Mistlers Abschied - Roman

Mistlers Abschied - Roman

von: Louis Begley

Suhrkamp, 2016

ISBN: 9783518745427

Sprache: Deutsch

284 Seiten, Download: 1408 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mistlers Abschied - Roman



I


Ich verstehe, sagte Mistler.

Hektische Eile war bei diesem Gespräch wirklich nicht nötig. Im Wartezimmer saß niemand mehr. Seit fünfzehn Jahren war Bill Hurley Mistlers Hausarzt; damals hatte er die Praxis eines Onkels übernommen, der auf dem Tennisplatz an einer Aneurismaruptur gestorben war, als ihm während des Turniers um die Clubmeisterschaft im Seniorendoppel im vierten Spiel des vierten Satzes beim Stand von 40:0 ein Doppelfehler unterlief. Mittlerweile war Bill auch ein Freund. Die Sekretärin hatte Mistler ausdrücklich gebeten, erst gegen Ende des Nachmittags vorbeizukommen, wenn die anderen Patienten abgefertigt wären. Kaum war Mistler jedoch da, begann sie sich zu entschuldigen, daß der Doktor sich verspätet habe.

Keine Sorge, beruhigte er sie. Diesmal ist mir das Warten ganz lieb.

Das war die Wahrheit. Er hatte den Eindruck, eine leere Zwischenzeit sei dem, was folgen würde, bei weitem vorzuziehen. Dann war es soweit: Mistler legte widerstrebend die zwei Jahre alte Ausgabe der Illustrierten Glamour weg und fand sich in Hurleys Sprechzimmer ein, dem Raum, in dem Hurley befragte und verordnete, nachdem in der Untersuchungskabine nebenan – dort standen eine Liege und eine zuverlässige Waage, das einzige Stück von Hurleys Einrichtung, das Mistler gefiel – das widerstrebende Fleisch bis zur Preisgabe seiner Geheimnisse gepiekt und geknetet worden war. Wenn er überhaupt einen Grund zur Eile hatte, dann den, daß das Zimmer so häßlich war. Die Stapel von braunen Umschlägen – sie enthielten, so vermutete Mistler, Röntgenaufnahmen und EKG-Aufzeichnungen und sahen aus, als wären sie seit dem Tod von Hurleys Onkel nicht mehr angefaßt worden (wenn der Onkel oder der Neffe sie überhaupt je genauer betrachtet hatten, was Mistler keineswegs für selbstverständlich hielt) –; der pseudoantike Schreibtisch, klein genug für ein Schlafzimmer im Studentenwohnheim, vollgestellt mit Kinkerlitzchen der Pharmaindustrie; die Wände bepflastert mit Entenbildern nebst Zeugnissen und Diplomen, einer vollständigen Dokumentation von Hurleys Aufstieg, angefangen von seiner Internatszeit in New Jersey bis hin zur jüngsten Urkunde der Ärztekammer; die gesamte Einrichtung verriet Gleichgültigkeit und Knauserigkeit. So etwas hätte man in keinem anderen vergleichbar kostspieligen Dienstleistungsbetrieb hingenommen. Kamen Ärzte wohl je auf die Idee, Gespräche, die dem Patienten das Herz brachen, wenigstens außerhalb der Praxis zu führen, bei einer Tasse Kaffee oder einem Drink zum Beispiel, wenn sie schon nicht bereit waren, Geld für Möbel auszugeben? Mit einem Minimum an Geschick konnte man sich doch wohl vom Patienten einladen lassen oder die Ausgabe als Position in der Rechnung aufführen, beispielsweise als Stuhluntersuchung oder dergleichen. Die meisten Rechtsanwälte, mit denen Mistler zu tun hatte, würden das eine wie das andere für selbstverständlich halten.

Mehr wollte Bill Hurley offenbar nicht sagen, ohne eigens aufgefordert zu werden. Die Entscheidung überließ er Mistler.

