Miló - Erzählungen

Miló - Erzählungen

von: Alberto Nessi

Limmat Verlag, 2016

ISBN: 9783038550402

Sprache: Deutsch

232 Seiten, Download: 1754 KB

 
Format:  EPUB

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Miló - Erzählungen



Miló


«Résistance n’est qu’espérance»
René Char

1


Vevey, 3. Februar 1934

Joséphine-Amérique eilt den windgepeitschten Genfersee entlang. An den Steinen am Ufer brechen sich die Wellen, das raue Rumoren der Brandung begleitet ihre Gedanken. Brandung, erbarmungsloses Gelächter: Die Arbeitslosigkeit ufert aus. Wie mag es dem armen Jungen im Gefängnis in Lausanne gehen? Wird er frieren? Er ist schon dreiundzwanzig, aber immer noch ihr Kind. Die Wellen überschlagen sich im Kopf der Frau, die gegen den Wind ankämpft. Sie hat die zwei wasserspeienden Steinlöwen am Brunnen der Place Orientale hinter sich gelassen, wo sie zwei Zimmer bewohnt. Allein, jetzt, da ihr Miló im Gefängnis sitzt.

Ihr Blick schweift zu den scharfen Zähnen der Berge hinter dem See, Drachenzähne, deren Schneespitzen tief hinunterreichen. Sie wird vom Wind gebeutelt und hat keine Augen für die himmeltanzenden Möwen über dem See. Sie hat nur Augen für Miló, bewacht von einem Wärter, der alles sieht. Er ist in einer Zelle eingesperrt, in der Festung Bois-Mermet, am Rand jener Stadt, die sie einmal auf dem Ausflug mit den Fabrikarbeiterinnen gesehen hat. Wie wird er das durchstehen, dieser lebenslustige Junge? Sie weiß noch, wie er mit der Schleuder in der Tasche die Gassen von Vevey unsicher machte, ihr kleiner David, der davon träumte, den in der alten Hausbibel abgebildeten Riesen Goliath zu Fall zu bringen. Was wird aus ihm werden? Was hat er nur im Blut, das ihn zur Rebellion drängt?

Joséphine ist eine mit dem Wind kämpfende Möwe auf dem Weg zur Arbeit. Wenn sie den Blick hebt, sieht sie den Schlot. Sie macht Zigarren bei Rinsoz & Ormond, so heißt die große Manufaktur jetzt. Sie beschleunigt den Schritt, damit sie nicht zu spät kommt. Sie lässt das Hôtel des Trois Couronnes hinter sich, eine gute Zielscheibe für Miló, Schmiedeeisen und Terrassen mit Säulchen, von denen schon die russische Zarin in der Sommerfrische auf den smaragdgrün schillernden Genfersee geblickt hatte. Mit zerzaustem Gefieder erreicht sie die Place du Marché: den weiten Platz, wo sie samstags auf dem Rückweg von der Fabrik ihre Kartoffeln kauft, wo Miló als Kind zwischen Karren, Hütchen und Spazierstöcken loslief, um aus den Körben der Marktfrauen eine Frucht zu stibitzen.

Joséphine kann sich nicht beruhigen. Einmal hatte sie dem verflixten Bengel verboten auszugehen, er hatte sich in einem Winkel der Wohnung versteckt und drei Tage dort ausgeharrt. Sie rief «Milóo …» Und er nichts, stur wie ein Esel, lieber verhungere ich … Eine Machtprobe. Woher hat dieser Dickkopf nur die herausfordernde Art, die ihn, als er noch kurze Hosen trug, die Schaufenster der Lingerie de Paris in der Rue du Centre aufs Korn nehmen ließ? Und jetzt mischt er sich unter Gewerkschafter, Kommunisten und Anarchisten. Dabei wollte er Pastor werden, Lernen gefiel ihm. Doch auch aus dem Internat ist er davongelaufen, ertrug die Disziplin nicht: Sein Gott verleiht ihm Flügel.

