Vom Pietisten zum Freidenker - Ist alle Religion letztlich nur Aberglaube?
von: Eckhart Dietrich
Books on Demand, 2015
ISBN: 9783848289097
Sprache: Deutsch
312 Seiten, Download: 5243 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1. Anstoß zum Nachdenken und erste Zweifel
Besonders verdächtig sind mir seit jeher religiöse Fanatiker. Ich räume ein, durch die Herkunft aus einem christlichen Elternhaus (zumindest was meine gute Mutter, den Großvater mütterlicherseits und die Großmutter väterlicherseits angeht) und die in einem BK-Kreis1 vermittelt bekommenen Werte eine gewisse Sicht der Dinge verhältnismäßig unkritisch verinnerlicht und daran lange nicht gerüttelt zu haben. Ich hätte es auch begrüßt, wenn mir im Folgenden jegliche Zweifel erspart geblieben wären und ich weiter sozusagen aus einer Position der Stärke heraus hätte leben können. Mich erschreckt heute, mit welch überheblichen Worten ich meinem zweiten Paten, immerhin emeritierter Professor für praktische Theologie, begegnen konnte, nachdem ich in einer seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen an versteckter Stelle Glaubenszweifel ausgemacht zu haben wähnte. (Übrigens zu Unrecht, wie ich später einsehen musste.) Auch kann ich jetzt den Gefühlsausbruch eines Freundes verstehen, der einmal meiner voller Überzeugung bekannten Glaubenszuversicht mit dem herausgeschrienen Vorwurf entgegengetreten war: „Du immer mit Deiner verdammten Sicherheit!“
Unvorhergesehener Auslöser meiner weit reichenden Überlegungen war ein so banaler Vorgang wie der routinemäßige Griff zur abonnierten Tageszeitung, aus dem sich eine folgenschwere Kausalkette entwickeln sollte: In der Festtagsausgabe des Berliner „Tagesspiegels“ wird seit vielen Jahren das von Seiten eines bestimmten intellektuellen Leserkreises besonders geschätzte Weihnachtsrätsel abgedruckt, in dem es zumeist anhand lückenhafter Andeutungen zu ihren Lebensschicksalen gewisse mehr oder minder bekannte Personen der Zeit- oder Kulturgeschichte zu erraten gilt. Die oft recht kniffligen Fragen beschäftigen manche Familien und Freundeskreise gewöhnlich über Tage. Als Lohn der richtigen Lösung winkt die Veröffentlichung der Namen der gescheiten Rater in einer der folgenden Zeitungsausgaben, auf dass auch andere lesen könnten, was man für ein kluges Köpfchen habe. Ich hatte mir bisher nie die Zeit für die notwendigen Recherchen genommen aber – zugegebenermaßen – schon mit einem gewissen Gefühl der Anerkennung registriert, wer aus meinem Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis wieder erfolgreich gewesen war. Zu Weihnachten 1989 bezogen sich – wie es schon in einer Vorbemerkung hieß – alle Fragen auf biblische Personen und Begebenheiten. Da fühlte ich mich herausgefordert; hier wurde mein Lied gespielt. Einige Fragen konnte ich aus dem Stegreif beantworten. Bei anderen kannte ich die Zusammenhänge und wusste daher, an welcher Stelle ich nachzuschlagen hatte. Übrig blieb schließlich die Schilderung einer ziemlich grausigen Moritat, zu der mir überhaupt nichts einfiel. Als auch die Konkordanz nicht weiter half, machte ich mich daran, die Bibel von Anfang an durchzulesen. Immerhin war ich schon oft aus berufenem geistlichen Mund aufgefordert worden, „die Bibel zu lesen“.
