Die Kunst der List - Strategeme durchschauen und anwenden

Die Kunst der List - Strategeme durchschauen und anwenden

von: Harro Senger

Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN: 9783406679391

Sprache: Deutsch

190 Seiten, Download: 2973 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Die Kunst der List - Strategeme durchschauen und anwenden



5.   Strategem-Damm gegen Strategie-Flut: Vom Kuss des Spinnenweibchens bis zu den Strategemen des kleinen Monsters


653 Bücher mit dem Wort «Strategie» im Titel gegen 3 Bücher über Strategeme zählte ich im Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB), Stand Juli 1998. 2061 Einträge zu «Strategie» gegen 6 Einträge zu «Strategem» enthielt Ende März 2001 die VLB-Datenbank mit über 1.000.000 Büchern, Videos usw. (http://vlbz.buchhandelshop.de). Darin spiegeln sich die seltene Verwendung des Wortes «Strategem» und die Inflation des Ausdrucks «Strategie» wider. «Strategie» ist ein Trendwort, das derzeit die Geschäftswelt und auch sonst alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche in Atem hält. «Strategie» und «Strategem» klingen sehr ähnlich. Daher ist man geneigt, dem häufiger gebrauchten Wort «Strategie» den Vorzug zu geben und damit «Strategem» zu ersetzen. Damit würde man aber der Listaufklärung einen Bärendienst erweisen. Will man der List zu Leibe rücken, sollte man zwischen «Strategie» und «Strategem» unterscheiden.

«Strategem» ist ein neutrales Alternativwort für «List» und bezeichnet eine schlaue, ausgefallene, unkonventionelle Art der Problemlösung. «Strategie» bezeichnet demgegenüber den «Entwurf und die Durchführung eines Gesamtkonzepts, nach dem der Handelnde ein bestimmtes Ziel zu erreichen sucht, im Unterschied zur Taktik, die sich mit den Einzelschritten des Gesamtkonzepts befasst» (Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 1979). Strategie ist also ein langfristiger umfassender Plan, Taktik dagegen ein eher kurzatmiger Einzelschritt. Sehr oft wird freilich ausschließlich nur taktisch-operativ gehandelt (was man im Westen entweder als «pragmatisch» anpreist oder mit Ausdrücken wie «Taktiererei», «taktisches Manöver» oder «taktischer Salto» tadelt), ohne jede übergreifende Strategie. Hierfür ein Beispiel:

«Mazedonien steht am Rande des Bürgerkriegs. … Ausgangspunkt der neuen Gewalt ist Kosovo. Die in Mazedonien aktive ‹Nationale Befreiungsarmee› hat das gleiche Kürzel wie die frühere Befreiungsarmee Kosovo, nämlich UCK. Das ist kein Zufall. Die serbische Provinz ist de facto ein Protektorat der UNO, die NATO militärische Ordnungsmacht. Der Westen kann sich also seiner Verantwortung nicht entziehen. Die UCK wurde in Kosovo nie richtig entwaffnet. Nur ein kleiner Teil der Kämpfer konnte in das zivile Kosovo-Schutzkorps integriert werden. Die internationale Friedenstruppe (Kfor) hätte mehr tun müssen und wohl auch tun können, um dem Treiben der Extremisten in Kosovo ein Ende zu setzen. Doch man ließ sie weitgehend gewähren, denn die Länder der NATO wollten nicht, dass die Kfor in bewaffnete Konflikte mit extremistischen Albanern hineingezogen wird. Der Kfor gelang es auch nicht, das Eindringen von Kämpfern und den Schmuggel von Waffen über die Grenze Kosovos nach Mazedonien zu verhindern. Und auf politischer Ebene fehlt es an einer klaren Strategie. Der politische Status Kosovos ist nach wie vor ungelöst. Das gibt den Extremisten Auftrieb. … Wieder einmal schaut der Westen den Ereignissen hilflos zu.» (NZZ, 19.3.2001)

Selbst Klassiker der Strategie haben die Ebenen verwischt und eigentlich Operatives zum Strategischen erklärt. In folgendem Beispiel werden Strategie, Taktik und Überlistung ohne klare Unterscheidung in einem Atemzug genannt:

«Wir alle sind tagtäglich mit strategischen Herausforderungen konfrontiert: Arbeitnehmer müssen bei ihren Lohnverhandlungen geschickte Taktiken einsetzen, Unternehmer suchen überraschende Wettbewerbsstrategien zur Überlistung der Konkurrenz.» (NZZ, 19.1.1996)

