Slow - Die Entscheidung für ein entschleunigtes Leben

Slow - Die Entscheidung für ein entschleunigtes Leben

von: Winfried Hille

Gütersloher Verlagshaus, 2016

ISBN: 9783641181451

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 801 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Slow - Die Entscheidung für ein entschleunigtes Leben



Wir sind gestresst, arbeiten viel zu viel, und alles um uns herum dreht sich immer schneller. Multitasking und immerzu online sind die Gebote der Stunde. Unser Alltag gleicht der rasanten Schnittfolge eines Actionfilms: Totale, Halbtotale, Bewegung. Smartphone an. Smartphone aus. Bahn. Flugzeug. Autobahn. Büro. Beziehung. Konferenz. Mail. Twitter. WhatsApp. Skype. 24 Stunden online. Geht’s denn überhaupt noch schneller?

Wir leben in der Illusion, dass wir alles schaffen können, wenn wir alles nur noch schneller machen, und wenn es geht, auch verschiedene Dinge gleichzeitig tun. Erst wenn wir unsere To-do-Listen vollständig erledigt haben, so glauben wir, werden wir glücklich sein. Glück wird so zu einer Komponente, die wir in die Zukunft projizieren. Das Glück gibt es immer erst morgen, nie im Jetzt. Doch die Gleichung geht nicht auf, denn für unser »Immer-mehr« und »Immer-schneller« gibt es keine Ziellinie. Und so erschöpft sich der Mensch allmählich in der Beschleunigungsspirale, und das Glück, das wir erreichen und genießen wollen, rückt in immer weitere Ferne.

Obwohl die technische Beschleunigung eigentlich dazu hätte führen müssen, dass uns mehr Zeit zur Verfügung steht, weil wir für vieles heute einfach weniger Zeit benötigen, genießen wir keinesfalls das Mehr an Freizeit, das wir dadurch gewonnen haben, sondern leiden an dessen Gegenteil: unter Zeitknappheit. Wie kommt das?

Ein Grund dafür liegt im Anspruch, möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette der Möglichkeiten, die die Welt uns heute eröffnet. Und seit dem Siegeszug der digitalen Medien nehmen diese Optionen ständig zu. Nichts scheint mehr unmöglich. Das Leben auszukosten ist zum zentralen Streben des modernen Menschen geworden – ein riesiger Erfahrungshunger ist entstanden, der allerdings nie gestillt werden kann: »Ganz egal, wie schnell wir werden, das Verhältnis der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner», sagt der Zeitforscher Hartmut Rosa.

Und so zeigt sich immer mehr, dass die Beschleunigung einen »Schatten« hat, den »rasenden Stillstand«. Darauf weist auch Rosa hin, wenn er schreibt:

»… dass die scheinbar grenzenlose Offenheit moderner Gesellschaften und ihr rascher Wandel nur Erscheinungen an der ›Benutzeroberfläche‹ sind, während ihre Tiefenstrukturen unbemerkt verhärten und erstarren. Obwohl nichts bleibt, wie es ist, ändert sich doch nichts Wesentliches mehr; hinter aller Buntheit verbirgt sich nur die Wiederkehr des Immergleichen …, die sich zu einer komplementären Kehrseite der Beschleunigungsdynamik verdichtet und in der Metapher des rasenden Stillstands ihren entsprechenden Ausdruck findet.«

Und mit diesem Stillstand ist nicht nur jener in der äußeren Welt, sondern auch ein Stillstand in unserer inneren Welt, unserer Seele gemeint. Vor lauter Aktionismus kommt uns der Sinn für Persönlichkeitsentwicklung und unsere psychischen Bedürfnisse immer mehr abhanden. Und so bleibt für unsere seelischen Bedürfnisse, unsere Träume, Fantasien und Visionen immer weniger Zeit. Wir empfinden eine immer größere Öde und Leere in unserem Inneren bei gleichzeitiger innerer und äußerer Rastlosigkeit. Ein Zustand, den Rosa als »Seelenlähmung« bezeichnet.

Das erschöpfte Ich

»Der Mensch ist in jedem Augenblick,

ohne Halt und ohne Hilfe,

dazu verurteilt,

den Menschen zu erfinden.«

JEAN-PAUL SARTRE

Was ist das für eine Gesellschaft, die für immer mehr Wachstum und Innovationen sorgen muss, damit sie sich überhaupt am Leben erhalten kann? Was ist das für ein Leben, das von uns verlangt, von Jahr zu Jahr immer schneller werden zu müssen, nur um unseren Status quo halten zu können? Wann reicht’s? Wann sind wir schnell genug? Und warum machen wir alle mit? Warum ist es so schwer, sich dieser selbstzerstörerischen Mentalität zu entziehen?

Wir leben heute unter dem permanenten Zwang, uns selbst definieren zu müssen. Durch das, was wir tun, wie wir aussehen, was wir sind und was wir sein wollen. Niemand nimmt uns diese Aufgabe ab. Bei der Beantwortung der grundlegenden Frage nach unserer Identität lassen wir uns von keinem Gott mehr helfen, vielleicht noch von einem Therapeuten. Vorbei die Zeiten, als die Religion uns bei der Beantwortung noch zur Seite sprang. Und deren Antwort lautete in etwa so: »Du bist ein Geschöpf Gottes. So wie du bist, so wirst du geliebt. Du musst nichts Besonderes dafür tun.«

Wer bin ich? Diese Frage müssen wir uns heute im Zeitalter der Säkularisierung täglich selbst stellen und durch das, was wir tun, beantworten. Dabei sind wir weniger nachsichtig, als das ein Gott sein könnte. Wir verlangen von uns nichts weniger, als erfolgreich, perfekt und gesund zu sein. Unter diesem übermenschlichen Anspruch entsteht in jedem von uns ein enormer Stress. Wir sind dazu verdammt, uns permanent selbst neu zu erfinden, müssen ständig etwas dafür tun, um andere für uns zu interessieren, um uns unserer eigenen Identität zu vergewissern: »Schaut her, das bin ich!« Die Notwendigkeit und die Möglichkeiten dieser Selbstdarstellung sind heute immens.

