Die Schrift des Freundes - Roman

Die Schrift des Freundes - Roman

von: Barbara Frischmuth

Aufbau Verlag, 2016

ISBN: 9783841211965

Sprache: Deutsch

371 Seiten, Download: 2125 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Schrift des Freundes - Roman



Hikmet verzieht spöttisch das Gesicht. »Er hält dich für eine Zauberin – das heißt, eigentlich hat er Hexe gesagt –, weil du dem Ding nur die Hände aufzulegen brauchst und es funktioniert.«

Anna lächelt. »Er hat ein ziemlich pompöses Gerät für das, was er damit machen will, ich meine eure Buchhaltung. Als hätte er sich einen Range Rover gekauft, um damit ausschließlich vom ersten in den siebenten Bezirk zu fahren.«

»Das ist Metin, und du wirst lachen, er redet tatsächlich von so einem Auto.«

Sie verbringen ihre Zeit mit Worten, die sie einander erklären sollen, obgleich da nichts zu erklären ist. Aufmerksam setzen sie Schritt für Schritt, und wenn sie von Zeit zu Zeit den Blick heben, dann weniger, um den anderen ins Herz zu treffen, als um sicher zu sein, daß es ihn gibt. Und irgendwann, vor Mitternacht, zieht Anna ihre Hand zurück und verschwindet wie Aschenputtel vom Ball, in der Gewißheit, den richtigen Schuh zu tragen.

Anna träumt nicht, sie liegt nachts wach und setzt sich aus all den Gesprächen einen Hikmet für ihre Gedanken zusammen. Er schreibt nicht nur in der alten Schrift, er entwirft auch das tägliche Leben neu, indem er darüber nachdenkt, ob seine Regeln noch gültig sind. Sein Medizinstudium hat er längst abgebrochen. Der Wunsch, einen Arzt in der Familie zu haben, war vor allem der seiner Mutter gewesen, aber inzwischen hat die sich damit abgefunden, einen weitschichtigeren Verwandten zu konsultieren. Er, Hikmet, ist auf der Welt, um zu begreifen.

Was zu begreifen? Anna hat sich bisher bemüht zu begreifen, wie ein Rechner funktioniert und wie man seine Leistungen immer mehr steigern kann.

Hikmet aber hat seine eigene Erklärung, »was das Leben ausmacht, ich meine unter bestimmten Bedingungen«.

»Was für Bedingungen?«

»Zum Beispiel, wie wir hier leben. Zu Hause und doch nicht in unserem Land. Mitten unter euch und dennoch in einer Enklave. Manchmal habe ich das Gefühl, daß man alles neu erfinden muß, sogar das Aufwachen am Morgen.«

Anna wird nicht müde, sich Hikmets Sätze zu wiederholen, die klugen wie die weniger klugen. Sie miteinander zu verknüpfen, bis sie eine Geschichte ergeben, Hikmets Geschichte.

Er hilft im Laden aus und arbeitet wohl auch in der Firma. Nicht eben regelmäßig. »Manchmal reise ich im Auftrag«, sagt er, aber im großen und ganzen ist es wohl eher so, daß es auch nicht viel ausmacht, wenn unter sieben Söhnen einer bloß zu begreifen versucht.

Feride Hatun hat ihr ausrichten lassen, daß sie bald wiederkommen soll. Das freut sie einerseits, andererseits gruselt sie es auch ein bißchen, noch ist ihr das Emailschaff deutlich in Erinnerung.

