Dein bestes Leben - Vom Mut, über sich hinauszuwachsen und Unmögliches möglich zu machen

Dein bestes Leben - Vom Mut, über sich hinauszuwachsen und Unmögliches möglich zu machen

von: Janis McDavid

Verlag Herder GmbH, 2016

ISBN: 9783451809279

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 11664 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Dein bestes Leben - Vom Mut, über sich hinauszuwachsen und Unmögliches möglich zu machen



Minus vier ergibt zwei plus zwei


Ich habe zwar weder Arme noch Beine, aber dafür bin ich doppelt mit Eltern ausgestattet. Insofern hat es das Leben bis jetzt gut mit mir gemeint. Ich habe vier tolle Eltern. Obwohl es wirklich nicht immer leicht war, habe ich doch schon ganz schön viel Glück in meinem Leben gehabt.

Doch eins nach dem anderen: Ich bin in Hamburg geboren und habe bei meiner Geburt meinen McDavid-Eltern gleich in zweifacher Hinsicht einen gehörigen Schrecken eingejagt. Erstens lag ich in Steißlage. Ich habe mir sagen lassen, dass das zuweilen zu einer ziemlichen Hektik im Kreißsaal führt, denn es kann für Mutter und Kind schnell gefährlich werden. Babys, die in dieser Lage geboren werden, kommen mit dem Hintern zuerst und erst im zweiten Schritt zeigen sie ihr Gesicht. Jetzt, da ich dies schreibe, denke ich, das könnte ein schönes Leitthema für mein Leben sein, denn oft genug wird auch meine Persönlichkeit erst im zweiten Moment entdeckt, weil die Menschen erst einmal mit meinem Körper beschäftigt sind. Andererseits: Wer will schon jedem als Erstes seinen Hintern zeigen? Anyway.

Zweitens wurde, als ich dann endlich auf der Welt war, sehr schnell und sehr deutlich sichtbar, dass ich ein außergewöhnliches Kind war, das seine Eltern ganz besonders herausfordern würde. Ich schrie nicht nur ohrenbetäubend und sollte diese Fähigkeit noch lange beibehalten, nein, ich sah schicht anders aus. Man konnte ja damals noch nicht wissen, dass alles gut ausgehen würde und das sogar mit einer gewissen Leichtigkeit – aber in dem Moment der Geburt war das völlig unklar. Würde ich ein normales Leben leben können? Zumindest überhaupt eins? Mit meinen fehlenden Gliedmaßen hatte ich meinen Eltern jedenfalls einen schönen Streich gespielt. Niemand konnte sich vorstellen, wie es weitergehen könnte, und so trafen meine Eltern schlussendlich eine Entscheidung, die ihnen mit Sicherheit schwergefallen ist, aber gut überlegt war: Sie wollten andere Eltern suchen, die mich großziehen sollten.

Zum Glück fanden sich schnell erfahrene Eltern, die sich zutrauten, diesen Schreihals aufzunehmen. Sich zutrauten, eine Kinderwelt aufzubauen, die anders aussehen sollte. So kam ich zu meinem weiteren Elternpaar und zu meinem ersten Umzug von Hamburg ins ländliche Münsterland. Ich war vierzehn Monate alt, als ich meinen Vater und meine Mutter, wie man so schön sagt, wechselte.

Meine Münsterländer Eltern, die später zu Bochumer Eltern werden sollten – denn wir zogen dorthin –, gingen ganz selbstverständlich mit meinem Handicap um. Sie hatten bereits einige Kinder zu sich geholt, die, genau wie ich, nicht in das gesundheitliche oder körperliche Schema F (der »Normalfall«) passten. Mit dem Einzug bekam ich auch eine Familie mit vielen Geschwistern mehr. Nun habe ich zwei davon und damit alles doppelt. Meine zweite Familie ist meine »Hauptfamilie«, sie hat eine große Rolle gespielt und mich sehr geprägt – schließlich habe ich es jetzt schon auf über 20 Jahre mit ihnen gebracht. Aber meine McDavid-Eltern gibt es eben auch. Sie gaben mir den Namen, den ich bis heute sehr mag, und so manchen Tick habe ich auch von ihnen. Ob die Art, wie man lacht, in den Genen steckt? Den Kontakt halten wir bis heute, treffen uns häufig und verstehen uns bestens.