Im Übrigen sollte man den Gegensatz von Strategie und Taktik nicht überbewerten. Oft zerfließen die Grenzen. Auf den ersten Blick war Davids mit List errungener Sieg über Goliath taktischer Natur, aber für Davids weiteres Schicksal erwies er sich als von strategischer Bedeutung. So verwandelt sich «Taktisches» unversehens in «Strategisches». In Unscheinbarem schlummern bisweilen gewaltige Potentiale – im Guten wie im Schlechten. Ein nur mikroskopisch erkennbarer Virus wie jener der Maul- und Klauenseuche kann gigantische Schäden unter den Tierbeständen anrichten. Der rechte Zeitpunkt huscht oft im Nu vorüber. Kleine Zufälle, nichtige Begebenheiten oder sekundenschnelle Entscheidungen sind mitunter ebenso bedeutsam wie sogenannte große Ereignisse. Manchmal wird aus einer einsamen Idee ein großes Geschäft. Miniursachen können Megafolgen haben. «Ein 1000 Klafter langer Damm kann zusammenbrechen, weil Ameisen Löcher in ihn bohren. Ein 100 Meter hohes Haus kann niederbrennen, weil Funken durch Schornsteinrisse stieben», warnt der chinesische Denker Han Fei (gest. 233 v. Chr.). Deshalb tut man gut daran, auch scheinbare «Kleinigkeiten» grundsätzlich mit einem «strategischen» Blick zu betrachten. «Alles Schwere unter dem Himmel entsteht aus dem Leichten. Alles Große unter dem Himmel geht aus dem Kleinen hervor. Wer daher der Dinge Herr sein will, geht sie an, solange sie klein sind.» (Han Fei) Das Kairos-Strategem Nr. 12 «Mit leichter Hand das Schaf wegführen» kann die Sinne schärfen helfen, um große Möglichkeiten in winzigen Zukunftskeimen besser wahrzunehmen (siehe Kapitel 35).

Eine Strategie muss nicht, kann aber listig sein. «Innerhalb von zehn Jahren soll aus der Europäischen Union der ‹weltweit dynamischste und wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum› werden. Diese Strategie hatten die Staats- und Regierungschefs der EU vor einem Jahr in Lissabon entwickelt. … Der in Lissabon angestoßenen Strategie ergeht es nicht anders als den meisten EU-Vorhaben. Bis der Ausgleich zwischen 15 nationalen Interessen und Sensibilitäten gefunden ist, wachsen vor allem die Papierberge.» (Wiler Zeitung/ Volksfreund, 23.3.2001). «Strategie» bedeutet hier zweifellos nichts weiter als langfristige Planung – ohne listigen Beigeschmack. Unlistig gemeint ist «strategisch» sicherlich auch in einem Satz wie «Zuweilen fehlt Europa offensichtlich die Nüchternheit des strategischen Blickes.» (NZZ, 29.1.1999) Gemeint ist wohl die oftmals auffallende «Kurzsichtigkeit» beziehungsweise «Kurzatmigkeit» von Europäern – im Gegensatz zu Amerikanern, denen langfristiges Denken beziehungsweise Denken in großräumigen Zusammenhängen offenbar mehr liegt. Nicht viel von List verstehen vielfach Leute, die sich als «International Strategic Business Consultants», also als «Internationale Strategische Geschäftsberater», anpreisen und Unternehmen schlicht «langfristige Planungen» empfehlen. Unlistig und nicht einmal unbedingt langfristig planend war die offizielle «Strategie» der NATO im Kosovo-Krieg, die darin bestand, weltweit hinauszuposaunen, man verzichte auf den Einsatz von Bodentruppen und werde Jugoslawien so lange bombardieren, bis es kapituliere.

Wenn die Volksrepublik China den USA «eine fortgesetzte Strategie zur Entfachung eines politischen Chaos in China» (International Herald Tribune, 31.5.1999) vorwirft, dürfte sie dabei sowohl ein langfristiges als auch ein mit List (konkret: mit dem Strategem Nr. 20 «Das Wasser trüben, um die ihrer klaren Sicht beraubten Fische zu ergreifen») operierendes Gesamtkonzept der USA meinen.

Dies führt zu einer Bemerkung über das englische Wort «strategy». Es bedeutet Langenscheidts Enzyklopädischem Wörterbuch der englischen und der deutschen Sprache (1978) zufolge unter anderem auch «List, Intrige, Ränke». Demgegenüber ist mir kein Wörterbuch der deutschen Sprache bekannt, das «Strategie» mit «List» gleichsetzt. Wenn im Deutschen nicht selten statt von einer «List» von einer «Strategie» gesprochen wird, dann geschieht dies vielleicht unter dem Einfluss des englischen Wortgebrauchs oder ganz einfach deshalb, weil man sich schämt, offen von «List» zu reden. Besser wäre es freilich, die List beim Namen zu nennen und zum Beispiel wie in den folgenden Zeilen von «Abwehrstrategemen» statt von «Abwehrstrategien» zu sprechen: «Die lästige Lehre hält viele Professoren von lukrativen Nebentätigkeiten ab. Manche haben raffinierte Abwehrstrategien gegen den Ansturm der Studierenden entwickelt.» (Spiegel, 24/1999)

An Vokabeln, die man statt des oft gemiedenen Wortes «List» benutzt, ist die deutsche Sprache außerordentlich reich. Bewertet man einen listigen Vorgang als weder gut noch schlecht oder gar als positiv, greift man statt zum Wort «List» lieber zu wertneutral bis positiv klingenden oder augenzwinkernden Ausdrücken wie «Strategie», «Taktik», «operative Aktion», «Kunstgriff», «Kniff», «Finte», «Coup», «Pfiffigkeit», «Chuzpe», «Geniestreich», «Trick», «Schlaumeierei», «Eulenspiegelei», «Schabernack»,...

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