Wünsche sind für Versager

Wünsche sind für Versager

von: Sally Nicholls

Carl Hanser Verlag München, 2016

ISBN: 9783446252219

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1634 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wünsche sind für Versager



Zuhause Nummer 13
Liz


Liz war das, was man eine Special-Need-Platzierung nennt. In den eineinhalb Jahren, die ich bei ihr wohnte, sollte sie ein braves kleines Mädchen aus mir machen, das dann bereit wäre für die Welt und sich perfekt in eine neue Familie einfügen würde.

Ich war bei ihr eingezogen, nachdem mich mein zweites ­Adoptiv-Elternpaar, Dussel-Graham und Grummel-Annabel, raus­geworfen hatte. Allerdings konnte man Graham und Annabel da keinen Vorwurf machen. Ich war furchtbar zu ihnen. Ich habe alle Porzellanfigürchen von Grummel-Annabel kaputt geschlagen, ich habe in ihr Bett gepinkelt, ich habe mit Tellern nach ihr geworfen und sie angelogen, alles Spielzeug ruiniert, das die beiden mir geschenkt haben, Annabel getreten und gebissen und geschlagen. Eigentlich wundert es mich, dass sie mich überhaupt so lange behalten haben. Wenn ich mein Kind gewesen wäre, hätte ich mich schon viel früher rausgeworfen. Aber die zwei waren irgendwie Idioten.

Dussel-Graham weinte fast, als er mich wegbrachte.

»Du weißt doch, dass wir dich weiter lieb haben, mein Schatz«, sagte er. »Du bist für immer unser kleines Mädchen, egal, was passiert.«

»Meinetwegen«, sagte ich. »Kann ich jetzt gehen?«

Dussel-Graham guckte, als ob ich ihm eine reingehauen hätte.

»Wirst du uns denn nicht vermissen?«, fragte er. »Deine Mami und deinen Papi?«

»Du bist nicht mein Papi«, erklärte ich. »Und sie ist nicht meine Mami. Ich will euch nie mehr sehen!«

»Prinzessin«, keuchte Dussel-Graham und weinte jetzt wirklich, aber ich spuckte ihn an und rannte ins Haus, damit ich ihn nicht mehr sehen musste. Er und Grummel-Annabel waren genau wie die erste Runde von Idioten, die mich adoptieren wollten. Die haben auch dauernd gesagt, sie hätten mich lieb, dabei wusste ich genau, dass sie mich irgendwann rausschmeißen würden. Ich wusste es einfach.

Zuerst wollte ich auch nicht bei Liz sein. Sie wohnte alleine, und alleinstehende Frauen waren am schlimmsten. Violet war so eine alleinstehende Frau gewesen und meine Mum auch. Außerdem sagten die vom Jugendamt andauernd, Liz würde mir beibringen, mich zu benehmen, bei ihr käme ich mit meinen Tricks nicht durch, also dachte ich, sie würde mich verprügeln. Von Violet und meiner Mum wusste ich, wie Frauen dir beibrachten, dich zu benehmen. Sie verbrannten dich mit Zigaretten, schlugen dich und sperrten dich im Keller ein. Wobei das alles nichts brachte. Ich blieb trotzdem schlimm.

Aber bei Liz zu wohnen war … interessant. Sie war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Wenn ich sagte: »Wenn du doch tot wärst! Ich hasse dich!«, wurde sie nicht wütend wie meine anderen Pflegemütter. Sie lachte nur, nahm mich in den Arm und sagte: »Macht nichts, ich hab dich lieb!«, und zwar so, als ob sie das wirklich meinte.

Sie war überhaupt wahnsinnig schwer wütend zu machen. Am ersten Abend bei ihr sagte ich, dieses eklige Essen würde ich nicht anrühren, aber sie lachte nur und meinte: »Auch gut, dann hab ich mehr für mich!« Dann futterte sie fröhlich weiter und ich saß da wie der letzte Depp.

»Was soll ich dann essen?«, fragte ich irgendwann und sie sagte: »Wie wär’s mit Frühstück?«

Wenn ich einen Anfall bekam und losbrüllte, ging sie weg und machte irgendwas in ihrem Garten. Einmal bin ich ihr hinterher und habe ihre Pflanzen rausgerissen, da ist sie zurück ins Haus und hat die Tür hinter sich abgesperrt. Da habe ich alles Gemüse rausgerissen und zertrampelt und dann Dreck gegen die Fensterscheiben geschmissen. Sie hat mich ewig lang draußen schmoren lassen, bis es dunkel wurde und ich keine Lust mehr hatte, irgendwas zu zertrampeln. Als ich wieder ruhig war, ließ sie mich rein und machte mir eine große Schüssel Haferflockensuppe.

»Bist du nicht wütend?«, fragte ich. Normalerweise drehten die Leute durch, wenn ich ihnen was kaputt machte. Und Grummel-Annabel, meine alte Adoptivmutter, bekam immer Angst. Ich war erst acht, als ich von dort wegging, trotzdem hatte sie dauernd Angst vor mir gehabt.

»Ich hab Sportschau geguckt«, sagte sie. »War ein schöner Abend.« Ich war müde und traurig und noch einsamer als vorher. Sie machte sich nichts aus mir. Es war ihr egal, dass ich den ganzen Abend draußen in der Kälte gewesen war.

»Vielleicht guckst du nächstes Mal auch mit«, sagte sie und nahm mich in den Arm. Ich machte mich los.

»Ich hab deine blöden Pflanzen kaputt gemacht, alle«, erklärte ich.

