Meine Schwester, Mutter und ich - Krimikomödie

Meine Schwester, Mutter und ich - Krimikomödie

von: Sigrid Hunold-Reime

Gmeiner-Verlag, 2016

ISBN: 9783734992155

Sprache: Deutsch

188 Seiten, Download: 1634 KB

 
Format:  EPUB

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Meine Schwester, Mutter und ich - Krimikomödie



Kapitel 9


Ich war sprachlos und konnte Edeltraud nur anstarren. So aufgewühlt und angriffslustig hatte ich sie noch nie erlebt. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, sie sagte ehrlich, was sie dachte. Später sollte ich erfahren, wie recht ich mit diesem Eindruck gehabt hatte.

Edeltraud stand noch immer mit dem Geschirr in den Händen vor mir. »Warum kannst du mich eigentlich nicht leiden?«

Ich verschluckte mich am Wein. Meine Therapeutin hatte mir schon einige Male die gleiche Frage gestellt. Ich hatte nur zögernd geantwortet. Warum? So ein Gefühl konnte man nicht in ein paar Sätze packen. Das waren lebenslange Erfahrungen. Edeltraud und Mutter. Sie unterhielten sich angeregt und schwiegen, wenn ich zu ihnen ins Zimmer kam. Die beiden waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Ich dagegen geriet mit meiner Mutter innerhalb kürzester Zeit in Streit. Meine Mutter hatte ständig etwas an mir auszusetzen. Meine Therapeutin hatte sich mit den Antworten nicht zufriedengegeben und mir einen strengen Blick zugeworfen. Ich schwieg. Obwohl ich gerne gesagt hätte, es waren Edeltrauds honigblondes Haar, ihre zierliche Figur und ihr Liebreiz, die mir auf die Nerven gingen. Ihre Gabe, mit wenig Anstrengung viel zu erreichen. Vielleicht war ich schlichtweg neidisch. Aber Neid ist so ein negativ besetztes Wort. Und nun stellte mir Edeltraud die gleiche Frage. Damit hätte ich im Leben nicht gerechnet.

»Ich weiß nicht«, stotterte ich hilflos. Edeltraud drehte sich um und brachte das Geschirr in die Küche. Was hatte sie erwartet? Sollte ich sie anlügen? Ich hatte immer den Verdacht gehabt, in einer falschen Familie gelandet zu sein. Als Baby in der Klinik verwechselt. Das war früher einer meiner beliebtesten Tagträume.

Edeltraud ließ sich in der Küche Zeit. Als sie sich zu mir auf den Balkon setzte, fragte ich: »Und warum magst du mich nicht?«

Sie wurde prompt rot und schenkte sich Wein nach. Edeltraud und ein zweites Glas Wein hatte ich auch noch nicht erlebt.

»Ich hatte oft Angst vor dir«, antwortete sie mit dünner Stimme.

Angst? Ich musste an die zahllosen Flüche denken, die ich Edeltraud an den Hals gewünscht hatte. Angst vor mir wäre durchaus angebracht gewesen. Aber sie hatte sich nie etwas anmerken lassen.

»Eine Geschichte, die du mir erzählt hast, verfolgt mich bis heute. Ich sehe noch immer unter meinem Bett nach, bevor ich schlafen gehe.«

Ich stellte mein Glas ab.

»Welche Geschichte?«

»Die von der schwarzhaarigen Frau.«

Ich konnte mich nicht erinnern. Hatte ich Edeltraud jemals Geschichten erzählt? Das klang nach Vertrautheit. Gut, dass meine Therapeutin nicht mithören konnte.

