Lou und ihr Männerballett

Lou und ihr Männerballett

von: Nat Luurtsema

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2016

ISBN: 9783641183493

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 837 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lou und ihr Männerballett



Ende

Du denkst wahrscheinlich, es müsste sich komisch anfühlen, wenn man fast nackt vor so vielen Menschen steht. Tut es aber nicht.

Ich lasse die Träger meines Badeanzugs schnalzen – einmal rechts, einmal links, das bringt Glück –, gehe zum Beckenrand, hole tief Luft und fülle meine Lungen mit dem vertrauten stechenden Geruch nach Chlor und Füßen. Hier bin ich zu Hause.

Ich gehöre zu den schnellsten Schwimmerinnen im Land. Deshalb bin ich auch hier: Ich bewerbe mich für das Hochleistungstrainingslager, das mich in die Nationalmannschaft bringen wird. Dorthin will ich, seit ich denken kann. Also … na ja, kein Druck, alles easy.

Ich glaube, ich schwitze in den Ohren.

Ich trotte am Becken entlang. Andere Schwimmer powern die Bahnen hinauf und wieder hinunter. Sie sehen so stark aus, statt zu schwimmen, boxen sie sich regelrecht durch das Wasser.

Wir befinden uns ist einem … man könnte fast Palast sagen. Ja, ein Palast aus Glas mit vier Becken mit olympischen Maßen! Eigentlich mein Traumhaus. Das Platschen des Wassers und das Geschrei hallen von den Wänden wider. Für neunzig Prozent der Menschen im Raum ist heute der wichtigste Tag ihres Lebens.

Ich schaue mich nach meiner besten Freundin Hannah um. Sie steht in der Nähe der Umkleide. Ich lächle ihr kurz zu. Wahrscheinlich ist ihr auch ein bisschen flau im Magen, denn sie stellt sehr bildhaft dar, wie sie sich ins Becken übergibt. Ein Kampfrichter beäugt sie missbilligend.

Ich weiß, wie ihr zumute ist. Mit zitternden Fingern schiebe ich eine Haarsträhne unter meine Badekappe.

Hannah lässt ihre Schultern zuerst nach hinten und dann nach vorn kreisen. Sie schwimmt Schmetterling. Davon bekommt man richtig breite Schultern, aber sie macht sich nichts draus, sondern trägt einfach Männer-T-Shirts. Alle lieben Hannah. Sie ist lustig. Sie hat dichte blonde Locken, große blaue Augen und redet ununterbrochen. Seit wir sechs sind, ist sie meine beste Freundin, und wenn ich jetzt sehe, wie nervös sie ist, will ich sie trösten, obwohl es mir genauso geht.

Nicht ganz genauso. Ihre Eltern sind ziemlich ehrgeizig. Sie ignoriert es, sonst würde sie durchdrehen. Meine Eltern finden Schwimmen weniger wichtig als – na ja, ziemlich viele andere Dinge.

Hannah steht jetzt neben mir. Grinsend zieht sie am vorderen Rand meiner Badekappe. Ich verschränke die Arme und tue so, als würde ich sie nicht bemerken. Sie zieht den elastischen Rand zehn Zentimeter von meiner Stirn weg, und ich mache mich darauf gefasst, dass sie ihn loslässt, aber stattdessen drückt sie ihre Stirn an meine und versucht, meine Badekappe über unsere beiden Köpfe zu ziehen. Total albern. Deshalb habe ich immer Ersatzbadekappen dabei.

Ich kann nicht ernst bleiben, sondern fange an zu kichern und helfe ihr, das dicke, elastische Material weiter über ihren Kopf zu ziehen. Es tut weh, ihre Nase gräbt sich tief in meine Wange, aber ich bin entschlossen, es hinzukriegen. Piep! Hannah reißt die Augen auf, als sie das Signal hört. Das ist ihr Rennen!