Das ist für »Pflegekinder« nicht selbstverständlich. Ich bin froh darüber. Und dies umso mehr, als ich mir und meiner Familie auch immer wieder Fragen zu meiner Herkunft stellte. In der Tat: Ich habe nicht nur schottische Vorfahren. Ein Teil der Familie wanderte auch nach Britisch-Guyana aus, wo dann meine dunkelhäutigen Ahnen dazu kamen – wer kann das schon von sich behaupten?

Und weitere Fragen stellte ich mir oft und früh, vor allem in der Pubertät: Warum wuchs ich nicht so normal auf wie andere? Warum gehorchte ich überhaupt zwei Menschen, die sich meine Eltern nannten? Zum Glück ging diese Phase aber auch vorbei – worüber meine Eltern froh waren. Heute weiß ich, dass es gut ist, wie es ist mit meinen beiden Elternpaaren. Sie haben ihre jeweilige Aufgabe bisher – wenn ich das als 24-jähriger Jungspund mal so sagen darf – gut gemeistert. Tja, irgendeinen Ausgleich scheint’s vom Leben doch immer zu geben. Keine Arme, keine Beine, aber zwei Mütter und zwei Väter. Und unzählige Geschwister nicht zu vergessen.

Ich bin im Ruhrpott mit insgesamt vier Geschwistern aufgewachsen, mit denen ich zwar nicht verwandt bin im klassischen Sinne, doch das tut überhaupt nichts zur Sache. Einer meiner Brüder hatte immer schon sein eigenes Reich und dann irgendwann auch seine eigene Familie, er entstammte einer früheren Geschwistergeneration, weshalb ich ihn nie wirklich als Bruder wahrnahm. Er war schon erwachsen und erschien mir damit lange Zeit irgendwie komisch. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte er aber noch eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen.

Meine Bochumer Eltern machten es sich zu ihrer Lebensaufgabe, Kinder aufzunehmen und großzuziehen. »Schau, das hat den entscheidenden Vorteil, dass wir uns die Kinder selbst aussuchen können«, freuten sie sich oft.

Irgendwann erzählten sie mir, dass ich woanders geboren worden und danach zu ihnen gekommen bin. Sie sagten, bei manchen Kindern hätten verschiedene Menschen unterschiedliche Aufgaben. Die einen sind für die Geburt zuständig, die anderen für die Zeit danach. Das muss kurz vor oder schon während meiner Pubertät gewesen sein. Sie sagten außerdem, manche Menschen haben mehr Eltern als zwei, und du hast eben vier. »Praktisch«, dachte ich, »dass wir uns dann so gut gefunden haben!«

In dieser seltsamen Patchwork-Familie, in der jeder einen eigenen Nachnamen hatte, fand ich mein Zuhause. Im Getümmel der Schule fiel unsere bunt zusammengewürfelte Kindertruppe auch nicht weiter auf. Meine Eltern legten viel Wert darauf, dass wir eine ganz normale Familie waren und keine Pflegefamilie. Sie sagen auch bis heute nie, dass sie Pflegeeltern oder dass wir Pflegekinder sind. Wir sind ihre Kinder und sie sind unsere Eltern. Basta!

