Neuntöter - Thriller

Neuntöter - Thriller

von: Ule Hansen

Heyne, 2016

ISBN: 9783641153144

Sprache: Deutsch

496 Seiten, Download: 761 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Neuntöter - Thriller



1

Sie hielt das Päckchen in der Hand. Das Päckchen von ihm.

Sie bewegte sich nicht. Konnte sich nicht bewegen. Konnte kaum atmen.

Von der Wohnungstür bis zur Küche hatte sie gebraucht, bis sie seinen Namen auf der Rückseite erkannte. Fünfzehn Sekunden? Zehn? Weniger? Bis sie begriff, was da stand: sein Name. Woher kannte er ihre Adresse? Sie stand nicht im Telefonbuch, war nirgendwo verzeichnet.

Seinen Namen hatte sie in den letzten zehn Jahren oft gelesen.

In den Polizei- und Prozessakten, von denen sie daheim Kopien aufbewahrte, im Internet, auf seiner Website, die sie ziemlich schnell nach seiner Entlassung aus der Haft entdeckt hatte, in Artikeln und Interviews über sein neues Leben, seine Resozialisierung, seine Vorträge, seine Lebensphilosophie, seine aufmunternden Worte, durchaus auch kritische Artikel, aber immer wieder Bewunderung: faszinierte Journalisten, Promis, die sich fast verschämt als Fans outeten, wachsendes Publikum.

Es gab Zeiten, in denen sie das Zeug nicht anfasste. Manchmal wochenlang. Dann wurde sie irgendwann wieder schwach, meist spätabends, und holte alles wieder raus, die Artikel und die Akten, las darin, suchte seinen Namen im Netz.

Aber noch nie hatte er sich persönlich gemeldet.

Nicht per Post, nicht per E-Mail, nicht per Telefon. Und jetzt auf einmal: ein Päckchen. Sogar seine Adresse stand drauf. Er war inzwischen also auch nach Berlin gezogen.

Ein Nachbar musste das Päckchen für sie angenommen haben, am Samstag wahrscheinlich, und es ihr gestern Abend noch vor die Tür gelegt haben. Sie hatte es gefunden, als sie zur Arbeit wollte. Das Päckchen war schwer für seine Größe, in braunes Packpapier gewickelt, klassisch, rechteckig, fest eingeschlagen, ein Buch. Sie wusste auch, welches. Sein Buch. Das Buch, über das sie schon in der Zeitung gelesen hatte. Gutes zumeist. Auch Fernsehauftritte gab es. Zwei. Sie hatte sie nicht gesehen. Nur aufgenommen. Die Aufnahmen warteten auf sie. Darin hielt er sicher das Buch in die Kamera.

Mit einem Gruß. Ein Gruß wird dabei sein, dachte sie. Muss dabei sein. Ein Autor schickt kein Buch ohne ein, zwei persönliche Worte, oder? Eine Widmung oder ein Kärtchen. »Schöne Grüße« zum Beispiel. Vielleicht: »Einen lieben Gruß von einem alten Freund.«

Oder auch: »Ich denke an dich – dein Vergewaltiger.«

Emma Carow stand in ihrer Küche und konnte sich nicht bewegen.

Sie starrte auf den Fußboden. Linoleum, wie es früher auf Arbeitstischen zum Einsatz kam, sattgrün, blank poliert, erinnerte irgendwie an Schule oder Kontor. Auch die alte Küchenbank, der massive Holztisch fielen in diese Kategorie. Ihre Schwester Sarah hatte mal bemerkt, sie hätte die ganze Wohnung wie eine Amtsstube eingerichtet, selbst Küche und Schlafzimmer. Das war nicht ganz fair. Den Tassenberg in der Spüle, die überall gestapelten Bücher und Zeitschriften, findet man das in einem Büro? Na ja, die Nachschlage- und Standardwerke, den Goffman, den Dahle & Dölling vielleicht, auch die neueste Ausgabe der MKS. Aber doch nicht die ganzen ollen Reiseprospekte, die Kinderzeichnungen, die Rätselhefte der alten Nachbarin, vollgekritzelt, bis auf die paar Rätsel, die ihr zu schwer waren, die überließ sie gerne Emma, so was findet man nicht in einer Amtsstube, so schlimm war das doch gar nicht.