Eilig zieht sie den Kopf zurück, sodass ihre eigene Badekappe davonschwirrt und im Becken landet. Ein paar Kampfrichter schauen nicht sehr erfreut zu uns her. ’tschuldigung! Wir wollen doch nur die gedrückte Stimmung ein bisschen heben. Ich springe ins Wasser, um Hannahs Badekappe zu retten, während sie ihre krause Mähne in einem Dutt bändigt.

Nach einer kurzen Umarmung eilt sie zum nächsten Becken, wo die Schmetterling-Schwimmer schon bei den Startblöcken warten, darunter ein paar ernst zu nehmende Schultern.

Jetzt bin ich allein und mir ist wieder schlecht wegen meines Rennens. Ich ziehe mir die Badekappe über die Ohren und der ganze Lärm dringt nur noch gedämpft zu mir durch. Eine Kampfrichterin kommt zu mir, um meinen Namen mit der Liste auf ihrem Klemmbrett abzugleichen. Unwillkürlich bemerke ich den dichten Flaum über ihrer Oberlippe. Sie erwischt mich dabei, wie ich darauf starre, und ich senke rasch den Blick.

»Louise?«, fragt sie.

»Brown«, antworte ich ihrem Schuh und sie hakt meinen Namen ab.

Sie ist wahrscheinlich eine von nur zehn Personen an diesem Ort, die nicht vollkommen überdreht sind. Wenn der Feueralarm losginge, würden wir bestimmt alle schreiend im Kreis herumrennen und uns selbst ins Gesicht schlagen.

Mein Rennen wird aufgerufen, und ich stelle mich in eine Reihe von Mädchen, die alle genauso aussehen wie ich. Große Mädchen ohne Hüften, ohne Brüste und mit krausen Haaren sind die Regel hier. Ich werde so gut in das Trainingslager passen! Endlich kann ich mir mal Klamotten ausleihen.

Ich schaue mich nach Hannah und meiner Trainerin um. Debs steht mit verschränkten Armen am Rand des Beckens, in dem mein Rennen stattfindet, und schaut mich eindringlich an. Dann nickt sie mir zu. Sie ist nicht gerade die Herzlichkeit in Person. Dieses Nicken bedeutet: »Los, Lou, ich weiß, dass du es kannst! Unterstützende Worte usw.!«

Oben auf dem Startblock scharre ich mit den Füßen und starre vor mich hin. Man schwimmt immer nur sein eigenes Rennen.

Der Kampfrichter nickt. Ich beuge mich nach vorn in meine Startposition, umklammere mit den Fingern den Rand des Startblocks und schwanke sanft hin und her, um meine Hüften zu lockern. Die Pause scheint unendlich lang, und ich konzentriere mich auf den Punkt im Wasser, wo ich mit meinem Startsprung landen möchte.

Die Startpistole knallt, die Kraft in meinen Beinen explodiert und ich springe. Der Startblock scheppert, als ich mich mit voller Kraft von ihm abstoße. Ein kalter, harter Schlag gegen meine Oberschenkel und schon bin ich im Schmetterlingsschlag. Bei dieser Technik ist Hannah schneller, aber ich bin auch ziemlich gut. Ich schleudere meine Arme nach oben und über den Kopf. Meine Finger schneiden vor meinem Gesicht durchs Wasser. Während meine Arme nach unten ziehen, knicken meine Hüften ab und meine Beine machen eine Wellenbewegung wie der Schwanz einer Meerjungfrau – einer der seltenen Momente, in denen ich elegant aussehe.

Jetzt Rücken, meine zweitschnellste Disziplin. Ich halte den Kopf gerade und schaue hinauf an die Decke. Das habe ich gestern Abend geübt, als alle anderen schon fertig waren mit dem Training. Ich zähle die Lampen an der Decke, damit ich nicht mit dem Kopf gegen den Beckenrand stoße und sich dadurch meine Zeit verschlechtert. Debs sagt, das sei die Einstellung eines echten Profis.