Meine leiblichen Eltern waren immer ein wenig wie Onkel und Tante für mich, die uns drei- bis viermal im Jahr besuchten. Diejenigen, die aus der Großstadt im hohen Norden kamen, meistens zu meinem Geburtstag, dann zu einer Feier meines Vaters und schließlich noch zum Sommerfest im Kindergarten. Sie waren »die coolen Hamburger«. Irgendwie hatten wir den gleichen Nachnamen, manchmal sind mir auch gewisse Ähnlichkeiten zwischen uns aufgefallen; etwa in der Mimik und Gestik, aber weiter darüber nachgedacht habe ich, zumindest in meiner Kindheit, nie. Und dann waren sie plötzlich nicht mehr irgendwelche Bekannte, sondern meine leiblichen Eltern. Doch meine Welt oder unser Verhältnis zueinander hat das nicht sonderlich verändert.

Anthroposophisch orientiert, erzogen uns unsere Eltern durch und durch zu sogenannten »Waldorfkindern«. Die erste Waldorfdosis erhielt ich schon als kleiner Knirps in der Spielgruppe, wie es damals hieß. Den Waldorfkindergarten habe ich dann durch meine bloße Anwesenheit zu einem inklusiven Kindergarten gemacht. Inklusion ganz ohne Tamtam – und das bereits vor gut 20 Jahren! Meinen Eltern war es wichtig, dass ich mit »normalen« Kindern zu tun hatte, und so setzten sie alles daran, dass ich nicht in irgendwelche Sondereinrichtungen gesteckt wurde. Die nächste Stufe meiner Waldorfkarriere waren dann 13 Jahre Waldorfschule, wo ich auch mein Abitur machte.

Meine Eltern hatten klar vor Augen, wie und was zu geschehen hatte, als sie sich entschieden, mich bei sich aufzunehmen. Sie wollten mit aller Kraft versuchen, mich zu größtmöglicher Selbstständigkeit anzuleiten, und es war ihnen wichtig, mich wie alle anderen Kinder auch aufwachsen zu lassen. Deswegen ließen sie sich auch nicht davon beirren, dass es damals überhaupt nicht üblich war, Kinder mit Handicap in einen normalen Kindergarten oder auf eine normale Schule zu schicken. Sie diskutierten, argumentierten und kämpften so lange, bis sie erreicht hatten, was sie wollten. Vielleicht habe ich einen Teil meiner Sturheit und meines Willens von ihnen geerbt. Als ob ich ihr biologischer Sohn wäre! Sie sind auch selten auf neugierige oder blöde Fragen anderer meine Behinderung betreffend eingegangen. Und Fragen gab’s reichlich.

Das zu erleben hat sicherlich erheblich dazu beigetragen, dass mir lange nicht wirklich bewusst war, dass ich anders bin. Im Gegenteil, als Kind fand ich es nervig, wenn mich neue Kinder im Kindergarten fragten, warum ich denn keine Arme und Beine habe oder was denn mit mir los sei. Schließlich frage ich ja auch nicht jeden, warum er eine Glatze hat, gefärbte Haare oder eine Brille trägt. Schnell lernte ich, dass ein humorvoller Umgang mit solchen Fragen hilft. Mal erzählte ich, dass ich einen Piranha-Angriff überlebt hätte, bei dem leider beide Arme und beide Beine abgebissen worden seien. Andere bekamen zur Antwort, dass ich Arme und Beine heute leider zu Hause vergessen hätte. Meistens haben wir dann zusammen gelacht, und das Eis war gebrochen.

Orange färben durfte ich mir die Haare in dem Alter zwar noch nicht, trotzdem war ich glücklich, so wie ich war.

Und heute? Meine Behinderung war für mich im Wesentlichen kaum ein Thema, auch wenn es natürlich immer wieder Momente des Zweifels gab, in denen ich mich fragte: Warum bin ich nicht »normal«? Momente, in denen mir meine Situation ziemlich niederschmetternd vorkam, in denen ich mich ärgerte und am liebsten abgehauen wäre. Abhauen ging aber leider nicht, wenn die Batterie leer war oder der Rolli woanders stand. Dennoch habe ich mich nie über meine »Behinderung« definiert.

Natürlich...

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