Das warme Licht der Deckenlampe warf einen gelben Kegel auf den Tisch und den Boden. Außerhalb des Kegels war es noch dunkel. Zu früh am Morgen. Das Dunkel wächst rasch an im Oktober in Berlin. Die Nacht wälzt sich über die Ostgrenze und drängt den Tag zurück, und jeden Morgen weicht sie später, die Wolken kommen aus dem Westen, aus dem Norden, von überallher eigentlich, und hängen da, und die Dunkelheit schleicht sich lautlos in jede Ecke, in jeden Winkel, wie ein Nebel, sie liebkost dich und atmet schwer in deinen Nacken. Im Oktober in Berlin. Und nicht nur dann.

Emma stand im goldenen Kegel und stellte sich vor, das Päckchen zu öffnen. Tat es aber nicht. Sie stellte sich andere Dinge vor, die sie auch nicht getan hatte: dass sie damals nicht zu ihm ins Auto gestiegen wäre, zum Beispiel. Ganz einfach.

Aber auch das: Er sitzt in irgendeiner Buchhandlung hinter einem Tisch und signiert sein Buch, die Schlange ist lang, er scherzt mit den Fans, er ist charmant, bis er erkennt, wer vor ihm steht: Sie. Emma. Sein Opfer. Mit einem Baseballschläger. Sie hebt ihn und fegt mit einem Schlag den Stapel Bücher vom Tisch und, wie interessant, sein Charme zerfließt wie Schnee in der Sonne. Als er unter den Tisch kriecht, zieht sie ihn wieder heraus, und seine Fans sind wie erstarrt, sie trauen sich nicht einzugreifen; sie wissen, wer sie ist.

Oder damals, im Gerichtssaal: Sie saß dort als Nebenklägerin und hörte, wie der Richter das Urteil sprach. Sie konnte seine Reaktion nicht sehen, aber sie wusste, er lächelte. Sieben Jahre? Nur eine weitere Station auf seinem Werdegang, wie die Schulzeit oder die paar Monate Wehrdienst. Wer weiß, vielleicht lernt er dort etwas Nützliches? Dann dreht er sich um, das Lächeln erstarrt in seinem Gesicht, als er ihre Waffe sieht, er schwitzt, seine Augen werden groß, er bebt, kann kein Wort mehr herausbringen, der erste Schuss trifft ihn gar nicht, ein Warnschuss, er fällt auf die Knie, er bettelt, er bereut, er winselt um Vergebung, dann schießt sie, um zu treffen.

