Pferdeglück und Sommerträume - Wunderschöner Pferderoman für Kinder ab 10 Jahre
von: Kathrin Schrocke, Klaus-Peter Wolf, Bettina Göschl
Loewe Verlag, 2015
ISBN: 9783732004799
Sprache: Deutsch
304 Seiten, Download: 1118 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Ein bester Freund
Wenn sich dein Ring gelb verfärbt, drückt das große Sorge und Stress aus. Achtung, jetzt sind Nerven aus Stahl gefragt!
Unten am Hauseingang wartet Tim auf mich. Sein Schulrucksack hängt lustlos über der einen Schulter, an der anderen baumelt sein schmuddeliger Sportbeutel.
„Dicke Luft bei euch oben?“, fragt er und lächelt mich aufmunternd an. Tim ist mein allerbester Freund. Seit dem Kindergarten wohnen wir im gleichen Haus. Er weiß immer sofort, wenn was mit mir nicht in Ordnung ist. Jetzt nimmt Tim meine Hand und betrachtet den Stimmungsring. Je nachdem, wie es mir geht, wechselt der Stein des Rings die Farbe. Heute glänzt er schleimig gelb: das Zeichen für Stress und megaschlechte Laune.
„Papas Neue war gestern zum Abendessen da“, erkläre ich und kicke vor Ärger eine leere Getränkedose über die Straße. „Weißt du, wie die heißt? Ja-na! Ja-na! Fällt dir was auf?“
Tim schüttelt den Kopf.
Ich bleibe stehen. „Wenn man die Buchstaben vertauscht, kommt Naja raus! Na ja. So ist die auch. So na ja. Vegetarierin. Wegen der mussten wir alle Salamischeiben von der Pizza pflücken! Bestimmt verlässt sie ihn bald und dann gibt es wieder riesiges Geheule.“
Tim grinst. „Übertreib mal nicht!“, meint er. „Vielleicht liebt sie ihn ja wirklich. Wäre doch schön!“
Der muss gerade was sagen. Als seine Mama einen neuen Freund hatte, hat Tim sich sofort Bücher über Selbstverteidigung und Abwehrtechniken besorgt. Er hat tatsächlich geglaubt, dass er in den Büchern irgendetwas zur Vertreibung von neuen Mütter-Liebhabern finden könnte. Hat er aber natürlich nicht. Heute sind sein Stiefvater und er allerbeste Freunde. Aber damals?!
„Was macht die Frau denn so?“, fragt Tim und weicht einem Fahrrad aus, das zu schnell um die Ecke biegt. „Die Neue. Hat sie einen Beruf?“
Ich zucke mit den Schultern. „Mir egal. Wahrscheinlich ist sie staatlich geprüfte Ehebrecherin.“ Die Locken-Frau ist mir wirklich schnurzegal. Meinetwegen kann sie mit Spongebob Schwammkopf in einer Wohngemeinschaft leben und als Tiefseetaucherin arbeiten. Hauptsache, sie verkrümelt sich bald wieder aus unserem Leben. Gestern habe ich jedenfalls kein einziges Wort mit ihr gewechselt.
Tim bleibt vor der großen Werbetafel neben dem Bahnhof stehen, wo in fünf Minuten unser Schulbus hält. Seit zwei Wochen klebt dort ein überdimensionales Werbeplakat: ein weißes Pferd und darauf sitzt eine zierliche Frau in einem gelb gepunkteten Kleid und trinkt Apfelsaft aus der Flasche.
Von Apfelsaft kriege ich Schluckauf. Aber Pferde liebe ich über alles. Früher, als Mama und Papa noch zusammen waren, hatte ich richtigen Reitunterricht. Aber seit der Scheidung ist das vorbei. Der Unterricht ist zu teuer und Papa hat nicht die Zeit, mich ständig mit dem Auto zum Reiterhof zu bringen.
Tim scheint meine Gedanken zu lesen.
