Begriffsgeschichte und historische Semantik - Ein kritisches Kompendium

Begriffsgeschichte und historische Semantik - Ein kritisches Kompendium

von: Ernst Müller, Falko Schmieder

Suhrkamp, 2016

ISBN: 9783518738504

Sprache: Deutsch

1027 Seiten, Download: 2208 KB

 
Format:  EPUB

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Begriffsgeschichte und historische Semantik - Ein kritisches Kompendium



11Einleitung


Ernst: Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch mit Worten ausdrücken.

Falk: Nicht immer; und oft wenigstens nicht so, daß andre durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.

Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk, zitiert nach Reinhart Koselleck, Motto zur »Einleitung« der Geschichtlichen Grundbegriffe

Über mangelnde Aufmerksamkeit brauchen sich Begriffsgeschichte und historische Semantik nicht zu beklagen. In den letzten fünfzehn Jahren, also gerade in der Zeit des Abschlusses der großen begriffsgeschichtlichen Lexika der Philosophie, Geschichtswissenschaft, Ästhetik oder Rhetorik, dürfte sowohl im deutschen wie internationalen Sprachraum mehr Literatur und Sekundärliteratur zur Methodik und Geschichte dieser Forschungsrichtungen erschienen sein als in der gesamten Zeit zuvor. Die vor allem in Aufsätzen und Sammelbänden vorgestellten Untersuchungen umfassen Arbeiten zur Geschichte der Begriffsgeschichte und historischen Semantik sowie zur Methodik in verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften,[1] sie erschließen der Begriffsgeschichte neue Gegenstandsgebiete[2] und weiten sie auf andere Philologien aus. Um Christian Geulens »Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts« hat sich unter Zeithistorikern eine rege Debatte entfaltet.[3] In der gleichen Zeit hat die Begriffsgeschichte, die lange als eine fragwürdige Sonderentwicklung deutscher Geistes- und Geschichtswissenschaft galt, vornehmlich in der von 12Reinhart Koselleck geprägten Form eine erstaunliche internationale Wirkung entfaltet.[4] Dazu kommen neue internationale Organisationsformen.[5] Schließlich eröffnen die digitalen Medien neue Recherche- und Darstellungsmöglichkeiten, von denen die Bearbeiter der großen Lexika nur träumen konnten. Georg Toepfer hat der Begriffsgeschichte allein wegen dieser neuen medientechnischen Möglichkeiten eine große Zukunft attestiert.[6] Zugleich enthalten immer mehr Artikel der Online-Enzyklopädie Wikipedia begriffsgeschichtliche Abschnitte, die von Etymologien bis zu elaborierten Narrationen reichen. Dieser Befund ist wohl ein Zeichen dafür, dass auch außerhalb der Wissenschaften die historische Genese der Begriffe zu deren Selbstverständnis gerechnet wird.

Hans Ulrich Gumbrecht scheint daher eher allein zu stehen, wenn er in seiner verdichteten, im polemischen Verabschiedungsgestus gehaltenen Einleitung zu Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte ein »plötzliches Abebben« des Enthusiasmus für Begriffsgeschichte konstatiert und die großen Wörterbücher als »Pyramiden des Geistes« oder »monumentale Zeugnisse aus einer abgeschlossenen Epoche der Geisteswissenschaften« charakterisiert.[7]

Das anhaltende Interesse an Begriffsgeschichte und historischer Semantik hat sicher unterschiedliche Gründe. Zunächst hat die sich in Lexika und Monographien niederschlagende empirische und detaillierte Arbeit über die einander ablösenden Theoriemoden der Geistes- und Sozialwissenschaften hinweg Bestand. Begriffsgeschichten erscheinen als Alternative zu den ›großen Erzählungen‹. Vor allem aber gibt es eine große Schnittmenge zwischen den jüngeren Kulturwissenschaften und der Begriffsgeschichte. Beide haben es mit Bedeutung und Bedeutsamkeit sowie ihrer Genese zu tun. In beiden wird ›Kultur‹ selbst als ein dynamisches Moment 13in der Realisierung und Veränderung sozialer, ökonomischer und politischer Beziehungen gefasst, ohne diese Handlungsdimension vorschnell auf davon präzise unterscheidbare Interessenlagen zurückzuführen. Wenn ›Kultur‹ nicht als separater Sektor der Gesellschaft neben anderen gesehen wird, sondern als umfassende Praxis der Artikulation und Aktualisierung von Bedeutungen, dann fallen Begriffsgeschichte und historische Semantik nahezu mit den Kulturwissenschaften zusammen. In diese Richtung weist Ralf Konersmann, der unter Historischer Semantik die »Untersuchung kulturell manifester Bedeutsamkeiten im Horizont der Geschichte« versteht.[8]

