Mitten auf der Straße - Die Erzählungen

Mitten auf der Straße - Die Erzählungen

von: Michael Köhlmeier

Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, 2016

ISBN: 9783552063181

Sprache: Deutsch

616 Seiten, Download: 1355 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Mitten auf der Straße - Die Erzählungen



Daidalos


Daidalos war ein Baumeister, er war der berühmteste Baumeister der griechischen Sagenwelt, der berühmteste Architekt, der berühmteste Ingenieur, der berühmteste Erfinder. Und er war – das wissen nur wenige – in seiner Jugend auch Bildhauer gewesen.

Sokrates hat behauptet, er stamme von Daidalos ab. Er hat gesagt, der sei ein Vorfahre von ihm, dieser Daidalos, und hat sich dabei auf dessen bildhauerische Tätigkeit bezogen. Der Philosoph meinte das in einem übertragenen Sinn, nämlich in Bezug auf seine eigene Methode des Philosophierens. So wie Daidalos mit seinen Händen der Wahrheit auf die Spur gekommen sei, so komme er, Sokrates, eben mit seinen Fragen der Wahrheit auf die Spur.

Nun wissen wir, dass Daidalos eine radikal naturalistische Auffassung der Bildhauerkunst vertrat. Er hatte sehr geschickte Hände, und er baute Menschen nach. Ich weiß nicht, welches Material er dafür verwendet hat. Diese Figuren jedenfalls stellte er in Athen, seiner Heimatstadt, auf dem Marktplatz auf. Dann hat er sich verkleidet, so wird erzählt, und hat gehorcht, was die Leute dazu sagten. Und die Leute waren begeistert von den Figuren, und Daidalos wurde berühmt.

Und was sagten die Leute?

Sie sagten: »Diese Figuren sehen fast so aus, als ob sie lebten. Fast!«

Und das war ein Stachel für des Daidalos’ Ehrgeiz. Von nun an war es sein Ziel, dieses »Fast« loszuwerden. Er wollte, dass seine Figuren von wirklichen Menschen nicht zu unterscheiden seien.

Er hat Nachforschungen angestellt, was seinen Werken fehle. Da hieß es: die Bewegung. Die Figuren, hieß es, stehen nur so da. Von weitem betrachtet, könne man sie vielleicht wirklich nicht von lebenden Menschen unterschieden. Wenn man sie aber länger und von der Nähe ansehe, dann bemerke man, die stehen ja nur da, die sind nicht echt, die können nicht echt sein. – Leben aber heißt sich bewegen.

Da hat Daidalos in seine Figuren einen Mechanismus eingebaut, hat aus ihnen Maschinen gemacht. Und nun bewegten sie sich.

Und was geschah? Nichts geschah. Gar nichts. Für Daidalos eine Katastrophe.

Die Leute sagten: »Man hat schon lange nichts mehr von Daidalos gehört. Was macht der denn? Macht er noch etwas?«

Seine Figuren, die sich auf dem Marktplatz von Athen bewegten, die sahen so aus wie lebendige Menschen, die hat tatsächlich niemand von lebendigen Menschen unterscheiden können. Alle sind an diesen Figuren vorbeigegangen, haben sie gegrüßt oder nicht gegrüßt, aber niemand hat sich um sie gekümmert.

Daidalos verstand die Welt nicht mehr. Er beschloss, die Bildhauerei aufzugeben. Diese Kunst, schimpfte er, sei nichts weiter als eine dumme, fruchtlose Spielerei.

Wer war nun dieser Daidalos?

Stellt man eine solche Frage, dann heißt das in der alten Sagenwelt, man muss sich die Antwort aus der Verwandtschaft, aus der Herkunft holen. Der Mythos kennt keine Begriffe, er kennt nur Namen. Wir müssen also an dieser Stelle einen kleinen Ausflug in die mythische Vorvergangenheit machen:

 

Einer der Vorfahren des Daidalos war der erste König von Athen, nämlich Erichthonios. Er war halb Mensch, halb Schlange. Sein Vater war Hephaistos, der Gott mit den guten Händen, der Ingenieur unter den Gottheiten. Wobei ich das Wort »Vater« zwischen kräftige Anführungszeichen setzen möchte. Die Mutter des Erichthonios war Pallas Athene. Das Wort »Mutter« möchte ich ebenfalls zwischen Anführungszeichen stellen, noch kräftigere Anführungszeichen.