»Ich war sechs oder sieben«, begann Edeltraud. »Wir waren allein zu Hause. Wie immer hast du Geschichten erst am Abend im Bett erzählt. Wenn es dunkel war und Müdigkeit die Fantasie beflügelte. An dem Abend hast du von einer wunderschönen schwarzhaarigen Frau erzählt. Sie hat ihr Haar gebürstet. Es glänzte. Und sie wollte schlafen gehen. Als sie im Bett lag und die Nachttischlampe ausknipsen wollte, sah sie im Schrankspiegel einen Mann. Er lag unter ihrem Bett. Die Frau konnte vor Entsetzen nicht schreien. Aber ihr pechschwarzes Haar wurde von einem Augenblick zum anderen schneeweiß. An dieser Stelle hast du aufgehört zu erzählen. Ich habe gebettelt, aber du hast nur gesagt, es wäre sehr grausam, und ich noch viel zu klein dafür. Ich wäre mit jedem Ende fertig geworden. Aber an der Stelle abzubrechen und es meiner Fantasie zu überlassen, war furchtbar. Ich habe mich nie wieder in ein Bett gelegt, ohne darunter nachzusehen. Manchmal mehrere Male.«

Edeltraud schwieg ergriffen und blickte über das Meer. Die Abenddämmerung ließ es mit dem Horizont zusammenwachsen.

Die schwarze Frau. Nun konnte ich mich wieder an die Geschichte erinnern und an einige andere. Es hatte mir Freude gemacht, sie abends meiner kleinen Schwester zu erzählen. Danach hatte sie meistens nicht gut schlafen können.

»Sag mir endlich das Ende. Ich denke, mittlerweile bin ich alt genug, um es zu verkraften.« Edeltraud sah mich herausfordernd an.

Ich musste mir ein Lachen verkneifen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Meine Schwester beäugte mich misstrauisch.

»Wirklich nicht«, sagte ich. »Die Geschichte hat Annette auf einer Klassenfahrt erzählt. Im Landheim mitten in der Nacht. Aber genau an der Stelle ist unser Lehrer hereingeplatzt. Er war ziemlich sauer. Er sagte, es würde niemanden interessieren, warum jemand vor Schreck weißhaarig geworden wäre. Interessant wäre allerdings, wie wir ohne ausgeschlafen zu sein am nächsten Tag dreißig Kilometer wandern wollten.«

Die Erinnerung an die nächtliche Szene brachte mich endgültig zum Kichern. Edeltraud dagegen reagierte fassungslos. »Und du hast am nächsten Tag nicht nachgefragt?«

»Nein«, antwortete ich schlicht.

»Und warum hast du mir eine halb fertige Geschichte erzählt? Warum hast du mir das angetan?«

Sie brach auf der Stelle in Tränen aus. Es berührte mich unangenehm. Edeltraud hatte immer schnell weinen können. Sozusagen auf Knopfdruck. Meine Mutter war trotzdem auf ihre Show hereingefallen. Wahrscheinlich, weil sie selbst so nahe am Wasser gebaut hatte. Ich hatte weder vor meiner Mutter noch vor Edeltraud jemals geweint. Deshalb hatten sie mich in das Regal ›unsensibel‹ einsortiert. Dabei könnte ich ihnen Hunderte von Geschichten um die Ohren hauen, mit denen sie mich verletzt hatten. Ohne Tränen. Ohne perfekt eingesetzte Dramatik.

Edeltraud hatte aufgehört zu heulen. Ich sah sie eindringlich an. »Gut, das war deine Geschichte. Ich werde dir auch eine erzählen. Du bist noch in den Kindergarten gegangen und ich schon in den Hort. Erinnerst du dich?«

Edeltraud putzte sich vorsichtig die Nase und nickte verwirrt.

»Die Leiterin hieß Frau Henriksen. Eine verschrobene alte Jungfer. Sie hatte sehr eigenwillige Ideen. Zum Beispiel hatte sie sich sogenannte Aufnahmeprüfungen ausgedacht. Prüfungen, um von einer Altersgruppe in die nächste zu kommen. Wir waren damals alle nach Jahrgängen sortiert. Wechselte ein Kind, musste es vorher eine Aufgabe lösen. Für dieses Spektakel versammelten sich alle in dem großen Saal. Es war geradezu lächerlich. Obwohl unterschiedliche Aufgaben rotierten, kannte jedes Kind die gesamte Palette.

