Auf glühendem Eis

Auf glühendem Eis

von: Mike Mateescu

Emons Verlag, 2016

ISBN: 9783863589578

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 3414 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Auf glühendem Eis



1

Freitag, 20. Januar, 00.23 Uhr, -10°

Vom Abgrund aus starrte er in eine schaurig furchterregende Winternacht. Züri-West, das aus Beton gemeisselte Industriequartier, ruhte im postnuklearen Halbdunkel. Zwischen stark verschmutzten Bauplanen stehend blickte Vlàd Claviér (34) vom dritten Stockwerk des im Umbau befindlichen Toni-Areals auf erloschene Geschäftshäuser. Auf schneebedeckte Trottoirs und vereiste Kreuzungen. Das Rauschen der fernen Autobahn mischte sich mit dem ätherischen Schienengesang des SBB-Trassees. Wie Schmirgelpapier rieb sich der Nachtwind an seinen Wangen. Horden feister Schneeflocken taumelten vom smaragdfarbenen Firmament herab. Er schlotterte am ganzen Körper, weil die klirrende Kälte tief in seine abgetragenen Kleider kroch und weil ihm die Existenzangst im Nacken sass. Doch er zitterte noch aus einem anderen Grund. In seinem Blut prickelte die Aufregung über die sensationelle Entdeckung im Archiv. Damit würde er sich bestimmt etwas Zeit borgen, sich mit genügend Verhandlungsgeschick vielleicht sogar ganz aus seinem Schlamassel kaufen.

Er schielte auf den giftgrünen Schein seines 2G-Handys und stiess eine Verwünschung aus. Der Typ war schon wieder spät dran. Und warum bloss wollte der sich stets an einem so gefährlichen Ort wie auf einer Baustelle treffen? Reines Glück, dass er sich bislang nur den grossen Zeh an einem fies herumliegenden Ziegelstein gestossen hatte. Ganz zu schweigen davon, noch keiner Patrouille der «Servilas Gebäudeschutz AG» begegnet zu sein. Die Anzahl der Securityleute schien mit jedem Monat weiter zuzunehmen, nun, da die Bauarbeiten in die heisse Phase traten. Und warum verdammt ausgerechnet im Bauch dieser Baustelle?

Nach seiner Fertigstellung würde der Komplex zum neuen Hauptsitz der ZHdK werden, der Zürcher Hochschule der Künste. Jeden Tag würde er dann den Anblick von deren Studenten ertragen müssen. Diesen Schupfis und Schnaaggis mit ihren Jutebeuteln, hochgekrempelten Röhrenjeans, Hosenträgern, grünen Parkas und Männerdutts. Schimpften sich kreativ, ohne jemals hart geschuftet zu haben – ausser vielleicht bei verlängerten Kaffeepausen im «Starbucks» oder bei der schweren Misshandlung von Espressomaschinen in einer Szeni-Beiz. Nein, Gestaltungsschmieden wie diese, wo Kunz hineinging und Kunst herauskam, waren eine Abscheulichkeit. Damals, in den frühen Neunzigern, als er selber noch Schulabgänger gewesen war, da hatte man schon auswandern müssen, wenn man etwas anderes als Buchhalter werden wollte. Spieledesigner hatte man nur in Kalifornien, Maler nur in New York oder Paris werden können.

Wut trieb die Kälte aus seinen Gliedern. Wenn er doch bloss das Geld gehabt hätte. Wenn ihm bloss eine musikalische Ausbildung vergönnt gewesen wäre. Epische Werke hätte er geschaffen. Klänge gebastelt, die die Welt noch nicht gehört hatte. Ein triumphierendes Lächeln überzog sein Gesicht. Wahrlich ausgleichende Gerechtigkeit, dass er auf den Heiligen Gral der Schweizer Kunstgeschichte gestossen war! Sein Leben, das zwei Jahrzehnte lang von Krampf und Knechtschaft geprägt gewesen war, mochte nun endlich die lang ersehnte Kehrtwende nehmen. Anerkennung aus akademischen Kreisen und sozialer Aufstieg. Die würden die Bahnhofstrasse nach ihm benennen. Vorausgesetzt, er überstand die Nacht. Und dazu musste er diesem Vorzeigeproll erst einmal die Tragweite seines Fundes begreiflich machen.

Die Gelegenheit dazu bot sich schneller, als ihm lieb war. Schwere Schritte schlurften über den schmutzigen Beton und kickten einen wehrlosen Plastikeimer in den Schatten. Eine bullige Gestalt trat fluchend in den Schein der Strassenlaternen, der unten von der Strasse zaghaft in die Halle drängte. Wie immer trug er den halben Winterkatalog des PKZ am Leib. Wie konnte man bloss so viel Geld liegen lassen, um hinterher bestenfalls durchschnittlich auszusehen? Und warum trug der Typ sogar nachts eine Sonnenbrille? Dies war bereits ihr sechstes oder siebtes Treffen, aber so dick verpackt, wie der herumrannte, wäre es Vlàd wohl kaum gelungen, ihn bei Tageslicht wiederzuerkennen. Er kannte noch nicht einmal seinen Namen. Zeit, allen Mut zusammenzukratzen. «Können wir uns eigentlich nicht mal an einem normalen –»

«Halt’s Maul!», knurrte der Fremde und streckte ihm den Kopf ins Gesicht. «Hast du es dabei?»

Vlàd glückte ein brüchiges Lächeln. «Nein, aber ich –»

Eine Ohrfeige explodierte an seiner Wange. «Zopenco! Du weisst haargenau, was passiert, wenn du heute nicht zahlst.»