Wenn Hephaistos der Gott der sauberen, perfekten praktischen Ausführung ist, dann ist Pallas Athene die Göttin des genialen Einfalles. Man denkt sich, wenn diese beiden zusammenfinden, dann kommt etwas Großes heraus. Von Hephaistos Seite wäre einem Zusammenkommen nichts entgegengestanden, er war verliebt in Athene. Sie aber, sie wollte nicht, sie wollte Jungfrau bleiben. Sie war in niemanden verliebt, nie. Ich hätte mir immer gewünscht, dass Athene und Hephaistos ein göttliches Paar werden. Ich fand, sie passen gut zusammen. Beide klug, beide schöpferisch veranlagt. Beide, was ihre Herkunft betrifft, ähnlich. Gut, Hephaistos hinkte, aber das hätte Athene sicher nicht gestört, ihr war der Geist, die Intelligenz wichtig. Deshalb hat sie auch keinen Gott mehr verachtet als den blöden Kriegsgott Ares.

Hephaistos ist der Sohn der Hera, aber er hat keinen Vater. Hera, die so oft von ihrem Gatten Zeus betrogen wurde, wollte es ihm einmal zeigen, sie hat sich gesagt: Ich bringe das ganz allein fertig, ich brauche keinen Mann dazu. Und hat aus sich selbst heraus den Hephaistos geboren, und er gefiel ihr nicht, er war so hässlich, und sie hat ihn vom Olymp auf die Erde geschmissen. Es ist nicht sicher, ob er zweiundzwanzig oder achtundzwanzig Stunden lang geflogen ist, aber er landete sehr hart und hat sich dabei die Hüfte zerschmettert und ein Bein gebrochen.

Eine Nymphe hat ihn großgezogen, und er wurde Schmied, und sein Meisterstück war eine Hommage an seine Mutter Hera, die ihn vom Olymp geworfen hatte. Er hat ihr einen Thron aus Gold gebaut und hat ihn in den Olymp schicken lassen, und dieser Thron war schöner als der Thron des Zeus. Darauf hat sich Hera sehr gerne gesetzt.

Dieser Hephaistos hatte die Gabe, tief in die Seelen der Götter blicken zu können. – Dabei weiß ich gar nicht, ob die Götter Seelen haben. – Wie auch immer: Hephaistos erkannte, dass Mensch und Gott nie lächerlicher wirken, als wenn sie gezwungen werden, das zu tun, was sie am liebsten tun. Wenn wir zu unserer Lieblingsbeschäftigung gezwungen werden, dann werden wir zum Gespött. Hera hat nichts lieber getan, als bei Tisch zu sitzen und zu tafeln und mit ihren Händen die Armlehnen ihres goldenen Thrones zu streicheln. Und als sie dann aufstehen wollte, hat sie einen Mechanismus ausgelöst, und sie konnte sich nicht mehr von diesem Stuhl erheben, sie war daran gefesselt.

Die Götter lachten, zuerst lachten sie. Aber das kann ja nicht angehen, dass die Göttermutter an den Esstisch gefesselt ist. Aber keinem gelang es, den bösen Mechanismus zu lösen.

Da ließ Hephaistos mitteilen: »Wenn ihr mich in den Olymp aufnehmt, dann werde ich meine Mutter befreien.«

So hat er sich in den Olymp hinaufgepresst, dieser kluge Hephaistos.