Ich wurde vor einen Tisch geführt, auf dem ein gewaltiger Berg aus Stühlen getürmt war. Und Frau Henriksen sagte feierlich: Zieh deine Schuhe aus und spring darüber. Mit diesen Worten forderte sie mich mit einer ausholenden Bewegung zu einem flugähnlichen Sprung über das Stuhlhindernis auf. Es war natürlich klar. Ich brauchte nur über meine Schuhe zu springen. Aber die Einfachheit der Anforderung beleidigte mich. Ich zog betont langsam meine Schuhe aus. Dann sah ich hoch. Mitten in dein Gesicht. Es war vor Aufregung gerötet. Du hast mir wilde Zeichen gegeben. Anscheinend hast du im Ernst geglaubt, ich könnte dieses dämliche Rätsel nicht lösen. Das hat mich noch wütender gemacht. Ich bin stur stehen geblieben und habe das unruhige Gemurmel um mich herum ignoriert. Frau Henriksen war richtig begeistert, dass sie ihren Spruch wiederholen konnte. Zieh deine Schuhe aus und spring darüber. Ich starrte auf das meterhohe Stuhlgeflecht und blieb stehen. Irgendwann hat mich Frau Henriksen an die Hand genommen und mit einem verschmitzten Lächeln über meine Schuhe geholfen. Alle klatschten. Du am heftigsten.«

Die Erinnerung machte mich noch immer wütend. Ich trank einen Schluck Wein. Edeltraud sah mich ratlos an. »Ich finde deine Geschichte äußerst merkwürdig.«

»Das dachte ich mir«, sagte ich resigniert. »Kannst du uns noch eine Flasche von dem Merlot besorgen?«

Edeltraud holte ohne zu murren die nächste Flasche und schenkte sorgfältig nach. Wir prosteten uns zu. Ich dachte, vielleicht wird es wider Erwarten ein netter Abend. Da sagte Edeltraud: »Das ist allerdings mein letztes Glas. Danach gehe ich zu Bett. Ich muss Schlaf nachholen.«

»Schon wieder? Du hast doch fast den ganzen Tag geschlafen.«

Ich war enttäuscht. Aber Edeltraud zuckte nur mit den Schultern und trank ihren Wein. Wie ein kleines Mädchen, das brav sein Glas leerte, bevor es schlafen ging. Was hatte ich erwartet? Dass nach fast vier Jahrzehnten plötzlich die Chemie zwischen uns stimmen könnte? Wir hatten uns eine Geschichte um die Ohren gehauen, und keine hatte die der anderen verstanden. Wobei ich zugeben musste, ich hätte eine eindrucksvollere wählen können. Vorbei. Die mageren Ansätze für ein Gespräch waren verbraucht. Zwischen uns baute sich die altbekannte Unfähigkeit auf, miteinander zu reden.

Erinnerungen an unsere Kindheit. Gesellschaftsspiele. Unsere Eltern bestanden am Wochenende darauf. Wir mussten als Familie zusammen am Tisch sitzen. Ein Spiel. Knabbersachen. Wir sprachen nur die nötigsten Worte miteinander. Kaum waren unsere Eltern aus dem Zimmer, fielen meine Schwester und ich in eisiges Schweigen und suchten nach einer Möglichkeit, um abzuhauen.

Meine Schwester. Sie würde für mich ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Ich warf ihr einen prüfenden Blick zu. Da saß sie nun und wollte gleich schlafen gehen. In der vergangenen Nacht hatte sie einen Mann umgebracht. Ein Unfall. Sicher. Aber letztendlich hatte sie ihn umgebracht. Und was machte meine Schwester? Sie tat so, als befänden wir uns auf einem normalen Wochenendausflug. Sie erzählte mir eine bescheuerte Geschichte, die sie angeblich seit ihrer Kindheit belastete. Das war verrückt. Ich hätte verstanden, wenn sie mich gefragt hätte, wie sie...

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