Diese neuartige Aufgabe der Selbstschöpfung wird dabei hauptsächlich von ökonomischen Kriterien bestimmt. Zu welcher beruflichen Position habe ich es gebracht, wie viel Geld verdiene ich, welches Ansehen genieße ich? So sind wir unablässig damit beschäftigt, an der Inszenierung und Optimierung unseres Selbst zu arbeiten. Dabei geht es stets um die maximale Ausschöpfung der eigenen Potenziale – unserer Fähigkeiten, unseres Verstandes, unserer Gefühle und unserer zur Verfügung stehenden Zeit. Tun wir das nicht in ausreichendem Maße, vernachlässigen wir also die Arbeit an unserer eigenen Identität, so wird dies nicht nur sozial, sondern auch von uns selbst in Form von Schuldgefühlen geahndet. So werden wir zu Opfern der eigenen Selbstoptimierung.

Ein Problem, von dem sich auch der Soziologe und Zeitforscher Hartmut Rosa betroffen sieht. Die Liste dessen, was er als Hochschulprofessor täglich zu tun habe, könne er nie richtig abarbeiten, so klagt er. »Jeden Tag geht man schuldig ins Bett«, sagt er über sich selbst. Auf die Frage, wie er sich vor solchem Schuldgefühl schützen könne, meint er: »Ich versuche, mich nicht mehr schuldig zu fühlen, selbst wenn ich ein wichtiges Gutachten nicht geschrieben habe oder einem Journalisten erst zwei Wochen nach seiner E-Mail antworte.« Selbst ein so kluger Kopf fühlt sich also schuldig, wenn er seinen eigenen Ansprüchen in einer vorgegebenen Zeitspanne nicht gerecht werden kann.

Zwar haben wir die Religion in nahezu allen Bereichen unseres Lebens abgeschafft, aber die Schuldgefühle sind nicht weniger geworden, im Gegenteil, sie nagen an anderen Stellen, und weit und breit findet sich niemand, der sie uns abnimmt. Unsere Lebensregeln stellen wir uns selbst zusammen, für deren Einhaltung oder Nichteinhaltung loben oder tadeln wir uns selbst. Wollten wir nicht dreimal in der Woche joggen, nur noch vegetarisch essen, mindestens jeden zweiten Tag Yoga machen und vor allem nicht so viel Süßes essen? Kein Mensch kann das alles schaffen.

Wenn uns das nicht alles gelingt, dann machen wir etwas falsch, fallen durch unser eigenes Werteraster, fühlen uns defizitär und als Versager. So stehen wir heute vor der großen Aufgabe, uns selbst nach unserem eigenen Bild zu formen, jeder schreibt sich seine Gebote und Verbote dazu selbst und überfordert sich damit täglich unter dem Diktat einer immerwährenden Selbstoptimierung.

Kein Gott verlangt so etwas von uns. Wir sind es selbst, die das von uns fordern. In einer Gnadenlosigkeit, die nichts Unperfektes akzeptiert. Zurück bleiben Schuldgefühle, Depression und Erschöpfung. Die Zeit ist für uns primär zu einem Potenzial unserer Selbsterzeugung geworden. Täglich machen wir uns schuldig, nicht alles Notwendige dafür getan zu haben, um unsere Existenz auf dieser Welt zu rechtfertigen. Zeiten, in denen wir nichts für unsere Selbstoptimierung tun, definieren wir als sinnlose Zeitverschwendung.

Slow als Akt der Verweigerung

»Der Mensch ist der Feind der Maschine,

für jedes geordnete System ist er der Störfaktor.

Er ist unordentlich, macht Dreck und funktioniert nicht.«

HEINER MÜLLER

Kein Wunder also, dass bei diesem »Immer-mehr«, »Immer-schneller-in-immer-kürzerer-Zeit«, »Möglichst-viel-auf-einmal« eine wachsende Zahl von Menschen auf der Strecke bleibt, weil sie das Tempo einfach nicht mehr mitmachen kann und dem Selbstoptimierungsdruck nicht länger standhält. Leistungsabfall, Burn-out und Depression sind häufig die Folge.

»Wir beobachten, dass im Online-Zeitalter viele Menschen die Fähigkeit verlernt haben, geistig und seelisch offline zu gehen, also abzuschalten«, sagt Götz Mundle, Ärztlicher Geschäftsführer der Oberbergkliniken, in denen Erkrankungen wie Sucht, Burn-out und Depressionen behandelt werden. Die meisten seiner Patienten bemerkten gar nicht, wie stressig der Online-Alltag mit seinem permanenten Drang zum Kommunizieren sei. »Wir wissen, dass wir bei einem Bürojob körperlichen Ausgleich benötigen, daher gehen viele ins Fitnessstudio. Den wenigsten ist aber bewusst, dass auch die Informationsflut geistig verarbeitet werden muss.« Das Problem seiner Patienten sei es nicht, Höchstleistungen zu erbringen. »Im Gegenteil, das Problem ist, abzuschalten und nichts zu tun.« Erstaunlich: Mit unserem Körper gehen wir pfleglicher und klüger um als mit unserem Geist.

Es wird also höchste Zeit, dass wir unser Leben wieder auf Ziele hin...

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