„Wenn ich erwachsen bin und Geld habe, kaufe ich dir ein Pferd“, sagt er und knufft mich in die Seite.
„Wenn ich erwachsen bin und Geld habe, kaufe ich dir ein Meerschweinchen“, antworte ich ganz gönnerhaft.
Wir gucken uns an und brechen in schallendes Gelächter aus.
„Wie großzügig!“, sagt Tim und schultert seinen Rucksack, weil der Bus gerade um die Ecke biegt. Noch einen letzten Blick erhaschen wir auf die Reiterin mit ihrem strahlenden Schimmel.
Mit der müsste man tauschen können!
Auf einem Pferderücken über weite Wiesen und Felder galoppieren. Der Wind pfeift einem durchs Haar, und am Horizont …
Aber schon schließt sich die Bustür hinter uns, und ein weiterer öder Schultag bricht an.
* * *
„Ich bin ja so was von erledigt!“ Verzweifelt versenke ich meinen Löffel im Eisbecher und schaufle Vanilleeis in mich hinein. Tim schlürft an seinem Eiskakao. „Hast du das echt vergessen?“, fragt er und schaut mich mitleidig an.
Ja, ich habe es vergessen. Vollkommen. Ganz und gar. Die letzten zwei Wochen vor den Ferien bekommen die siebten Klassen frei, um ein Schülerpraktikum zu machen. Praktikum, so ein lächerliches Wort. In Wahrheit ist es nichts anderes als Kinderarbeit. Ist Kinderarbeit in Deutschland nicht gesetzlich verboten?!
Tim kann es immer noch nicht fassen. „Aber die Eltern wurden doch auf dem Elternabend informiert. Hat dein Papa dich nicht daran erinnert?“
Das letzte bisschen Vanilleeis schmilzt am Grund des Bechers. „Mein Papa war nicht beim Elternabend. Da hatte er einen Auftritt.“
Normalerweise gibt mein Papa in der Musikschule Gesangsunterricht. Aber manchmal hat er abends auch Konzerte. Konzerte, auf denen er dann von wildfremden Frauen angehimmelt wird, die es unglaublich cool finden, einen richtigen Sänger kennenzulernen. Und die ihn doch nur unglücklich machen.
Tim seufzt. „Schöner Mist. Am Montag sollen wir doch schon anfangen mit dem Praktikum! Meinst du, du kannst bei deinem Papa arbeiten?“
Geräuschvoll atme ich ein. „Bei dem? Nie! Was sollte ich da machen? Seine geheiligte Stimmgabel hinter ihm hertragen?“
Tim schaut nachdenklich zu der Kellnerin hinüber. „Und hier? Du könntest in der Eisdiele arbeiten. Bestimmt können die eine kostenlose Bedienung gebrauchen.“
Tim winkt die junge Italienerin heran.
„Si?“ Die Kellnerin sieht uns erwartungsvoll an.
Tim deutet auf mich. „Wir müssen ein zweiwöchiges Praktikum machen …“, druckst er herum. „Und meine Freundin hat noch keinen Platz. Denken Sie, sie könnte hier …“
Tim hat noch nicht mal ausgesprochen, da schüttelt die Kellnerin bereits den Kopf. „Wir haben schon einen Praktikanten“, sagt sie. „Hugo. Bestimmt kennt ihr ihn!“
Klar kennen wir Hugo. Hugo ist einen Meter hoch und einen Meter breit, bildlich gesprochen. Logisch, dass der ausgerechnet in einer Eisdiele arbeiten möchte. Als Resteverwerter! Toll, Hugo ist fein raus.
„Was für einen Praktikumsplatz hast du eigentlich?“, frage ich Tim. Tim grinst. „Mein Onkel hat einen Pizzaservice in München. Da darf ich mithelfen. Und zwei Wochen bei denen auf der Gästecouch pennen.“
Tim, zwei Wochen in München. Und ich allein, hier. Ohne einen Praktikumsplatz. Ich tue mir gleich selbst leid.