»Ich weiß«, sagte sie. »Da müssen wir morgen irgendwas machen.«

In den anderen Familien konnte ich anstellen, was ich wollte, keiner konnte mich bestrafen. Wenn ich mich entschuldigen oder in mein Zimmer gehen sollte, machte ich das einfach nicht. Meine ersten Adoptiveltern trauten sich irgendwann nicht mehr, mich zu bestrafen, weil ich dann immer Wutanfälle bekam. Ich trat ihren Sohn und schlug gegen die Wände, bis sie Löcher bekamen, und am Ende fanden sie es zu anstrengend, mit mir zu schimpfen. Auch Liz schimpfte nicht mit mir, aber sie ließ mich für das, was ich kaputt gemacht hatte, bezahlen. Die Gemüsepflanzen, die noch halbwegs heil waren, musste ich wieder einpflanzen, und für die, die ich zertrampelt hatte, musste ich Sachen im Haushalt machen, Staub saugen oder den Boden aufwischen oder die Spülmaschine einräumen.

»Tu ich nicht!«, sagte ich beim ersten Mal. Liz drückte mir einfach Gartenhandschuhe und den Spaten in die Hand, mit einem großen Lächeln.

»Nimm dir so viel Zeit, wie du willst, Liebes«, sagte sie. »Ich bin drinnen. Vielleicht mach ich uns Cupcakes.«

Dann ließ sie mich da stehen. Ich streckte ihr die Zunge raus. Wenn sie dachte, ich würde ihre blöde Gartenarbeit machen, würde sie sich noch wundern.

Statt die Pflanzen wieder einzugraben, baute ich mir in ihrer Hecke eine Höhle. Aus einer alten Plane machte ich mir ein Dach und als Tisch schleppte ich eine Vogeltränke rein. Dann schrieb ich mit lauter kleinen Kieselsteinen

Privat

Olivias Haus

Tod allen Eindringlingen

auf den Boden. Das dauerte total lang, machte aber Spaß. Ich tat, als ob das mein Zuhause wäre. Hier würde ich für immer und ewig bleiben und Liz würde ich zwingen, meine Sklavin zu sein.

Das Spiel machte Spaß, aber um die Mittagszeit wurde es ein bisschen langweilig. Ich dachte, Liz würde mir vielleicht nichts zu essen geben, weil ich so böse gewesen war, aber sie gab mir doch was. Hühnersuppe und Brot mit ganz viel Käse. Und sie hatte ein ganzes Tablett Cupcakes gebacken.

»Sind die für mich?«, fragte ich.

»Natürlich, Schatz«, sagte sie. »Die essen wir, wenn du mit dem Garten fertig bist.«

Sie ließ einfach nicht locker mit ihrem blöden Garten. Ich sackte in meinem Stuhl noch ein Stück weiter nach unten.

»Das ist viel zu schwer«, quengelte ich mit meiner Babystimme, die bei Trottel-Graham, meinem alten Adoptiv-Vater, immer funktioniert hatte. Bei Liz funktionierte sie nicht.

»Auf geht’s!«, sagte sie fröhlich. Sie war überhaupt immer so verdammt fröhlich.

Ich stapfte in den Garten. Diesen Mist hier kann sie vergessen, dachte ich, aber irgendwie hatte ich keine Lust mehr auf Streit. Mir wurde kalt. Liz schaltete das Licht im Wohnzimmer an und ich konnte sehen, wie sie da saß und aus Papier und Glitzerzeug und Karton etwas bastelte. Anscheinend machte das ziemlich Spaß.

Den ganzen Nachmittag hockte ich draußen rum und ließ Erde zwischen den Fingern durchrieseln. Als es Zeit fürs Essen war, kam Liz mich holen.

»Ich mach deinen blöden Garten nicht«, erklärte ich ihr.

»Schon in Ordnung, mein Schatz«, sagte sie und umarmte mich wieder. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie blieb einfach dran und am Ende wurde dir langweilig und du machtest, was sie wollte.

Bis dahin war ich in den meisten Pflegefamilien der Boss gewesen. Liz ließ mich nie Boss sein. Bei den anderen waren oft die Fetzen geflogen.

»Du tust, was ich dir sage!«

»Tu ich nicht!«

Nur in einer Art Familie war ich nicht der Boss gewesen – solchen mit Leuten wie Violet, bei denen man unter die kalte Dusche musste, wenn man nicht machte, was sie sagten, oder die einen im Keller einsperrten. So was tat Liz nicht. Aber wenn ich Mist gebaut hatte, musste ich es jedes Mal wieder in Ordnung bringen. Und wenn ich gemein zu irgendwem gewesen war, musste ich als Ausgleich irgendwas Nettes tun.

»Aber es tut mir doch überhaupt nicht leid!«, schimpfte ich, nachdem ich die neue Sozialarbeiterin an ihrem ersten Tag eine faule, fette Kuh genannt hatte. »Sie ist doch wirklich eine faule, fette Kuh.«

»Keine Diskussion«, sagte Liz. Sie ließ sich nie auf Diskussionen ein. »Wenn du gemein zu jemandem bist, machst du’s hinterher wieder gut.« Also musste ich ihr eine Karte schicken und mich entschuldigen. Echt wahr.

Nicht der Boss zu sein machte mir Angst. Aber irgendwie war es auch wieder gut, es ist nämlich total anstrengend, immer zu sagen, wo’s langgeht, und bei Liz konnte ich manchmal – für eine halbe Stunde oder so – vergessen, dass ich das musste, und das gefiel mir.

Noch etwas machte Liz: Sie behauptete nie, dass ich toll wäre oder lieb oder wunderbar, wie andere Familien das getan hatten. Aber sie war hinterlistig und brachte mich öfter dazu, dass ich irgendwas tat, und hinterher sagte sie dann: »Gut gemacht, Olivia.«...

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