Grande Place. Das Ufer, wo sie zusammen mit anderen, ebenso armen Frauen zum Wäschewaschen hingeht. Die flachen Kähne für die Waren. Hier kommt der Tabak für die Zigarren an. Die Frau eilt am Schloss mit den Türmchen vorbei, in dem, sagt man, einst der große Baron gelebt hat, derjenige, der Händevoll Münzen in den See warf und belustigt zuschaute, wie die Buben ins Wasser sprangen, um sie wieder herauszufischen.

Da ist die Fabrik: Nun heißt es Zigarren rollen bis zum Abend, während die Gedanken forteilen aus diesem großen Raum voller Frauen, die vor Bergen von Tabakblättern sitzen, achtundvierzig Stunden pro Woche über die von breiten Fenstern beleuchteten Werkbänke gebeugt. Man muss dem Blick des Peinigers ausweichen: Als sie vor zwanzig Jahren angefangen hat, in der Fabrik zu arbeiten, war der dort, der Herr Aufpasser, imstande, dir eine Zigarre wieder aufzurollen, wenn du zu schnell warst, denn eine Zigarrenarbeiterin darf nicht mehr als zwei Franken pro Tag verdienen: Doch Joséphine ist schlau wie ein Fuchs und kann tausend Zigarren am Tag machen. Ab und zu hebt sie den Kopf und sieht durch die Scheiben die Savoyer Alpen jenseits des Sees. Die Drachenzähne. Ein Dampfer durchfurcht die Wellen. Wo mag das Aostatal liegen, das Dorf, das sie vor so langer Zeit verlassen hat, um in die Schweiz zu gehen?

Jetzt muss man den Kopf senken. Doch als junges Mädchen hatte sie auf den Straßen von Vevey den Demon­s­trationszug der Streikenden gesehen: Arbeiterinnen und ­Ar­bei­ter aus den Zigarren- und Schokoladenfabriken. Am Abend bei der Union ouvrière Louis Bertoni hören, am Tag beim Schokoladenkönig mit Steinen die Scheiben einschmeißen. Bis die Armee eingegriffen und auf die Menge geschossen hatte.

Was soll jetzt bloß aus dem Jungen werden, der den Hitzköpfen von Genf und Lausanne hinterherläuft? Und dann läuft er auch noch den Röcken dieser Landstreicherin hinterher, die durch die Bistrots zieht …

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Die pouponneuse schiebt dir den poupon hin, das heißt die Puppe, das Innere der Zigarre, das mit den schönsten Blättern umwickelt werden muss, und du denkst an deinen Sohn im Gefängnis. Dein Wickelkind. Zu Hause in der Nachttischschublade hast du das Foto liegen, das mit dem leicht schräg aufgesetzten Strohhut – man sieht, dass du nicht an Hüte gewöhnt bist, die mit Trauben und Blumen geschmückt sind: Du hast sie vor ein paar Jahren auf dem Winzerfest gesehen, als die Grande Place sich mit Frauen und Männern in Tracht gefüllt hat, die sangen, tanzten, mähten und harkten, während sie mit Fässern beladene Karren begleiteten, die von Ochsen gezogen wurden: auf der einen Seite die Kinder der Herrschaften, herausgeputzt als Götter und Göttinnen, Bogenschützen der Sonne, Hundertschweizer mit Federbusch auf dem Helm und auf den Boden gestützten Schwertern, auf der anderen die Kinder der Armen, verkleidet als Bauern, Böttcher und Mistkehrer.

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Auf dem Foto daheim sitzt du im Studio des Fotografen in der Rue du Centre: die Arbeiterin als Göttin, thronende Madonna mit schwieligen Händen, Mutter, Füchsin ne­ben dem Fuchsjungen im Matrosenanzug. An den Füßen hohe Schnürschuhe. Miló lehnt an deiner Schulter, so seid ihr gleich groß. Wie Wurzeln schauen die Finger deiner Hände aus den Spitzen deiner Bluse heraus, die am Hals mit einer Brosche geschlossen ist: Wie viel Tausend Zigarren hast du schon gerollt, seit dein Mann dich geschwängert und das Weite gesucht hat?