Vlàd torkelte einen Schritt näher an den Rand des Abgrunds, wo ein tödlicher Sturz lauerte. «Warte!», stammelte er. Ungelenk fasste er in seine Jackentasche, nestelte ein paar gefaltete A4-Blätter hervor und streckte sie zitternd hin.

«Was soll das?», fragte der Fremde ohne den geringsten Funken Interesse in der Stimme.

«Schau es dir einfach an, okay? Ist ein gewaltiges Vermögen wert …»

Sichtlich verärgert streifte sich der Fremde die Sonnenbrille ab, um die Abzüge mit dunklen Augen zu überfliegen. Dann liess er die Seiten fallen und langte Vlàd gleich noch eine. «Im Ernst?»

Vlàd fiel auf die Knie und tastete verzweifelt nach den Blättern. «Jetzt lass mich mal ausreden.»

«Ich will aber keine Ausreden. Ich will einkassieren.» Stählerne Griffel packten ihn bei den Schultern, rissen ihn hoch und zerrten ihn zum Abgrund.

Panisch klammerte sich Vlàd an die Ärmel des Schlägers. «Ich kann dir mehr geben, als du verlangst», japste er.

«Schätze, für heut hab ich mehr als genug gehört.»

Vlàds Oberköper hing nun gänzlich in der Luft. Unter seinen Schuhen konnte er den eingezäunten Grund sehen, wo bald der Haupteingang aufgezogen würde. In den furchteinflössenden Anblick mischten sich aufwühlende Bilder aus seiner Kindergartenzeit. Erinnerungen an seine Pubertät. Ein einziger Horrorstreifen. Es kam ihm vor, als würde er sich selbst von weit weg sprechen hören. «Wir reden hier vom wichtigsten Schweizer Kunstschatz aller Zeiten. Ein unschätzbares Kulturgut. Friedhelm Döhr hat dem Klunker einen ganzen Roman gewidmet. ‹Gezeitenwechsel›. Du kennst Döhr, nicht?»

«Kenn ich. Ist aber egal. Zorillas Rose ist ein Märchen. So wie Tells Armbrust.»

«Sie existiert. Und ich kann es beweisen», ächzte Vlàd.

Ein amüsiertes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Fremden breit. «Womit? Mit ein paar Fresszetteln?»

Vlàd rüttelte verzweifelt an den Armen, die ihn mühelos stemmten. Der Eintreiber war so kräftig, er musste der Teufel persönlich sein. «Es ist die beste Spur seit Jahrzehnten. Die Lösung steht dort irgendwo drauf, ich weiss es.» Er konnte seine zittrigen Worte kaum selbst verstehen.

Der Fremde fixierte ihn einen endlosen Augenblick lang durch die finsteren Gläser seiner Sonnenbrille. «Komisches kleines Kerlchen …» Achtlos warf er ihn zurück auf den Grund, bückte sich gemächlich und hob erneut eine Seite hoch. Jene, die eine Fotografie abbildete, wie Vlàd im Gegenlicht der Strassenbeleuchtung erkannte. «Selbst wenn du sie finden solltest», brummte er nach einer Weile, «was dann? Willst du sie auf Ricardo stellen? Auf einen Finderlohn würde ich nämlich nicht hoffen.»

Vlàd stand schon wieder auf wackeligen Beinen, als der Fremde sich über ihn beugte. «Seit ich diesen Job mache, habe ich noch jedem, der nicht blechen konnte, Zähne ausgeschlagen. Aber du … du widerliche Filzlaus bist derart erbärmlich, dass selbst mich das Mitleid überkommt.» Beiläufig stopfte er das Papier in seine Jackentasche.

«Danke», stammelte Vlàd. «Danke, dass du langfristig denkst.»

Kaum hatte er die Worte gesprochen, traf ihn ein Faustschlag in die Magengrube. «Eine Woche!», knurrte der Fremde. «Das ist die einzige Frist, die du kriegst. Gleiche Zeit, gleicher Ort!» Auf seinem Weg in den Schatten trat er einen weiteren Plastikkübel.

Vlàd verblieb auf den Knien, bis seines Peinigers Schritte im Treppenhaus verklungen waren. Dann erst traute er sich wieder hoch und begann mit zittrigen Fingern die Seiten einzusammeln. Er hatte schon befürchtet, dass der Tubbel ihm die Geschichte nicht abkaufen würde, und nun hatte er tatsächlich eine letzte Erstreckung gewährt bekommen. Weise. Tote zahlten schliesslich nicht. Allerdings hatte er wahrscheinlich recht. Er würde den Schatz nicht einfach so den Behörden übergeben können, ohne eine entschädigungslose Konfiszierung zu riskieren. Nicht bei seiner Vorgeschichte. Nicht bei seinem Schuldenregister. Medien, Kunstsammler, Politiker. Die waren allesamt so korrupt, da konnte er sich gleich an die Unterwelt wenden.

Wer brauchte schon Ruhm, wenn sich Freiheit bot? Er würde den Klunker nach Hamburg schaffen und ihn mit Hilfe seines Halbcousins vom erstbesten Hehler in harte Währung ummünzen lassen. Das brauchten keine Millionen sein. Hunderttausend würden locker reichen für eine lange Auszeit auf einem Bauernhof irgendwo im ungarischen Hinterland, der Heimat seiner Anya. Wo niemand Fragen stellte, weil ihn keine Sau kannte. Wo es keinen interessierte, wenn er selbst gezüchtetes Gras rauchte, bis die Hirnlappen wackelten. Klar hätte er bereits gestern auswandern können, aber bevor er der Schweiz endgültig den Rücken kehrte, würde er erst noch den Fremden per Western Union ausbezahlen. Er wollte sich nämlich nicht für den Rest seines Lebens ängstlich über die Schulter blicken müssen. Zwar würden weder das Betreibungsamt noch der...

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