Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug - Ein Pflichttanz mit dem Tod

Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug - Ein Pflichttanz mit dem Tod

von: Kurt Vonnegut

Hoffmann und Campe, 2016

ISBN: 9783455814057

Sprache: Deutsch

340 Seiten, Download: 932 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug - Ein Pflichttanz mit dem Tod



Zwei


Hört mal her:

Billy Pilgrim hat sich aus dem Lauf der Zeit gelöst.

Billy hat sich als seniler Witwer schlafen gelegt und ist an seinem Hochzeitstag aufgewacht. Er ist 1955 durch eine Tür getreten und 1941 aus einer anderen herausgekommen. Er ist durch diese Tür zurückgegangen, um sich im Jahr 1963 wiederzufinden. Er hat viele Male seine eigene Geburt und seinen Tod gesehen, sagt er, er weiß nie, welche Ereignisse, die dazwischen liegen, er als Nächstes aufsuchen wird.

Behauptet er zumindest.

Billy ist ein Zeitspastiker, er hat keinen Einfluss darauf, wohin es ihn als Nächstes verschlägt, und die Reisen machen nicht unbedingt Spaß. Er hat ständig Lampenfieber, sagt er, denn er weiß nie, welchen Abschnitt seines Lebens er als Nächstes spielen muss.

 

Billy wurde 1922 in Ilium, im Staat New York, als einziges Kind eines dort ansässigen Friseurs geboren. Er sah als Kind seltsam aus, und er wuchs zu einem seltsam aussehenden Jugendlichen heran – er war groß und schlaksig, er hatte die Gestalt einer Colaflasche. Er gehörte zu den besseren Schülern. Nach dem Schulabschluss besuchte er ein Semester lang Abendkurse am Institut für Augenoptik in Ilium. Dann wurde er zum Militärdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen. Sein Vater starb während des Krieges bei einem Jagdunfall. Wie das so ist.

Billy diente bei der Infanterie in Europa und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. 1945 wurde er ehrenhaft entlassen und nahm sein Studium am Institut für Augenoptik wieder auf. In seinem letzten Jahr dort verlobte er sich mit der Tochter des Gründers und Eigentümers des Instituts und erlitt einen leichten Nervenzusammenbruch.

 

In einer Klinik für Kriegsveteranen in der Nähe von Lake Placid wurde er behandelt, er bekam Elektroschocks und wurde entlassen. Er heiratete seine Verlobte und schloss das Studium ab. Sein Schwiegervater half ihm, ein Brillengeschäft in Ilium zu eröffnen. Ilium ist ein ausgesprochen guter Ort für Augenoptiker, dort befindet sich nämlich die General Forge and Foundry Company, eine Stahlschmiede. Jeder Angestellte ist verpflichtet, eine Schutzbrille zu besitzen und diese in den Werkhallen zu tragen. Die Firma beschäftigt in Ilium achtundsechzigtausend Menschen. Die Arbeiter benötigen eine Menge Brillengläser und eine Menge Gestelle.

Geld verdient man nur mit den Gestellen.

 

Billy wurde reich. Er hatte zwei Kinder, Barbara und Robert. Barbara heiratete schließlich einen anderen Augenoptiker, dem Billy half, ein Geschäft zu eröffnen. Billys Sohn Robert hatte große Schwierigkeiten in der Schule und wurde Soldat. Er ging zu den Green Berets, einer berühmten Eliteeinheit, bekam sein Leben in den Griff, wurde ein anständiger junger Mann und kämpfte in Vietnam.

Anfang 1968 charterte eine Gruppe von Augenoptikern, unter ihnen Billy, ein Flugzeug, das sie von Ilium zu einer internationalen Optikertagung in Montreal bringen sollte. Das Flugzeug stürzte auf dem Sugarbush Mountain in Vermont ab. Alle waren tot, außer Billy. Wie das so ist.

Während sich Billy in einem Krankenhaus in Vermont erholte, starb seine Frau an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Es war ein Unfall. Wie das so ist.

 

Als Billy nach dem Flugzeugunglück schließlich nach Ilium heimkehrte, zog er sich eine Zeitlang zurück. Auf seiner Schädeldecke hatte er eine schreckliche Narbe. Er ging nicht mehr zur Arbeit. Er stellte eine Haushälterin ein. Seine Tochter kam beinahe täglich vorbei.

Und dann reiste Billy völlig unerwartet nach New York. Es gelang ihm, in eine Talksendung im Nachtradio zu kommen. Er erzählte, dass er sich aus der Zeit gelöst habe, und er behauptete, dass er 1967 von einer fliegenden Untertasse verschleppt worden sei. Diese Untertasse sei von dem Planeten Tralfamador gekommen, sagte er. Man habe ihn nach Tralfamador gebracht, wo er nackt in einem Zoo ausgestellt worden sei, sagte er. Dort sei er mit einem ehemaligen Filmstar von der Erde, Montana Wildhack, gepaart worden.

 

Einige Nachteulen in Ilium hörten Billy im Radio, und einer rief Billys Tochter Barbara an. Barbara war bestürzt. Sie und ihr Mann fuhren nach New York und brachten Billy nach Hause. Billy behauptete ruhig, aber bestimmt, dass alles, was er im Radio gesagt habe, wahr sei. Er sagte, er sei an dem Abend von den Tralfamadoriern verschleppt worden, als seine Tochter geheiratet habe. Er sei nicht vermisst worden, erklärte er, weil ihn die Tralfamadorier durch eine Zeitkrümmung mitgenommen hätten. So sei es möglich gewesen, dass er zwar viele Jahre auf Tralfamador verbracht hätte, von der Erde aber nur eine Mikrosekunde lang fort gewesen sei.

