer Kreises erinnert.
Ihnen gegenüber stehen zahlreiche ebenso überzeugte Christen, die Hitler so aktiv wie wirkungsvoll auf seinem Weg zur Macht und während der gesamten 12 Jahre des Dritten Reiches unterstützt haben. Deren Entscheidungen waren mit Sicherheit ebenso durchdacht und mit ihrem christlichen Gewissen in Einklang. Und sie haben diese Entscheidungen konsequent, systematisch und über lange Jahre hinweg auch gegen Widerstände, also aus voller Überzeugung, in konkretes Handeln umgesetzt. Zwei der zahlreichen christlichen Unterstützer Mussolinis, Hitlers und der anderen faschistischen Diktatoren in Europa waren immerhin die Päpste Pius XI. und Pius XII. – und bei Päpsten darf man sicher davon ausgehen, dass sie ihre politischen Aktivitäten halbwegs stimmig an der christlichen Lehre ausrichten.13 Gleiches gilt für protestantische Christen – gerade aus ihrem reflektierten und an der Bibel geprüften Glauben heraus erwuchs bei vielen eine enorme Begeisterung für den Nationalsozialismus.14 Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, einzelnen Personen Schuld zuzuweisen, historische Details (erneut) zu diskutieren oder möglichst viele unappetitliche Zitate christlicher Würdenträger und Theologen zusammenzutragen. Ich möchte lediglich Daten sammeln, die für meine Beliebigkeitshese sprechen. Und unabhängig von Einzelfallanalysen erlaubt die historische Faktenlage mit Sicherheit folgendes Fazit: Das Christentum ist prima facie mit überzeugtem Widerstand gegen und ebenso überzeugter Unterstützung für Faschismus und Nationalsozialismus vereinbar! Das gilt für jede seiner bei uns dominanten Glaubensrichtungen, Protestantismus und Katholizismus.
Erweitern wir den Blick auf die länger zurückliegende Vergangenheit des Christentums, so bietet sich das gleiche Bild. Die Kreuzzüge in den Nahen Osten wurden von gläubigen und überzeugten Christen vorbereitet und durchgeführt. Die damit verknüpften Gewaltexzesse wurden ganz bewusst auf Basis der christlichen Lehre begründet und sogar gefeiert. Norman Housley weist dies in seiner exzellenten Darstellung zur Motivationslage der Kreuzritter nach. Hier eine kleine Kostprobe:
Für den Benediktinermönch und Chronisten Robert von Reims, der im ersten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts schrieb, war der Erste Kreuzzug ein Beispiel für göttliches Einschreiten, das nur noch mit der Erschaffung der Welt und der Erlösung der Menschheit durch den Tod Christi am Kreuz verglichen werden konnte. Wir müssen der Versuchung widerstehen, solche Kommentare als siegestrunkenen Rhetorik oder aufgeregte Übertreibung abzutun. Aus der Sicht von Katholiken, die im frühen 12. Jahrhundert lebten, verlieh das von dem ersten Kreuzfahrern, den später so genannten „Jerusalemiten“ Erreichte der Gerechtigkeit und Heiligkeit ihrer Sache eine felsenfeste Gewissheit. Ihr Schlachtruf, „Deus lo volt“, „Gott will es“, war durch Erfolg bestätigt worden.15
Treibende Kraft hinter dem zweiten Kreuzzug, einem totalen Debakel, war der Heilige Bernhard. Bernhard von Clairvaux galt und gilt als einer der fähigsten Theologen seiner Zeit und hat sich mit Sicherheit sehr intensiv mit der christlichen Rechtfertigung eines Kreuzzuges auseinandergesetzt. Und nach den Erfahrungen des ersten Zuges nach Jerusalem war ihm auch klar, welches Ausmaß an Gewalt und Elend ein Kreuzzug mit sich bringt. Das Ergebnis seiner Gewissensprüfung war eine generelle Befürwortung gewaltsamer christlicher Mission. Und das in alle Himmelsrichtungen – auch gegen die Wenden wollte er im Namen des Kreuzes marschieren. Es gab natürlich auch gewichtige christliche Stimmen gegen die Kreuzzüge: der Theologe Gerhoch von Reichersberg, der Abt von Cluny Petrus Venerabilis, Isaak von Stella, ein Zisterzienser. Sie argumentierten genau wie die andere Seite mit Bibel und Gewissen.16
Ein weiteres, so bekanntes wie schlimmes Beispiel für die Beliebigkeitsthese liefert die christliche „Missionierung“ in Süd- und Lateinamerika. Die Indios wurden enteignet und bestohlen, zwangsbekehrt, versklavt und abgeschlachtet. Die christliche Begründung dafür wurde detailliert ausgearbeitet und ausformuliert, so z.B. von dem spanischen Theologen Juan Ginès Sepúlveda. Unter Bezug auf die Bibel, das Naturrecht, den Kirchenvater Augustinus und den Heiligen Thomas legte er messerscharf dar, dass und warum der Massenmord der Conquistadoren und Missionare an den Indios seine Richtigkeit habe. Ein anderer Theologe, Bartolomé de las Casas, kam auf Basis der gleichen christlichen Grundüberzeugungen und Autoritäten allerdings zur gegenteiligen Ansicht: Man dürfe die Indios weder bestehlen, versklaven noch ausrotten.17 Genützt hat es ihnen wenig.
Inquisition und Hexenjagd in Europa folgen dem gleichen Schema: Die Verfolger, Folterer und Henker rechtfertigen ihre Untaten konsequent mit der Bibel, den Lehren der Kirchenväter und der Stimme ihres intensiv befragten christlichen Gewissens. Ihre christlichen Kritiker und Gegenspieler gründen ihre Ansicht auch auf Bibel, Lehren der Kirchenväter und Gewissenserforschung. Wie kann das sein?
Wie sieht eine christliche Staatsform aus?
Christen und christliche Denker haben im Laufe der Geschichte so gut wie jede Staatsform auf Basis ihrer Heiligen Schriften als die (einzige) dem Christentum angemessene gerechtfertigt. Die große Ausnahme scheint hier der Kommunismus zu sein –...