Was ist mit Hikmets Vater wirklich passiert? Auch Hikmet bestätigt, daß er erschossen worden ist, aber das Ganze sei eher eine Art tragischer Zufall gewesen, ein Unfall eben, wenn auch von der anderen Seite beabsichtigt. Sie wollte wissen, von welcher anderen Seite, aber Hikmet ist ins Ungefähre ausgewichen. »Es gibt viele andere Seiten, eine für jede, die man an sich selber hat.«

Anna hätte nicht geglaubt, daß sie dieses Notebook, das ihr die Firma geschenkt hat, doch noch verwenden würde. Bisher war es so, daß sie den Rat ihres einstigen Lehrers beherzigte: »Wenn du nicht willst, daß deine Augen eine rechteckige Form annehmen, dann hüte dich vor jeder Art von Schirm im Privatleben.« Das war, nachdem ihre Augen bereits diese Form angenommen hatten. Jetzt hat sie in ihrer Wohnung nicht einmal einen Fernseher stehen.

Dieses neue Ding kann eine Menge. Neulich hat sie sich ein paar Programme heruntergeladen und fingert manchmal vor dem Zubettgehen daran herum. Aber das Spiel heißt wie immer: »Wer oder was ist Hikmet?«

Ein Reformer, ein Revolutionär, ein Anarchist? Lauter Kategorien, die ihr aus PACIDIUS vertraut sind. Oder ein Kalligraph, ein Karikaturist, ein Kulturheros?

Ein Türke, dessen Vater bei einem tragischen Unfall von einer Kugel der anderen Seite getroffen worden ist, von welcher anderen Seite? Was aber ist mit Haydar in Sivas – so hieß doch der Ort oder die Stadt? – passiert, worüber sie sich alle so aufregen hatten müssen? Wie mögen die anderen Brüder heißen, und wo sind die drei restlichen? Oder ist sieben nur eine Art magischer Zahl?

»Hast du mich wenigstens vermißt?« Haugsdorff sieht müde aus. Offenbar hat er sich noch kurz vor der Landung mit einem Duft besprüht, der nun beziehungslos in der vollklimatisierten Luft der Ankunftshalle hängen bleibt.

Anna versucht zu lächeln. »Und wie. Hast du schlafen können während des Fluges?«

»Ein bißchen.« Haugsdorff umarmt sie mit der Fraglosigkeit eines Mannes, der zu seiner Geliebten heimkommt. Anna erwidert automatisch den Druck seiner Arme, so wie sie es in den letzten zwei Jahren immer getan hat, und doch ist es diesmal anders. In dem Augenblick, in dem sie das begreift, tritt sie einen Schritt zurück und stolpert beinahe über den Gepäckwagen.

Es ist früher Abend. Anna ist gleich vom Büro aus zum Flughafen gefahren. Sie wird heute nicht in das Café kommen können, zum ersten Mal seit Tagen. Vielleicht hätte sie Hikmet eine Nachricht hinterlassen sollen, aber sie hatten sich auch zuvor nicht verabredet. Sie hatten sich nie verabredet und sich doch getroffen. Was aber, wenn es einmal, so wie heute, nicht funktioniert?

»Ich habe nicht gedacht, daß du mir dermaßen fehlen würdest.« Haugsdorff drückt sie noch einmal kurz an sich, dann fahren sie im Lift zum Parkdeck, wo Haugsdorff seinen Wagen abgestellt hat.

»Du mir auch.«

»Was auch?« Haugsdorff läßt ihr sprachliche Schlampereien nicht durchgehen.

»Du weißt schon.«

»Ich möchte es hören, zur Gänze. Bring mich nicht um diese Freude.«

»Du hast mir auch gefehlt. Los, komm schon und erzähl, was du alles erlebt hast! Wie geht es Heribert und Isabel?« Isabel ist nur zwei Jahre jünger als sie, und Heribert wird neunzehn.