Ein weiterer Monat verging ohne Zwischenfall, dann schrieb Billy einen Brief an den News Leader in Ilium, den die Zeitung abdruckte. Darin beschrieb er die Lebewesen auf Tralfamador.

Sie seien gut sechzig Zentimeter groß und grün, hieß es in dem Brief, und ihre Form gleiche einem Pömpel. Sie stünden auf Saugnäpfen, und ihre Stiele, die äußerst biegsam seien, zeigten meistens in den Himmel. Am oberen Ende jedes Stiels befinde sich eine kleine Hand, in der Handfläche sei ein grünes Auge. Die Wesen seien freundlich, und sie seien in der Lage, vier Dimensionen wahrzunehmen. Sie bedauerten die Erdlinge, die nur drei Dimensionen sähen, und könnten ihnen eine Menge wunderbarer Dinge beibringen, insbesondere über die Zeit. Billy versprach, in seinem nächsten Brief einige dieser wunderbaren Dinge zu erwähnen.

 

Billy schrieb an seinem zweiten Brief, als der erste gedruckt wurde. Der zweite Brief begann so:

»Das Wichtigste, was ich auf Tralfamador gelernt habe, ist, dass eine Person, die stirbt, nur zu sterben scheint. Sie ist in der Vergangenheit noch immer sehr lebendig, weshalb es äußerst albern ist, wenn die Menschen bei ihrer Beerdigung weinen. Alle Zeiten, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, haben immer existiert und werden immer existieren. Die Tralfamadorier sind fähig, all diese unterschiedlichen Zeiten zu betrachten, gerade so, wie wir zum Beispiel einen Abschnitt der Rocky Mountains betrachten können. Sie können sehen, wie dauerhaft all die Augenblicke sind, aus denen die Zeit besteht, und sie können jeden Augenblick besichtigen, für den sie sich gerade interessieren. Dass ein Augenblick an den nächsten gereiht ist wie Perlen auf einer Schnur, dass ein einmal vergangener Augenblick für immer verloren sein soll, ist nur eine Illusion, die wir hier auf der Erde haben.

Wenn ein Tralfamadorier eine Leiche sieht, denkt er einfach nur, dass der Tote gerade in diesem Augenblick in einem schlechten Zustand ist, dass dieselbe Person aber in vielen anderen Augenblicken in bester Verfassung ist. Wenn ich nun also höre, dass jemand tot ist, zucke ich nur die Schultern und sage, was die Tralfamadorier über die Verstorbenen sagen, nämlich: Wie das so ist.«

 

Und so weiter.

Billy schrieb diesen Brief im Hobbykeller seines verlassenen Hauses. Seine Haushälterin hatte ihren freien Tag. In dem Zimmer stand eine alte Schreibmaschine. Sie war ein richtiges Ungetüm. Sie war so schwer wie eine Autobatterie. Billy konnte sie kaum tragen, weshalb er seinen Brief im Hobbykeller tippte und nicht anderswo.

Die Ölheizung war ausgefallen. Eine Maus hatte die Isolierung eines Kabels angenagt, das zum Thermostat führte. Die Temperatur im Haus war auf zehn Grad gefallen, was Billy aber nicht gemerkt hatte. Er war auch nicht warm angezogen. Er war barfuß und trug noch seinen Schlafanzug und einen Bademantel, obwohl es schon später Nachmittag war. Seine nackten Füße waren blau und blass.

Billys Herzfalten aber glühten wie Kohlen. Was sie so sehr erhitzte, war Billys Überzeugung, dass er mit der Wahrheit über die Zeit sehr vielen Menschen Trost bringen würde. Oben an der Haustür hatte es sehr lange geklingelt, es war seine Tochter Barbara, die herein wollte. Sie öffnete schließlich mit dem eigenen Schlüssel und durchquerte das Zimmer über seinem Kopf, wobei sie rief: »Vater? Papa, wo bist du?« Und so weiter.

Billy antwortete ihr nicht, und sie wurde beinahe hysterisch, weil sie damit rechnete, seine Leiche zu finden, bis sie schließlich einen Blick in den letzten Raum des Hauses warf, in dem sie überhaupt noch nachsehen konnte – eben in den Hobbykeller.

 

»Warum hast du nicht geantwortet, als ich gerufen habe?«, fragte Barbara. Sie stand in der Tür des Kellerraums. Sie hatte die Zeitung in der Hand, die Ausgabe, in der Billy seine Freunde von Tralfamador beschrieb.

»Ich habe dich nicht gehört«, antwortete Billy.

Der Augenblick war folgendermaßen zusammengesetzt: Barbara war erst einundzwanzig Jahre alt und hielt ihren Vater für senil, obwohl er erst sechsundvierzig war – senil wegen des Hirnschadens, den er bei dem Flugzeugabsturz erlitten hatte. Außerdem hielt sie sich für das Familienoberhaupt, denn sie hatte sich um die Beerdigung ihrer Mutter kümmern und eine Haushälterin für Billy einstellen müssen und solche Sachen. Und außerdem mussten sich Barbara und ihr Mann um die geschäftlichen Belange von Billy kümmern, die beträchtlich waren. Billy schien das Geschäft völlig egal zu sein. So viel Verantwortung in derart zartem Alter machte sie zu einer nervtötenden Zicke. Und Billy versuchte derweil, seine Würde zu wahren und Barbara und all die anderen zu überzeugen, dass er keineswegs senil war, sondern einer Berufung folgte, die viel bedeutsamer war als ein einfaches Geschäft.

Er tat...

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