Ich bin so glücklich, wenn ich schwimme, stark und anmutig, als wäre alles in der Welt in Ordnung. Das ist mein Ding.

Lagenschwimmen ist ein merkwürdiges Rennen. Die meisten sind beim Brustschwimmen am langsamsten und beim Kraulen am schnellsten. Bei mir ist es genau umgekehrt, deshalb ziehe ich immer in Bahn fünf und sechs vorbei und erarbeite mir hoffentlich einen so großen Vorsprung, dass mich kein verrücktes, affenarmiges Mädchen mit einer unschlagbaren Kraulzeit in Bahn sieben und acht einholen kann.

Und hier bin ich schon bei Bahn sieben und acht. Es ist schwieriger, wenn alle so stark sind. Das Wasser ist aufgewühlt und wirft mich herum. So viel zum Thema Anmut. Hier geht es eher darum, gegen das Wasser zu kämpfen, aber ich spüre rechts und links von mir keinen. Ich muss an allen vorbeigezogen sein. Ausgezeichnet. Alles läuft nach Plan.

Jetzt geht es darum, den Vorsprung zu halten. Ich ziehe meine rechte Hand an meinem Gesicht vorbei und mache eine Furche ins Wasser, die gerade lang genug ist, dass ich mein Gesicht drehen und kurz nach Luft schnappen kann. Das ist nicht ganz einfach in diesem kabbeligen Wasser, deshalb bete ich jedes Mal, dass ich auch Luft finde. Jetzt Wasser in die Lunge zu bekommen kann ich mir nicht leisten.

Die letzte Bahn – und ich bin total in meinem Rhythmus. Ich weiß, dass das Ziel nah ist, aber ich muss weiter so schnell schwimmen wie möglich, damit niemand mich einholt. Es ist mir egal, wenn ich mit dem Kopf gegen den Beckenrand stoße. Ich tue alles, um diese Geschwindigkeit bis zum Schluss durchzuhalten. Mein Handgelenk stößt mit einem Knacken, das ich bis zur Hüfte spüre, gegen etwas Hartes, und ich hab’s geschafft.

Ich hab’s geschafft! Ich habe gewonnen.

Ich schleudere den Kopf aus dem Wasser, reiße mir die Badekappe und die Schwimmbrille herunter, drücke das Wasser aus meinen Augen und schaue hinter mich. Mein erster Gedanke ist: Wie weit hinter mir sind sie?

Aber da ist niemand.

Sie sind alle neben mir. Alle. Keine einzige ist hinter mir. Niemand schwimmt noch.

Das Mädchen links von mir sieht gelangweilt aus, das Mädchen auf der rechten Seite reinigt beiläufig ihre Schwimmbrille mit Spucke. Oh nein … eine hat das Becken sogar schon verlassen? Ich habe das einmal gemacht, gegen eine Schrottmannschaft in Swindon, die so langsam war, dass ich das Becken verlassen hatte, bevor das letzte Mädchen fertig war. Debs hatte mich dafür kritisiert. Unsportliches Verhalten, sagte sie.

Debs! Wo ist sie, wo ist meine Trainerin? Vielleicht bin ich versehentlich mehr Bahnen geschwommen? Das muss es sein. Saukomisch, natürlich, genau das ist passiert. Blöd, aber verständlich an einem Tag mit so viel Druck. Das ist keine große Sache. Soll ich mit jemandem reden, mit einem Kampfrichter? Wohin gehen alle?! Coach! Debs!! Hallo? Niemand schaut mich an. Bin ich in diesem Becken gestorben, bin ich ein Geist?

Könnte durchaus sein. Ich war Letzte. Zum ersten Mal, seit ich mit zehn Jahren anfing, Wettkämpfe zu schwimmen, war ich die langsamste Schwimmerin. Ich fühle mich schwach und friere, meine Beine sind schwer, als das Adrenalin aus mir heraustropft. Keine Ahnung, was ich tun soll … wohin ich gehen soll …

Ich muss...

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