Darüber hatte ich mich bisher mit der Erwägung aus dem Kinderevangelium hinweggesetzt: „Wahrlich ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“2 Ich dachte, kindliches Grundwissen und ein unspezifisches Urvertrauen würden eigentlich schon genügen. Die katholische Kirche rät ihren Mitgliedern ja ausdrücklich davon ab, theologische Untersuchungen anzustellen (nicht ohne Grund wurden bis Mitte der 60er Jahre die Messen in Latein gelesen).3 Heißt es nicht auch in der Bergpredigt: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“4 Also hielt ich die Vermittlung von Details, die nur Verwirrung stiften könnten, für, wenn schon nicht entbehrlich5, so doch angesichts meiner vielfältigen anderen Aktivitäten jedenfalls nicht vordringlich. Dem Eifer anderer bei der Interpretation von Bibelworten war ich zumeist mit Skepsis begegnet. Ich erinnere beispielsweise eine heftige Auseinandersetzung in meiner Schöneberger Heimatgemeinde „Zum Heilsbronnen“ über die Auslegung der Einsetzungsworte zum Abendmahl.6 Da wurde sehr darum gerungen, ob die Aussage „das ist mein Leib“7 wortwörtlich als „Transsubstantiation“8 oder im Sinne von „das bedeutet“ zu verstehen sei.9 Ähnlich verbissen ging es um die Aussage „eines Wesens mit dem Vater“ (οµοουσιος) in dem Nicaeischen Glaubensbekenntnis, der die Arianer auf dem Konzil von 325 n.Chr. ihr „οµοιουσιος“ (gleichartig, ähnlich) entgegenzusetzen gesucht hatten.10 Mich berührten solche Probleme schon damals nicht eigentlich, hatte ich doch weder bei der einen wie der anderen Auslegung zwingende Schlussfolgerungen für mein Seelenheil zu erkennen vermocht. Heute halte ich derartige Diskussionen für so absurd, als ob auf der sinkenden Titanic über das Repertoire des Bordorchesters gestritten worden wäre.
Seinerzeit beschlich mich zwar ein ziemlich unbehagliches Gefühl, der Aufforderung zur Bibellektüre ausgerechnet wegen eines Freizeitvergnügens zu entsprechen (also aus der Eitelkeit, auch einmal zu den namentlich genannten Rätsel-Einsendern zu gehören); ich dachte aber, etwas Schlechtes könnte dabei jedenfalls nicht herauskommen. Ich stieß dann auch bereits in der Genesis11 auf das gesuchte „Blutbad zu Sichem“. Was ich da und des Weiteren – ich begnügte mich nun nicht mit dem Auffinden der gesuchten Textstelle und legte, einmal aufgeschreckt und hellhörig geworden, die Bibel lange nicht mehr aus der Hand – zu Beginn des Alten Testaments12 lesen musste, machte mich sehr nachdenklich.
Da waren mir aus vielen gottesdienstlichen Verrichtungen vertraute Bibelworte wie etwa
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei;…“13
„Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen.“14
„Seid fruchtbar und mehret Euch...“15
„... und rufe mich an in der Not, so will ich Dich erretten, so sollst Du mich preisen.“16
„Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen,…“17
„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“18
„Denn Du bist Erde und sollst zu Erde werden.“19
„Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein.“20
„Ich bin der Herr Dein Gott…“ (die heiligen zehn Gebote21)
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“22
„Befiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.“23
„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von Dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, Dein Erbarmer.“24
„Der Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“25
„Siehe, ich habe Dir geboten, dass Du getrost und freudig seiest.“26
in Schilderungen ganz banaler oder auch hoch dramatischer Auseinandersetzungen mitunter recht wenig vorbildhafter Menschen eingestreut. Es irritierte mich schon, wenn beispielsweise der Stammvater Abraham (vormals Abram27), zu dem es heißt:
„Und der Herr sprach zu Abram: »Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“28
sowohl bei seiner Flucht nach Ägypten wie auch später gegenüber dem König Abimelech zu Gerar29 seine schöne Frau Sara (vormals Sarai30) als Schwester ausgab, um sich mit dieser List befürchteten Übergriffen gegen seine Person zu entziehen31, und nachher zu meiner Verblüffung ganz ungeniert einräumt:
„Auch ist sie wahrhaftig meine Schwester; denn sie ist meines Vaters Tochter, aber nicht meiner Mutter Tochter, und ist mein Weib geworden.“32
– das alles unter der schrecklichen Drohung:
„Wenn jemand seine Schwester nimmt, seines Vaters Tochter oder seiner Mutter Tochter, und ihre Blöße schaut und sie wieder seine Blöße, das ist Blutschande. Die sollen ausgerottet werden vor den Leuten ihres Volks; denn er hat seiner Schwester Blöße aufgedeckt; er soll seine Missetat tragen.“33
Sollte Abraham insoweit eine allerhöchste „Ausnahmegenehmigung“ gehabt haben? Auch im Übrigen hatte er zwar mit der Bereitschaft, seinen einzigen ehelichen Sohn Isaak zu...