Na gut. Wieviel Zeit bleibt mir?

Wofür?

Bis ich sterbe, natürlich. Was denn sonst?

Bis wir uns an die Arbeit machen, zum Beispiel. Mel Klein hat dir erklärt, daß wir dieses Ding operativ angehen können. Und zwar sofort. Es ist ein Primärtumor. Das ist die günstige Nachricht. Und wenn alles gutgeht, wirst du vielleicht nachbehandelt werden. Das muß Mel entscheiden. Letzten Endes mußt du dann auf ein Spenderorgan warten. Die gibt es.

Aber er hat mir auch gesagt, daß Dr. Steele sich von einer Operation dieser Art nicht viel verspricht. Habt ihr, du oder Dr. Klein oder Dr. Steele, euch anders besonnen?

Nein. Das Gewächs ist groß, und es kann gestreut haben. Das weiß Dr. Steele erst, wenn er dich aufmacht.

Und wenn es gestreut hat?

Dann näht er dich wieder zu, und wir tun, was wir können, um dir das Leben zu erleichtern.

Im Krankenhaus?

Zuerst. Und wahrscheinlich auch zum Schluß. Hurleys Gesicht blieb fröhlich.

Ich glaube, da mach ich nicht mit. Was schätzt du, wieviel Zeit ich noch habe, wenn ich gar nichts tue? Außerdem möchte ich wissen, wie schlimm es wird.

Das hängt ganz davon ab, was wirklich in deinen inneren Organen vorgeht. Wenn das Problem noch lokal begrenzt ist, du jedoch keine Behandlung bekommst, nicht mal Bestrahlungen zur Verkleinerung des Tumors, dann hast du vielleicht noch ein halbes Jahr. Vielleicht auch weniger. Die nächsten Monate werden nur unangenehm sein. Nicht schlimmer als jetzt. Du wirst müder und anämischer werden und abnehmen. Später wirst du kämpfen müssen wie ein Löwe, besonders wenn Absiedlungen an anderen Organen entstehen. Die Wahrscheinlichkeit dafür wächst mit jedem Tag. Durch Bestrahlung und Chemotherapie könntest du auch ohne Operation Zeit gewinnen. Das solltest du mit Mel besprechen. Wenn aber schon der ganze Körper betroffen ist, kann ich für gar nichts garantieren. Diese Dinge richten sich nicht nach Fahrplan wie Mussolini-Züge. Hä! Hä! Du weißt das.

Aber du wirst doch dafür sorgen, daß ich nicht dahin komme, wo ich – wie hast du gesagt? – kämpfen muß wie ein Löwe. Ich baue darauf.

Wenn du mir damit nahelegen willst, daß ich dich umbringen soll, dann kann ich dir gleich sagen, das werde ich nicht tun. Ich bin hier, um Patienten zu behandeln. Selbstverständlich hast du das Recht, eine Behandlung abzulehnen. Wir werden dir jedes Schmerzmittel geben, das du brauchst, aber mach dir nichts vor. Der Zeitpunkt wird kommen, da Medikamente nichts mehr nützen.

Ist das schlimmer als das, was passieren wird, wenn ich Operation und Nachbehandlung über mich ergehen lasse?

Du hast eine Chance, daß der Tumor noch nicht gestreut hat und herausgenommen werden kann. Und mit Nachbehandlung und Glück kannst du dann ein normales Leben führen – vor allem, wenn du ein Spenderorgan bekommst. Im anderen Fall wird es ziemlich auf dasselbe hinauslaufen, da hast du recht.

Bis darauf, daß ich die Operation und Nachbehandlung und alles, was dranhängt, noch zusätzlich mitgemacht hätte. Ich glaube, ich lasse es, wie es ist. Wenn du mir nur verschreibst, was du für das beste hältst: Vitamine, Ginseng, Stärkungsmittel – irgendwas, das mir Kraft gibt. Das muß doch möglich sein.