Und am Ende immer wieder das: Sie steigt zu ihm ins Auto. Warum auch nicht? Sie hat keine Angst. Sie kennt ihn doch. Sie machen Scherze. Selbst als er die Autobahn verlässt und sie weiß, er fährt sie nicht nach Hause, sondern in den Wald, zum Ferienhaus im Wald, wo er sich einen Kaffee machen will, er braucht jetzt dringend einen Kaffee, selbst dann lacht und flirtet sie, sie hat keine Angst. Und im kalten Ferienhaus seiner Eltern, als er Kaffee macht, als er ihr etwas zeigen will, hier, in der Schublade seines Vaters, dieses dicke Jagdmesser mit dem sinnlich-glänzenden Holzgriff, selbst da hat sie keine Angst, denn sie weiß, er kann sie gar nicht aufs Bett zwingen und ihr die Kleidung vom Leib schneiden und ihr die Klinge, die am Rücken dick und an der Schneide unendlich scharf ist, dieses Messer, das gemacht ist, um einem gestandenen Hundertfünfzig-Kilo-Hirschen den Hals aufzuschneiden, an die Kehle drücken und sie wie eine strampelnde Beute besteigen und, während sie bettelt und wimmert, in sie eindringen und sie dann wieder ans Bett fesseln, wie man ein erlegtes Reh zum Transport zusammenschnürt. Für die Bequemlichkeit. All das kann er nicht, denn sie ist schneller und stärker, sie ist die Jägerin. Diesmal hat sie das Messer in der Hand, und sie sticht zu, selbst als er verspricht, sie sofort nach Hause zu fahren, selbst als er schwört, es war alles nur ein Scherz, als er um sein Leben bettelt, als er nur noch ein Bündel Angst ist, sticht sie zu, mit dieser harten, scharfen Klinge, die mühelos in die Haut eindringt, echte Wertarbeit, und sie flüstert ihm dabei ins Ohr mit einem heißen, stinkenden Atem wie seinem damals, sie nennt ihn Schlampe und Fotze wie er sie und drückt ihn auf das Bett, und sein Gesicht ist von Horror gezeichnet, eine fast komische Maske aus Schreck und Schock, denn nie im Leben hat er sich vorgestellt, dass ihm das passiert, das geht gar nicht, das muss ein Fehler sein, denkt er, wie sie es damals dachte, aber es ist kein Fehler, es passiert wirklich, und jetzt sticht sie auf ihn ein, zuerst am Hals, wo das Blut, der Saft des Lebens, nur so heraussprudelt, verschwendet ist der an ihn, er windet sich, und sie treibt das Messer in seinen weichen Bauch unter dem Brustkorb, und dann schneidet sie die Hose weg und nimmt seinen Schwanz und seine Eier in die Hand, ach, wie das alles geschrumpft ist jetzt, das will sich wohl auf einmal verstecken, es will wohl entkommen, es weiß, was jetzt passiert. Sie nimmt das kleine ärmliche Gebilde und schneidet es ab, wie man Knorpel von einem Hähnchensteak entfernt, mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung, dann schmeißt man das Ding beiseite, es ist Müll, Küchenabfall, nicht der Betrachtung wert, wer braucht das schon, er jedenfalls nicht mehr.

Es waren keine neue Fantasien. Emma hatte sich all das schon oft ausgemalt. Und am Ende war es immer gleich: Wenn es vorbei ist – nicht weil sie fertig ist, sondern weil diese Fantasien sie so erschöpft haben –, ist sie noch immer nicht zufrieden. Noch immer nicht glücklich. Noch immer die Frau, die er aus ihr gemacht hat. Sie zittert am ganzen Körper, und die dunkle Faust in ihr drin, die ihr die Luft wegdrückt, ist unverändert da, sie geht nie mehr weg, egal wie oft sie ihn in Gedanken umbringt, dieses verstümmelte Leben, das er ihr verschafft hat, ist jetzt ihres.

Sie öffnete das Päckchen mit seinem Buch nicht.

Sie trug es auf beiden Händen ins Wohnzimmer. Sie kniete sich vor den alten Einbauschrank unter ihrem Fenster, der mit seiner vergitterten Klappe wie eine Heizkörperverkleidung aussah, und öffnete ihn. Sie zog Akten in verblichenen Pappdeckeln heraus, das Album mit den alten Prozessreportagen und den Ausdrucken von seiner Website, seine ersten Zeitungsartikel, noch aus dem Knast veröffentlicht, seine Vorträge, die nummerierten DVDs mit seinen Fernsehauftritten und den Mitschnitten seiner Vernehmung damals.

Und das Messer. Nicht sein Messer: Das war ein Einzelstück. Ein echtes Wolfgang Gerheim. So etwas gab es nicht in Serie, aber Gerheim hatte ihr ein Messer im gleichen Stil und mit den gleichen Maßen nachbauen können: vierundzwanzig Zentimeter lang einschließlich der Schneide von zwölf Zentimetern, der Rücken bis zu vier Millimeter dick, der Griff aus glatt poliertem Maulbeerholz, die Klinge aus...

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