Plötzlich hellt sich Tims Miene auf. „He, Kopf hoch! Wir beide klappern jetzt einfach jeden Laden in der Stadt ab. Die Bäckereien, die Cafés, die Kaufhäuser. Irgendwo muss es doch einen Job für ein nettes 13-jähriges Mädchen geben!“
Ich bin da nicht so sicher. In letzter Zeit läuft bei mir alles schief. Die furchtbare Locken-Frau. Meine schlechten Noten. Und jetzt muss ich mir auch noch innerhalb von zwei Tagen eine Praktikumsstelle suchen.
„Zahlen!“, rufe ich der Kellnerin zu und versuche, nicht allzu frustriert zu klingen.
* * *
Als Tim und ich drei Stunden später die Wohnungstür aufschließen, ist unsere Laune vollends im Keller. Mein Stimmungsring hat seine Farbe von Ekelgelb zu Orange gewechselt und wird langsam tiefrot. Wenn er irgendwann zu Staub zerfällt, würde mich das nicht im Geringsten wundern.
„Was ist los, Partner?“ Papa kommt aus der Küche und sieht mich und Tim erstaunt an.
Tim seufzt. „Anika hat vergessen, dass wir ab Montag ein Schülerpraktikum machen müssen. Und alle Stellen in der Stadt sind schon besetzt.“
Eine Falte entsteht auf Papas Stirn. „Ein Praktikum? Aber wieso hast du denn nichts davon erzählt?“
Ich zucke mit den Schultern. „Hab’s vergessen.“
Jetzt kommt auch noch Fabi aus seinem Zimmer geschossen. Und offenbar hat er mal wieder jedes Wort mitbekommen.
„Bist du jetzt arbeitslos?“, fragt er und sieht mich mitleidig an.
„So ungefähr“, antworte ich leise.
Eine Weile sagt niemand etwas. Tim hat die Hände in den Hosentaschen versenkt, Fabi wippt in seinen Garfield-Hausschuhen auf und ab. Papa hat nachdenklich die Arme verschränkt und ich starre ins Leere.
Dann erwacht Papa endlich wieder zum Leben. „Ich hab’s!“, sagt er, schnappt sich das Telefon und verschwindet im Schlafzimmer. Eine Zeit lang hört man nur Gemurmel und schließlich Papas Lachen, als ob er sich schrecklich über etwas freut.
Mit erhitzten Wangen kommt er wieder aus seinem Zimmer heraus.
„Tolle Neuigkeiten, Partner!“, sagt er. „Hol den Koffer vom Dachboden, ich habe einen phänomenalen Job für dich organisiert.“
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.
„Und wo?“ Auch Tim starrt Papa ungläubig an.
„In einer Tierarztpraxis.“
Seit wann kennt Papa denn Tierärzte? Will er mich auf den Arm nehmen?
„Los, los!“ Papa klatscht in die Hände. „Mach eine Liste, was du für eine zweiwöchige Reise brauchst, damit wir dir morgen alles besorgen können. Am Sonntagabend bringe ich dich dann hin.“
„Und wo soll das bitte schön sein?“, frage ich verwirrt.
„Gibt es da auch Elefanten?“, will Fabi wissen und guckt mich neidisch an.
„Elefanten gibt es da bestimmt nicht“, antwortet Papa auf Fabis Frage. „Und die Praxis ist auf dem Land. Ungefähr eine Autostunde von hier entfernt. Jana freut sich schon, wenn sie ab Montag eine helfende Hand hat. Zurzeit platzt ihre Praxis aus allen Nähten.“
„Ja-na?“, wiederhole ich fassungslos und Tim kann ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Jana ist doch Tierärztin“, sagt Papa, als wüssten wir längst Bescheid. „Du kriegst ein eigenes Gästezimmer. Bestimmt versteht ihr euch prima.“
Ausgerechnet Jana. Noch eben habe ich mich richtig über diese tolle Überraschung gefreut. Aber jetzt …
„Das wusste ich ja gar nicht“, murmle...