Zugleich aber thematisieren die Kulturwissenschaften Gegenstände, die in der etablierten Begriffsgeschichte und historischen Semantik bislang weniger zur Debatte standen – vor- und nichtbegriffliche Diskurse, ikonische Semantiken, das Unbewusste, Institutionen, Praktiken, Gefühle, Gesten, Diagramme, Materialitäten. Wenn Begriffsgeschichte und historische Semantik Bedeutungen und ihre Veränderungen im Medium der Sprache untersuchen, dann bieten sie aufgrund ihrer Selbstreflexivität und Selbstexplikation ein hervorragendes, vor allem auch kontrollierbares Mittel der Bedeutungserfassung. Die Sprache ist aber zugleich ein allgemeines Medium, in das andere Bedeutungsformen übersetzt und mit dem diachrone Prozesse dargestellt werden können. Andere mediale Versuche einer Bedeutungsgeschichte, wie Aby Warburgs Bilderatlas, bleiben kommentarbedürftig. Bedeutungen und ihre Bezeichnungen können aber prinzipiell auch nichtsprachlich sein, nicht zuletzt deswegen sind historische Semantik und Begriffsgeschichte methodisch offene Projekte. Ihre universelle Anschlussfähigkeit an andere kulturelle Formen macht sicher einen Teil ihrer Attraktivität in den Kulturwissenschaften aus. Die Kulturwissenschaften haben insbesondere mit ihrem wachen Sinn für zeichentheoretische Komplexitäten und für die historisierende Auflösung jeglicher Substanzialitäten einen kritischeren Blick auf die bislang praktizierte Begriffsgeschichte sowie dafür eröffnet, dass es Wort- und Begriffs14geschichten nicht einfach gibt, sondern dass sie als Interpretationen und (Re-)Konstruktionen narrativen Mustern unterworfen sind.[9]

Doch die Anerkennung, die die Begriffsgeschichte derzeit genießt, ist zugleich auch erstaunlich, weil viele mit ihr verbundene Probleme ungeklärt sind. An diesem wiederkehrenden Urteil historisch prominent mit ihr Beschäftigter (Rudolf Eucken, Erich Rothacker, Joachim Ritter, Reinhart Koselleck, Quentin Skinner u. a.) haben die methodischen Untersuchungen in den letzten Jahren im Kern nur wenig ändern können. Die umstrittenen Fragen beginnen damit, was eigentlich Gegenstand der Begriffsgeschichte sei – Begriff, Bedeutung, Wort, Terminus – und wie dieser sich zu Metapher und Diskurs verhält. Die an einzelnen Begriffen orientierten Untersuchungen schienen nach der sprachwissenschaftlichen Kritik von Dietrich Busse u. a. methodisch geradezu erledigt.[10] Offen ist, welchen Status die Begriffsgeschichte innerhalb der Wissenschaften hat und worin ihr Aufschlusswert eigentlich liegt. Ist Begriffsgeschichte mehr als eine Hilfswissenschaft, die als Instrument auf ihren jeweiligen Erkenntniszweck zugeschnitten werden muss? Wenn die Begriffsgeschichte eine Hilfswissenschaft ist, dann paradoxerweise eine solche, die der Klärung einer Vielzahl grundlagentheoretischer (historiographischer, sprachtheoretischer etc.) Fragen bedarf. Für Hans-Georg Gadamer sollte die Begriffsgeschichte keine bloße Ergänzungsarbeit der philosophischen Forschung sein, »sondern in den Vollzug der Philosophie hineingehören«.[11]

Ungeklärt ist schließlich das Verhältnis von begriffsgeschichtlicher Theorie und Praxis. Auf der einen Seite gibt es den Theorietypus, der gänzlich ohne Beispiele vorgeht und eine vom histori15schen Material unabhängige Komplexität entwirft, die tatsächlich durch keine begriffsgeschichtliche Praxis einzuholen ist. Obwohl die Methodendiskussionen im Umfeld der Geschichtlichen Grundbegriffe (GG) mitunter anregender waren als verschiedene begriffsgeschichtliche Artikel des Lexikons selbst, hat auch der späte Koselleck ernüchtert von den »Flugsanddünen reiner Methodendebatten« und der »theoretischen Zwangsjacke« seiner eigenen Ansätze gesprochen.[12] Auf der anderen Seite prozediert die begriffsgeschichtliche Forschung oftmals als eine Praxis, deren theoretische Voraussetzung nicht oder kaum thematisiert wird. Rolf Reichardt spricht von einem »verbreiteten beliebigen und wenig stringenten Eklektizismus«.[13] Die Mehrzahl der Begriffshistoriker erachtet eine Methodendiskussion nur im Kontext historischer Praxis für sinnvoll. Konersmann hält den »schwachen Theoriebestand der Historischen Semantik einstweilen nicht für korrekturbedürftig […], denn diese Schwäche [ist] offensichtlich ihre Stärke«.[14] Petra Gehring beschreibt die Begriffsgeschichte als vorsichtige und positivistische Praxis ohne theoretischen Hintergrund und konstatiert, dass sich philosophische Begriffsgeschichte ihre Methodologie nicht etwa auf der Basis einer Theorie des Begriffs erarbeitet habe, sondern »eher tastend, im Wege einer Praxis zu sich selbst«.[15] Das zunächst plausible Plädoyer für methodische Pluralität reicht aber zuweilen bis zum Verzicht auf die Reflexion der Methoden.

Das in der Tradition der romantischen Hermeneutik stehende ideographische und zuweilen divinatorische Selbstverständnis der Begriffsgeschichte hat sicher die Gräben sowohl gegenüber den 16Nichtgeisteswissenschaften wie auch gegenüber den (eher quantifizierend verfahrenden) Sprachwissenschaften vertieft. Tatsächlich hat sich statt einer Theorie der Begriffsgeschichte ein Genre durchgesetzt, das theoretische Überlegungen überhaupt nur exemplarisch vorträgt. Doch gibt es ein Reservoir an Problemen, das es, wie bei anderen Methodendiskussionen auch, abseits der engen Materialbindung zu diskutieren lohnt. Es geht dabei nicht darum, Begriffsgeschichte auf eine Methode zu verpflichten,...

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