»Wir sind von Philadelphia aus mit dem Zug nach New York gefahren. Die beiden wollten unbedingt zu einer Ausstellung ins Metropolitan Museum und natürlich einkaufen.« Haugsdorff gerät ins Plaudern, und noch während der Fahrt bricht es aus ihm hervor, daß er in New York – »Stell dir vor, ausgerechnet in New York!« – den Kauf seines Lebens getätigt habe, eine wundersame, winzige Lockendame von Friedrich Lieder, die sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr, Anna, habe – ihre Ururgroßmutter vielleicht? –, und das zu einem räsonablen Preis. Er habe natürlich nicht widerstehen können, schließlich gehörten Dinge wie diese nach Wien und nicht nach New York, aber das sei eine Ausrede gewesen. In Wirklichkeit hätte er dieses herrliche Stück einfach haben müssen, und nur die Gunst des Schicksals, in Form des vergleichsweise moderaten Preises, hätte verhindert, daß er sich in den persönlichen Ruin gestürzt habe.

Zu Hause angekommen, geht sogleich eine Veränderung mit Haugsdorff vor, und er beginnt zu flüstern: »Ich hatte große Sehnsucht nach dir, vor allem nachts. Nach dir und deiner Phantasie.« Sie und Haugsdorff haben das Gepäck gemeinsam ins Haus geschafft. »Willst du nicht sehen, was ich dir mitgebracht habe?«

Anna steht noch an dem Fenster, das sie gerade geöffnet hat, um frische Luft in den seit zwei Wochen ungelüfteten Raum zu lassen. Haugsdorff umarmt sie von hinten und hält ihr ein Päckchen unters Kinn. Wie sie dem Aufdruck entnehmen kann, stammt es aus dem Museums-Shop des Metropolitan. Sie öffnet es vorsichtig, während Haugsdorff sie an den Schultern nimmt und herumdreht, um ihr besser dabei zusehen zu können.

Es ist die perfekte Nachbildung eines sumerischen Halsschmucks aus Lapislazuli. Anna kann sich der Begeisterung nicht enthalten. »Ein Traum. Das schönste Geburtstagsgeschenk von allen.« Sie weiß selbst nicht, warum sie das jetzt sagt. Um eine Debatte über den merkwürdigen Trip gar nicht erst aufkommen zu lassen oder um das Geschenk zu legitimieren? So als könne sie es als Geburtstagsgeschenk bedenkenlos annehmen, obwohl sich ihre Gefühle für Haugsdorff verändert haben? Und während sie noch bewundernd auf das tiefe Blau der Steine schaut, zieht Haugsdorff ihr das T-Shirt aus den Jeans, vergräbt sein Gesicht zwischen ihren Brüsten, hebt sie mit einem Ruck hoch und legt sich ihre Beine um die Mitte. Alles geht so rasch, daß Anna gar nicht dazu kommt, sich zu wehren. Auch scheint Haugsdorff an keinem ihrer sonstigen Rituale interessiert zu sein, er braucht nicht die geringste verbale Anregung, sondern wirkt eher wie einer, der unter Überdruck steht und sich verströmen muß, ohne Rücksicht und ohne jegliche Finesse, einfach rein mit dem Schwanz und so lange gestoßen, bis die Ladung explodiert.

Als es vorbei ist, läßt Haugsdorff sich auf Anna fallen. »Verzeih die Direktheit, aber ich war zu verrückt nach dir.« Er versucht noch, ihre Brüste zu küssen, aber sie schiebt ihn zur Seite. Während sie den Kopf dreht, sieht sie die Kette aus Lapislazuli neben sich auf dem Kissen liegen. Sie ist aus der Schachtel gefallen, als Haugsdorff sie, die sie noch in der Hand hielt, aufs Bett geworfen hat. Haugsdorff, der ihrem Blick gefolgt ist, nimmt die Kette und legt sie ihr um. »Weißt du, daß du einen herrlichen Hals hast, Liebes?!«

Im Bad steht Anna vor dem Spiegel, mit nichts als Lapislazuli am Leib. Sie hätte nicht gedacht, daß er so gut zu ihrem Haar passen würde, trotz des scharfen Kontrasts, der nur durch die Blässe ihrer Haut gemildert wird.

...

Kategorien

Service

Info/Kontakt