Der große Mann - Geschichte eines politischen Phantasmas

Der große Mann - Geschichte eines politischen Phantasmas

von: Michael Gamper

Wallstein Verlag, 2016

ISBN: 9783835329102

Sprache: Deutsch

432 Seiten, Download: 1856 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Der große Mann - Geschichte eines politischen Phantasmas



1. Einleitung


»Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühle mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.« [1] Dies schrieb Georg Büchner in der zweiten Januarhälfte 1834 an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé, und rund ein Jahr später ließ er die Titelgestalt seines Dramas Dantons Tod seiner Frau Julie auf deren Ausspruch »Du hast das Vaterland gerettet« Ähnliches antworten:

Ja das hab’ ich. Das war Notwehr, wir mußten. […]

Es muß, das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?

Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Märchen. [2]

Wie im sogenannten ›Fatalismus-Brief‹ begreift Büchner »Größe« hier als bloßes Produkt des Zufalls und das Walten des Genies als »Puppenspiel«, das »von unbekannten Gewalten« geleitet wird. Der »Einzelne« sei »Schaum auf der Welle«, ein bloßes Oberflächenphänomen, getragen von zugleich diffusen und vergänglichen Elementen, deren Antrieb sich nicht erkennbaren Kräften verdankt. Büchner streitet nicht ab, dass es so etwas wie »Größe« gebe und dass sie für die Erfahrung von Geschichte und Politik wesentlich sei, allerdings stellt er vehement in Abrede, dass sie sinnvoll personal zurechenbar sei, wenn man über die historischen Kausalzusammenhänge Erkenntnis gewinnen wolle.

Diametral entgegen steht dem ein Diktum des Historismus: »Männer machen die Geschichte.« [3] Es stammt von Heinrich von Treitschke, der seine Historiographie ganz in den Dienst der nationalliberalen preußischen Staatsidee stellte und seine Deutsche Geschichte (1879-1894) in weiten Teilen biographisch ausrichtete. Der prominent hervortretende Einzelne war für Treitschke der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte, ihn galt es in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen. Ausführlicher äußerte er sich zu den methodischen Implikationen seines Ansatzes in einer Passage seiner posthum gedruckten Vorlesung zur Politik, die er seit den 1860er Jahren regelmäßig hielt:

Das historische Denken ist viel complicierter als das in einfacher Schlußfolgerung vorschreitende Denken der Naturwissenschaften. Die Zeit wird wohl bald kommen, wo der thörichte Rangstreit zwischen Geistes- und exakten Wissenschaften aufhören wird. Die Geisteswissenschaften haben die höheren und idealeren Aufgaben, darum müssen sie immer inexact bleiben; sie können sich immer nur annähern an die Wahrheit. Für den Historiker sind die Resultate zugleich die Elemente seiner Wissenschaft; das macht das historische Denken so schwierig. Es scheint zwar, als ob der erzählende Historiker auch nur vom Früheren auf das Spätere schlösse, in Wahrheit folgert er umgekehrt vom Späteren auf das Frühere. Er will und kann von dem Geschehenen immer nur einen Ausschnitt geben; er muß sich also, wenn er an die Beschreibung einer Epoche herantritt, darüber klar sein, welche Ereignisse für die Folgezeit bedeutsam, für die Nachwelt wichtig geworden sind. Wäre die Geschichte eine exakte Wissenschaft, so müßten wir im Stande sein die Zukunft der Staaten zu enthüllen. Das können wir aber nicht, denn überall stößt die Geschichtswissenschaft auf das Räthsel der Persönlichkeit. Personen, Männer sind es, welche die Geschichte machen. Männer wie Luther, Friedrich der Große oder Bismarck. Diese große, heldenhafte Wahrheit wird immer wahr bleiben; und wie es zugeht, daß diese Männer erscheinen, zur rechten Zeit der rechte Mann, das wird uns Sterblichen immer ein Räthsel sein. Die Zeit bildet das Genie, aber sie schafft es nicht. Wohl arbeiten gewisse Ideen in der Geschichte, aber sie einzuprägen in den spröden Stoff ist nur dem Genius beschieden, der sich in der Persönlichkeit eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit offenbart. [4]