Es war zur selben Zeit, als Zeus heftige Kopfschmerzen bekam, und zwar so heftige Kopfschmerzen, dass er den handwerklich geschickten Neuankömmling Hephaistos bat, er solle doch eine Axt nehmen und ihm den Schädel spalten. Das hat Hephaistos gern getan, und aus dem Kopf des Zeus stieg Pallas Athene, auch Zeus hat ohne Zutun des anderen Geschlechts ein Kind hervorgebracht. In voller Rüstung stand sie da, prächtig, gescheit, humorlos: Pallas Athene.

Hephaistos, der aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, verheiratet worden war, hat, wie gesagt, Athene geliebt. Sie hingegen war sehr kühl zu ihm, seinen handwerklichen Rat hat sie zwar geschätzt, persönlich aber war sie nie geworden. Und Hephaistos hat darunter gelitten.

Eines Tages wollte sich Hermes einen Spaß machen, und er sagte zu Hephaistos: »Weißt du denn nicht, dass Athene dich heimlich doch liebt? Sie will erobert werden, die will besiegt werden, du musst sie stürmisch nehmen!«

Als dann Athene das nächste Mal zu Hephaistos kam, um sich etwas an ihrer Rüstung ausbessern zu lassen, hat er sich gedacht, so, dann nehme ich sie jetzt stürmisch. Er ist über sie hergefallen. Aber Pallas Athene wollte das nicht. Sie hat ihn weggestoßen. Jedoch der Samen des Hephaistos hat bereits ihr Kleid befleckt, und das wollte sie nicht, und sie hat diesen Fleck vom Kleid weggerissen und hat den Fetzen auf die Erde geschleudert. Und dieses Stück Baumwolle hat sich mit der Erde vermengt, und daraus ist dieser Vorfahr des Daidalos, nämlich Erichthonios, geworden. Nun versteht man, warum ich »Vater« und »Mutter« zwischen dicke Anführungszeichen setzen wollte.

Erichthonios heißt: aus Wolle und Erde gemacht. Er war halb Schlange und halb Mensch, und er erbte die Gaben des Hephaistos und der Pallas Athene. Und diese Gaben wurden über die Geschlechter weitergegeben und reiften schließlich in der Person des Daidalos zur vollen Blüte heran. Die Alten sagten: In Daidalos ist Hephaistos wiedergeboren, aus Daidalos spricht Pallas Athene.

Nun, nach der großen Enttäuschung bei der Bildhauerei hat sich Daidalos auf die Lehrtätigkeit zurückgezogen, hat junge Menschen in Architektur und Ingenieurkunst unterrichtet und sie vor der Darstellung des Menschen gewarnt.

Der Begabteste unter allen seinen Schülern war sein Neffe Perdix, der Sohn seiner Schwester Polykaste. Ovid sagt, Perdix sei erst zwei mal sechs Jahre alt gewesen, da habe er die Säge erfunden. Mit zwölf! Er hat auch den Zirkel erfunden. Mit dreizehn! Das hat Daidalos auf der einen Seite stolz gemacht, jeder gute Lehrer ist stolz, wenn sein Schüler besser ist als er. Aber auf der anderen Seite hat das den Daidalos auch verrückt gemacht. Es steht nirgends, dass er ein guter Lehrer war.

Daidalos war neidisch und zornig, und er wollte seinen Neffen bloßstellen und hat ihm dauernd schwere Fragen gestellt, und Perdix hat die Antworten gewusst, und Daidalos hat ihm noch schwerere Fragen gestellt, und durch diese Fragenstellerei wurde Perdix nur noch klüger.

Und das hat dann dem Daidalos Wolken ins Herz gejagt, und eines Tages am frühen Morgen standen sie oben auf der Akropolis, und Daidalos hat gefragt, und Perdix hat gewusst, und da hat der Lehrer dem Schüler einen Stoß gegeben, und Perdix ist vom Felsen gestürzt. Im selben Augenblick aber hat Pallas Athene die Seele des Daidalos verlassen. Sie hat den Perdix aufgefangen und hat ihn in ein Rebhuhn verwandelt.

Damals existierten bereits Recht und Gesetz, und das...

Kategorien

Service

Info/Kontakt