Hurley kritzelte eifrig. Hier, sagte er, dies tut dir vielleicht gut, schaden wird es jedenfalls nicht. Dann bedachte er Mistler mit dem mannhaft herzlichen Blick, den er sonst nur zeigte, wenn er dem Freund dringend riet, den Genuß von Rotwein und Meeresfrüchten und natürlich auch den Zigarrenkonsum einzuschränken, falls er den nächsten Gichtanfall vermeiden wolle, und fuhr fort: Du solltest nichts entscheiden, bevor du mit Clara und Sam gesprochen hast. Wenn du den Kampf aufnehmen willst und sie mithelfen läßt, wird es ihnen leichter fallen, das Ergebnis zu akzeptieren. Es ist extrem schwer, zusehen zu müssen, wie ein Ehemann und Vater dahinschwindet – besonders dann, wenn es vielleicht früher geschieht als nötig, weil er beschlossen hat zu sterben, ohne sich von seinen Ärzten behandeln zu lassen.

Aber ich habe es mir doch nicht ausgesucht, so und jetzt schon zu sterben – viel früher als gedacht. Die Entscheidung trifft seine Majestät, der Körper von Mistler. Ich entscheide nur, wie ich die nächsten paar Monate zubringen will. Alles, nur kein Krankenhausbett auf Rollen, nur nicht an Maschinen angeschlossen, die Geräusche machen wie Geräte aus einem Science-Fiction-Film. Ich kann auch nicht glauben, daß Clara oder Sam das gern sähen.

Da wäre ich mir nicht so sicher. Alle Welt, auch deine Familie, liebt Kämpfernaturen.

Ich habe mein Soll an Kämpfen erfüllt, Bill. Glaub mir. Vielleicht weiß ich deshalb so genau, daß ich jetzt kapitulieren muß. Bedingungslos!

Du hast versprochen, nichts ohne Clara zu entscheiden.

Mistler registrierte Hurleys wachsenden Unwillen.

Daran halte ich mich auch. Gib mir nur etwas Zeit. Gönne ihr ein paar sorglose Wochen. Schließlich gibt es doch jetzt nichts, das sie mittragen müßte, jedenfalls nicht sofort.

Danach rang er sich ein freundliches Lächeln ab und schüttelte Hurley die Hand.

Schon sechs Uhr? Sein Fahrer wartete in der 71st Street, sah ihn kommen, stieg aus und stellte sich neben die Wagentür.

Danke, Vince. Ich fahre nicht mehr ins Büro, und ich gehe zu Fuß nach Hause. Rufen Sie bitte Miss Tuck an und sagen Sie ihr Bescheid, daß sie nicht auf mich warten soll. Und holen Sie mich doch bitte um acht Uhr zu Hause ab. Ich gehe zum Essen aus.

Der Frühling hatte Mistler überrascht, es war plötzlich so lange hell, daß er noch einmal ungläubig auf die Uhr sah. Er ging nach Westen, auf den Park zu, vorbei an den Fachgeschäften mit Hilfsmitteln für Bettlägerige und Lahme, und vorbei an den Bars, die sich im Lauf des Abends mit dienstfreien Krankenschwestern, Medizinstudenten und Assistenzärzten füllen würden. Erstaunlich, wie sauber die Stadt aussah. In der Seitenstraße hatten die Hunde die Einfassungen aus Fleißigen Lieschen und Stiefmütterchen rings um die Ginkgobäume respektiert. Auf der Insel, die die Park Avenue teilt, standen makellose hohe Tulpen in leuchtendem Gelb. Als er zum Central Park kam, nahmen ihm die blühenden Kirsch- und Pflaumenbäume den Atem. Ein Jammer, daß sie so viele Wochenenden auf dem Land verpaßt hatten. Man verlor die Natur ganz aus dem Blick, sogar die Mondphasen. Der Frühling kam dort draußen später, aber die Tulpen und Forsythien in Crow Hill standen jetzt...

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