Treitschkes Überlegungen standen im Kontext der Auseinandersetzungen um den unterschiedlichen Wissenschaftsbegriff in Geistes- und Naturwissenschaften im späten 19. Jahrhundert, wobei der Historiker die Geisteswissenschaften als höherwertiger einschätzte als die Naturwissenschaften und dies bezahlt sah mit Inexaktheit und einer bloß partiellen Annäherung an die Wahrheit. Auch die Voraussagbarkeit historischer Entwicklungen war nicht gegeben, und all dies begründete sich in der epistemologischen Verfasstheit des Treitschke zufolge zentralen Untersuchungsgegenstands der Geschichte, des wirkmächtigen Individuums. Es war das »Räthsel der Persönlichkeit«, das im Herzen der Geschichtswissenschaft nistete und sie zu einem Ort des niemals sicheren Wissens machte. Dass die »Männer […] die Geschichte machen«, war dem Verfasser als allgemeine Einsicht zwar eine unverbrüchliche »Wahrheit«, die in ihrer ›Heldenhaftigkeit‹ Objekt und Subjekt der Geschichtsschreibung zu betreffen schien. Wie dies aber geschah, wie die in der Geschichte waltenden »Ideen« posthegelianisch von einem »Genius« dem »Stoff«, der konkret und bestimmt handelnden »Persönlichkeit eines bestimmten Menschen«, eingeprägt wurden, dies war ein immer wieder neu sich stellendes und je unlösbares »Räthsel«.

»Größe« als letztlich kontingentes, aber unübersehbares Oberflächenphänomen zum einen, die unverbrüchliche »Wahrheit« der ›Geschichte machenden Männer‹, die ewig ein »Räthsel« aufgibt, zum andern – gerade die ganz grundlegend gegensätzlichen Stimmen von Büchner und Treitschke exponieren das Phänomen des herausragenden Individuums und seiner gesellschafts- und geschichtsprägenden Wirkung für das 19. Jahrhundert als unhintergehbares Element einer Wirklichkeit, die konstituiert wird durch die Interaktion von sichtbaren Gegenständen und unsichtbaren Kräften. Büchner zeigt dieses Phänomen als eines, das künstlich konstruiert ist und deshalb auch wieder dekonstruiert werden muss, während Treitschke es als der Deutung und Auslegung bedürftig präsentiert, für die alle menschlichen Vermögen beansprucht werden müssen, um dem Geheimnis so nahe als möglich zu kommen.

Damit sind auch die Aufgaben gestellt, denen sich das vorliegende Buch zuwenden will. Es befasst sich mit einer Diskursfigur, die im langen 19. Jahrhundert machtpolitische und epistemologische Virulenz entfaltete und für die Geschichte des sozialen Imaginären dieser Epoche von schwer zu überschätzender Bedeutung gewesen ist: dem ›großen Mann‹. Damit soll freilich nicht die Ereignisgeschichte der ›großen Männer‹ rehabilitiert werden, die von der Sozial- und der Geschlechtergeschichte zu Recht kritisiert und diskreditiert wurde. Vielmehr soll gezeigt werden, wie und weshalb die Figur als Gegenstand der Diskurs-, Wissens-, Imaginations- und Mediengeschichte neues Interesse verdient.

Im Fokus steht damit erstens die Analyse von Techniken und Funktionen der Rede über den ›großen Mann‹. Gezeigt werden soll so, welche Argumente für dessen Stilisierung genutzt wurden und wie sich diese Aussagenketten in gesellschaftliche Machtkonstellationen einfügen. Zweitens wird untersucht, in welchen Wissensregistern dieser Diskurs angesiedelt ist und auf welche epistemologischen Elemente er sich stützt, wobei es nicht ausreichend sein wird, nur die rationalen Überzeugungen zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr gilt es drittens, die Wünsche, Hoffnungen und Phantasien in den Blick zu nehmen, die sich mit dem ›großen Mann‹ bei seinen Porträtisten, aber auch bei seinen Rezipienten verbinden. Viertens erschließt sich diese Imaginationsgeschichte des ›großen Mannes‹ wesentlich über die Formen und Formate seiner Darstellung in Text und Bild sowie über deren Distribution und Zirkulation.

Der ›große Mann‹ wird in diesem Buch also nicht als historische Realität betrachtet, sondern als Effekt von Diskursen, Phantom der Imagination und Manifestation von Medien. Es stellt sich mithin nicht die Frage, ob ›große Männer‹ tatsächlich geschichtsleitende Kräfte entfaltet haben oder nicht, interessant ist jedoch, dass ihnen diese Kraft attestiert worden ist – beziehungsweise dass über diese Frage heftig gestritten worden ist. Der ›große Mann‹ ist ein bestimmendes Phänomen der Geschichte des 19. Jahrhunderts, weil ihm Macht zugesprochen wurde und er in dieser Weise diskursive Macht entfalten konnte – eine diskursive Macht freilich, die auch in konkreten politischen Zusammenhängen nutzbar war, wenn es einem Einzelnen gelang, den Eindruck zu erwecken, er könne diese Rolle überzeugend ausfüllen. Die Macht des ›großen Mannes‹ ist damit stets eine zugestandene Macht. Sie wird verliehen von den Vielen, und der ›große Mann‹ ist derjenige, der es, ob aktiv oder passiv, versteht, die Imagination vieler Menschen auf sich zu lenken. Die Herrschaft dieser Figur wird nie mit rationalen Mitteln und auch nicht bloß mit Gewalt erreicht und ausgeübt, sie verdankt...

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