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Der Aufpasser behält dich im Auge, und die Möwen kreischen vor den Fenstern der Fabrik. Sie haben dir deinen Miló gestohlen, diese Viecher, die sich am Ufer die gestran­deten Fische schnappen … Nun kommt wieder ein poupon zum Einwickeln, dein Wickelkind, und heute Abend wirst du gelbe, stinkende Finger haben.

Wie war denn dein Leben? Wie war das Dorf, das du als junges Mädchen verlassen hast, das ferne Dorf mit dem Vogelnamen, Fénis? Wie ein Phönix schwebt es durch die Erinnerung, ohne sich auf Beute zu stürzen wie diese ­Möwen, die über dem aufgewühlten See kreischen. Mit jenem nach Heu duftenden Namen, der in der Kindheit das Ende aller Übel versprach?

2


Lausanne, Gefängnis von Bois-Mermet,
6. Februar 1934

Emile Lexert, unehelicher Sohn von Joséphine, ohne fes­ten Wohnsitz, ledig, Maler und Gipser, Größe 1,69, mittlere Statur, Haare und Augenbrauen schwarz, Augen braungrün, Nase geschwungen, Schnauzbart dunkelbraun, Lippen dick, Gebiss gut, nicht vollständig, fliehendes Kinn, glattrasiert, ovales Gesicht, eine gerade, senkrechte Narbe von einem Zentimeter über der rechten Augenbraue zur Nase hin, ein Muttermal auf dem linken Nasenflügel, ein Mut­termal neben dem rechten Nasenflügel … Genügt euch das?

Es ist nicht wahr, dass ich im Zimmer von Madame Jaquenoud einen Damenmantel entwendet habe. Es war so: Toto hat mir diesen Mantel verkauft, grau mit Pelzkragen, zum Preis von zehn Franken. Seine Papiere waren nicht in Ordnung, deshalb hat er mir das Ding verkauft: Er brauchte Geld, um nach Italien zurückzukehren. Der Freund Toto hat eine Nacht in meinem Zimmer bei Madame Jaquenoud verbracht, aber ohne Madames Erlaubnis, sie hat ihn gar nicht gesehen. Ja, wahrscheinlich ist der Mantel gestohlen, wie soll man leben, wenn man nichts hat?

Seit ich aus Genf fort bin, bin ich arbeitslos. Am 16. Januar bin ich nach Lausanne gekommen. Seitdem habe ich immer in Prilly bei Anna gewohnt. Ihr kennt Anny nicht. Lasst die Finger von ihr. Nein, ich habe mich nicht bei der Einwohnerkontrolle angemeldet und auch meinen Pass nicht hinterlegt.

Meine Freundin ist Mädchen für alles bei einem Herrn, der in der Apotheke La Palud arbeitet. Dieser Herr hat mir erlaubt, bei ihm zu wohnen, wenn ich keine Arbeit habe.

Ich bin aus Genf ausgewiesen worden, weil ich ohne Genehmigung gearbeitet habe. Ich möchte klarstellen, dass ich Toto den Mantel abgekauft habe, in einem Café, im Beisein meiner Freundin Anny. Ich habe den Mantel mit zwei Münzen à fünf Franken bezahlt.

Am 17. Februar, zehn Tage nach dieser Erklärung, schreibt Miló einen Brief an Monsieur le Président. Er kann gut mit Wörtern umgehen:

Zurzeit bezichtigt die Justiz mich und meine Verlobte eines Verbrechens, das wir nicht begangen haben und für das wir uns vor einem Gericht verantworten sollen. Ich gebe zu, dass der Schein uns unrecht gibt, doch unser Gewissen ist...

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